„…if feeding were controlled solely by homeostatic mechanisms, most of us would be at our ideal body weight, and people would consider feeding like breathing …, a necessary but unexciting part of existence…“ Saper et al. [46]

Die lange Zeit präferierte und noch immer fest verankerte Vorstellung, dass Körpergewicht ausschließlich durch die endogene Bilanzierung der Ein- und Ausfuhr von Kalorien sowie eine metabolisch (Bedarfs-)gesteuerte Rückkopplung des Appetits reguliert wird, wird durch aktuelle Befunde zur Bedeutung motivationaler Prozesse in Frage gestellt.

Nahrungsaufnahme ist nicht allein durch ein intrinsisches, der Energiehomöostase dienendes Hungergefühl induzierbar, sondern auch vermittelt durch neuronale Prozesse, die durch die belohnenden, respektive positiv verstärkenden Eigenschaften von Nahrungsmitteln beeinflusst werden. Dieses exostatische System moduliert die Motivation zur Nahrungsaufnahme in Abhängigkeit von hedonischen Nahrungsmitteleigenschaften basierend auf früheren Erfahrungen und Erwartungen an das Nahrungsmittel und an den Kontext, in dem es präsentiert wird.

Adaptive Veränderungen des motivationalen Systems, insbesondere Sensitivierungs- und Konditionierungsmechanismen, sind ein zentrales Element in der Pathophysiologie von Suchterkrankungen. Die Folgen hiervon sind die zunehmende kognitive Fokussierung abhängiger Menschen auf belohnungsankündigende Reize einerseits und die Vernachlässigung alternativer, oft auch vitaler Handlungsmotive andererseits bis hin zur Inkaufnahme massiver somatischer und sozialer Folgen [22].

Vergleicht man die Reaktionen adipöser Menschen auf nahrungsassoziierte Hinweisreize (Anblick und Geruch hochkalorischer Nahrung, emotionale Spannungszustände) mit denen von Suchtpatienten bei Konfrontation mit dem präferierten Suchtmittel, so werden phänomenologische Gemeinsamkeiten erkennbar, die aktuell durch Erkenntnisse zur Neurobiologie, insbesondere aus den Bereichen der Neuroendokrinologie und der Bildgebung, ergänzt werden.

Zur Erklärung der Ätiopathogenese der Adipositas könnten also zukünftig Modelle hilfreich sein, die aus der Forschung zur Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen generiert wurden. Dabei sollte ein integrativer Ansatz gewählt werden, der auch die Modelle zur homöostatischen (Fehl-)Regulation einbezieht, die eine Aufrechterhaltung einer positiven Energiebilanz z. B. über eine Glukosefehlallokation und Verschiebungen des Set-Points erklären (Selfish-brain-Theorie, [40]). Der folgende Diskussionsbeitrag soll in einem ersten Schritt auf die aktuellen Befunde eingehen, die „suchtähnliche“ Aspekte bei Adipositas auf den Ebenen der Phänomenologie und Neurobiologie, insbesondere in den Bereichen Neuroendokrinologie und Bildgebung darstellen, um einem Beitrag zu einer integrativen Betrachtung dieser Störung zu ermöglichen.

Entwicklungsgeschichtliche und phänomenologische Aspekte

Das endogene und das exostatische System konnten sich während der Evolution in einer Umwelt entwickeln, die durch ein unsicheres Nahrungsmittelangebot und die Notwendigkeit von nahrungsmittelaufsuchendem Verhalten charakterisiert war, um die Aufnahme und Erhaltung angemessener Mengen gespeicherter Energie sicherzustellen. Während in der Entwicklungsgeschichte homöostatische und exostatische Systeme eher eine komplementäre Rolle spielten, kommt heutzutage in einer Situation erhöhten Nahrungsmittelangebotes den exostatischen Faktoren eine Hauptrolle für die Steuerung des Essverhaltens und die Entwicklung von Übergewichtigkeit zu [4].

Ähnlichkeiten im Konsumverhalten adipöser und abhängiger Patienten sind seit langem bekannt und im allgemeinen Sprachgebrauch verantwortlich für Begrifflichkeiten wie „Fresssucht“. Adipositas und Abhängigkeitserkrankung zeigen einen ähnlichen Verlauf: Die Störungen verlaufen oft chronisch und zeigen sowohl Episoden exzessiven Konsums als auch Restriktions- oder Abstinenzphasen, die zumeist mit einem Rückfall in alte Verhaltensmuster enden [62]. Adipöse wie Abhängige führen ihr Verhalten trotz des Wissens um negative gesundheitliche Konsequenzen fort und zeigen oft ein impulshaftes Konsumverhalten, das mit Kontrollverlust einhergeht [7]. Nahrungsmittel, insbesondere kohlenhydrat- und fettreiche [33], scheinen ebenso wie Suchtstoffe als Verhaltensverstärker einsetzbar; Verhalten, das z. B. durch Kohlenhydrate oder Drogen „belohnt“ wird, wird zukünftig überzufällig häufiger ausgeführt [12].

Allerdings erscheint das Ausmaß des Belohnungseffekts von Nahrung im Gegensatz zu dem von Suchtmitteln abhängig vom Hungerzustand, der wiederum durch homöostatische Mechanismen beeinflusst wird. Während beim süchtigen Patienten die Substanzeinnahme in der Regel nur durch aversive, zumeist körperliche, psychische oder soziale Konsequenzen begrenzt wird, tritt bei der Nahrungsaufnahme die Sättigung als limitierender Faktor auf.

Für die Nahrungsaufnahme erscheinen also zwei parallel verlaufende Funktionen beachtenswert: zum einen innerhalb der Energiehomöostase, zum anderen als Verhaltensverstärker. Drogen hingegen haben einen von der Energiehomöostase abgekoppelten, eher dosisabhängigen Verstärkereffekt.

Neurobiologische Aspekte

Die Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen beruht auf prozessualen Vorgängen, die dem physiologischen Lernen ähnlich sind und zu deren dauerhafter Persistenz beitragen [19, 60]. Entscheidend für die Pathogenese der Suchterkrankungen ist dabei das belohungsassoziierte Lernen. Hierbei werden durch aktivierende Effekte von Substanzen auf das dopaminerge mesolimbische Verstärkersystem („Belohnungssystem“) Lernprozesse angeregt, die eine zukünftige Hinwendung auf vermeintlich belohnungsankündigende Reize in Gang setzen. Bereits vor über 10 Jahren erfolgte der Nachweis, dass Nahrungsmittel ebenso wie Suchtstoffe das mesolimbische Belohnungssystem aktivieren und eine kurzfristige Erhöhung der Dopaminkonzentration im Nucleus accumbens (NAC) bewirken [3].

Appetitregulierende Peptide verbinden die hypothalamische und mesolimbische Regulation

Zu den möglichen Verbindungsgliedern des Appetit- und Energiehomöostase regulierenden Systems, dessen zentrale Steuerung im lateralen Hypothalamus (LH) und dem mesolimbischen Belohungssystem erfolgt, zählen die appetitregulierenden Peptide, insbesondere Leptin, Ghrelin und Orexin. Neuere Studien zeigen, dass diese Hormone über Rezeptoren am ventralen Tegmentum des Mittelhirns (VTA) die Aktivität dopaminerger Neurone modulieren, die in den NAC als Teil des ventralen Striatums und in den präfrontalen Kortex (PFC) projizieren. Diese neuronalen Bahnungen sind die Bestandteile des mesolimbischen Belohnungssystems (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Appetitregulierende Peptide Leptin, Ghrelin und Orexin verknüpfen energiehomöostaseregulierende Systeme (LH lateraler Hypothalamus) mit dem dopaminergen mesolimbischen System, dessen dopaminerge Neurone vom ventralen Tegmentum (VTA) zum Nucleus accumbens (NAC) projizieren. Aktuelle Befunde weisen darauf hin, dass eine Hemmung der dopaminergen Aktivität (hohes Leptin, niedriges Ghrelin und Orexin) mit einer Zunahme von Suchtdruck (Craving) für Suchtstoffe einhergeht

Leptin wird in den weißen Fettzellen gebildet; hohe Konzentrationen vermitteln im Sinne einer negativen Rückkopplung vor allem über den Hypothalamus eine Appetitminderung [10]. Aktuelle Daten belegen nun direkte Effekte von Leptin auf die Transmissionsrate innerhalb dopaminerger Synapsen im NAC. Leptinrezeptoren sind auf dopaminergen Neuronen der VTA exprimiert [13]; die intrakraniale Leptininfusion reduziert extrazelluläres Dopamin im NAC um ca. 35% [30]. In präklinischen Versuchen führte die Verabreichung von Leptin zu einer erhöhten intrakranialen Selbststimulation [14] und zu Alkoholselbstapplikation [24]. Klinische Daten demonstrieren, dass der Plasmaspiegel von Leptin positiv mit dem Alkoholkonsum bzw. Craving von alkoholabhängigen Patienten korreliert [17, 23, 26, 65]. Es wurde vermutet, dass die leptinvermittelte Reduktion der basalen dopaminergen Aktivität im mesolimbischen System den belohnungsassoziierten Effekt einer pharmakologischen Stimulation durch Suchtstoffe zumindest relativ erhöht [27].

Ghrelin wird als Peptidhormon vorzugsweise im Magenfundus und in Pankreaszellen produziert [20]; eine Synthese wurde auch im Hypothalamus nachgewiesen [37]. Im Gegensatz zu Leptin stimuliert Ghrelin Appetit und Nahrungsaufnahme [54]. Ghrelinrezeptoren sind auf dopaminergen Neuronen innerhalb der VTA lokalisiert und stimulieren die Feuerrate der zum NAC projizierenden Neurone [1]. Die Ghrelinplasmaspiegel sind bei Alkoholabhängigen erhöht [29].

Ein drittes Peptid, das hypothalamische und mesolimbische Regulation verbindet, ist das Orexin (Hypokretin). Orexine sind Peptidhormone, deren Funktion ursprünglich vor allem mit der Regulation von Nahrungsaufnahme [45] und dem Schlaf-Wach-Rhythmus [6] assoziiert wurden. Orexinproduzierende Neurone sind im lateralen Hypothalamus lokalisiert und projizieren neben anderen Hirnregionen auch in die VTA. Sie werden sowohl direkt durch Hypoglykämie, also auch durch andere appetitassoziierte Neuropeptide wie Ghrelin aktiviert, und erhöhen das Verlangen nach Nahrungsaufnahme. Hyperglykämie und Leptin dagegen hemmen die Sektretion von Orexin [28] (Abb. 1). Ähnlich wie für Ghrelin konnten für Orexin Rezeptoren auf dopaminergen Neuronen lokalisiert werden. Die Injektion von Orexin in die VTA stimuliert die Dopaminfreisetzung im NAC [38], in anderen Hirnregionen zusätzlich eine vermehrte Nahrungsaufnahme [51]. Eine präklinische Studie an alkoholpräferierenden Ratten zeigte darüber hinaus, dass die Vorbehandlung mit einem Orexinrezeptorantagonisten die Wiederaufnahme des Alkoholkonsums nach Exposition von olfaktorischen Alkoholreizen verhinderte [32]. Kürzlich wurde die positive Korrelation von Orexinplasmaspiegeln und Nikotinsuchtdruck bei Rauchern nachgewiesen, bei gleichzeitiger inverser Korrelation mit Leptinplasmakonzentrationen [61]

Die Studien zu allen drei genannten Peptiden untermauern die Hypothese einer engen Abstimmung zwischen hömöostatischen und motivationalen Systemen. Hierbei könnte insbesondere in Phasen einer negativen Energiebilanz (Hunger) über das motivationale System eine präferenzielle Ausrichtung in Richtung kalorischer Verstärker und nahrungsmittelankündigender Reize vermittelt werden.

Befunde unter Einbeziehung bildgebender Methoden ermöglichten in den vergangenen Jahren die Untersuchung von Nahrungsmitteleffekten auf das dopaminerge mesolimbische System im Humanmodell. So konnten wiederholt Befunde repliziert werden, die bei Patienten mit einer Abhängigkeit eine verminderte Dopamin-D2-Rezeptor-Verfügbarkeit in der umgebenden Region des NAC (ventrales Striatum) nachweisen (Kokain: [57], Amphetaminen: [56], Alkohol: [16]). Vergleichbare Befunde konnten nun auch für die Adipositas erbracht werden: In einer Raclopride-PET-Studie zeigten adipöse Patienten eine geringere Dopamin-D2-Rezeptor-Verfügbarkeit als normalgewichtige Patienten [63]. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die striatale D2-Rezeptor-Verfügbarkeit eine negative Korrelation mit dem Body-Mass-Index (BMI) auswies:

Je ausgeprägter die Adipositas, umso geringer zeigte sich die Dopamin-D2-Verfügbarkeit [63].

Aktuelle Daten lassen zudem vermuten, dass eine verminderte Dopamin-D2-Verfügbarkeit bei Patienten mit Adipositas mit einer geringeren Aktivität in präfrontalen Regionen, dem medialen orbitofrontalen Kortex und dem anterioren Gyrus cinguli assoziiert ist [59]; also mit Regionen, die bei Heißhunger und der Regulierung von Nahrungsaufnahme beteiligt sind [53].

Korrespondierende Befunde einer Assoziation von reduzierter D2-Rezeptor-Verfügbarkeit und verminderter präfrontaler Aktivität konnten bei Patienten mit Metamphetamin- und Kokainabhängigkeit erbracht werden [56, 57]. Funktionell magnetresonanztomographische Untersuchungen (fMRT) liefern zudem Hinweise darauf, dass auch die dynamischen Aktivierungsmuster im mesolimbischen System nach Präsentation nahrungsmittelassoziierter Reize vergleichbar denen von Suchtmittelreizen sind. Beispielsweise aktiviert der Konsum von Schokolade das Striatum mit dem NAC als Empfänger dopaminerger Projektionen [47]; ähnlich, wie dies bei Präsentation suchtmittelassoziierter Reize gezeigt werden konnte [16]. Kürzlich konnten Rothermund und Kollegen in einer fMRT-Studie zeigen, dass auch bei adipösen Menschen durch visuelle Präsentation hochkalorischer Nahrungsreize eine striatale Aktivierung ausgelöst wurde [44]. Die Zwischenauswertung einer eigenen aktuell laufenden Untersuchung an adipösen Patienten mit einem BMI >30 und normalgewichtigen Kontrollen bestätigt diese vorläufigen Befunde. Darüber hinaus zeigt sich eine signifikante positive Assoziation von striataler Aktivierung und BMI (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Positive Korrelation zwischen BMI und reizinduzierter Hirnaktivierung auf Nahrungsmittelreize in Normalgewichtigen (n=5) und Adipösen (n=10) im linken ventralen Striatum, p<0,001 unkorrigiert. a SPM-t-Karte (zu Illustrationszwecken p<0,005 unkorrigiert, Clustergröße ≥10 Voxel); b Punktwolke BMI vs. reizinduzierte Hirnaktivierung im linken ventralen Striatum, r=0,777, p<0,001

Polymorphismen von Dopaminrezeptor- und Transportergenen zeigen ebenfalls einen Einfluss auf den Grad des Belohnungseffektes, den unterschiedliche Individuen bei Nahrungsaufnahme wahrnehmen. So konnte für einen Polymorphismus innerhalb der kodierenden Sequenz des D2-Rezeptors (Taq1-A1 -Allel), der mit einer Reduktion in der D2-Rezeptor-Dichte einhergeht, ein erhöhtes Risiko für Abhängigkeitserkrankungen und Adipositas nachgewiesen werden [5]. Befunde zur Verstärkerwirkung von Nahrungsaufnahme in Verbindung mit dem Taq1-A1-Allel bei Adipösen und Normalgewichtigen zeigen, dass die Verstärkerwirkung und Nahrungsaufnahme in adipösen Taq1-A1-Allel-Trägern signifikant erhöht war [12]. Aktuelle fMRT-Daten, die den Einfluss von nahrungsassoziierten Bildern auf die dopaminerge Aktivität im Striatum untersuchten, untermauern die Bedeutung dieses Befundes für Patienten mit Adipositas: Taq1-A1-Allel-Träger zeigten nach Präsentation nahrungsmittelassoziierter Stimuli eine ausgeprägtere mesolimbische Aktivierung [50]. Die Autoren schlussfolgern aus den Ergebnissen, dass eine übermäßige Nahrungsaufnahme eine Kompensation für eine verminderte striatale Funktionalität darstellt, und dass die daraus resultierende positive Energiebilanz zu Adipositas führe.

Konsequenzen für die Therapie

Jeder zweite Erwachsene, jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche in Deutschland ist übergewichtig (BMI >25); bis zu 20% der Bevölkerung gelten als adipös (BMI >30) [31, 43].

Mit der Adipositas ist ein Cluster von teilweise schwerwiegenden und kostenintensiven somatischen und psychiatrischen Begleiterkrankungen assoziiert, z. B. Herz-Kreislauf-Gefäß-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ II, orthopädische Langzeitfolgen, Krebs und depressive Störungen. Komplizierend kommt hinzu, dass mit zunehmender Dauer und Ausprägung der Adipositas die Behandlung immer schwieriger, komplexer und teurer wird [64]. Darüber hinaus sind die gesundheitlichen Folgeerscheinungen, selbst nach einem signifikanten Gewichtsverlust, nicht immer reversibel [42].

Da die Adipositas eine Erkrankung mit seit Jahrzehnten steigender Prävalenz ist, wurde intensiv nach wirkungsvollen Vorsorge- und Therapiemodellen gesucht, die auch die Modulation umgebungsabhängiger Risikofaktoren wie den sozioökonomischen Status und Medienkonsum einbeziehen [15]. Bisherige Präventions- und Therapieprogramme bei Erwachsenen [18, 35] und Kindern [9], die auf eine gesunde Lebensweise, Gewichtsabnahme und die Bekämpfung kardiovaskulärer Risikofaktoren zielen, haben allerdings hinsichtlich einer langfristigen Reduzierung des Körpergewichts nur eine minimale Wirkung gezeigt oder waren gänzlich unwirksam [52].

Die Tatsache, dass zwischen bestimmten Aspekten der Adipositas und Suchterkrankungen Gemeinsamkeiten auf phänomenologischer und neurobiologischer Ebene bestehen, eröffnet neue Therapiemöglichkeiten, die sich aus einer näheren Betrachtung der Adipositas aus einem suchtmedizinischen Blickwinkel ergeben. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Entwicklung einer evidenzbasierten Psychotherapie bei Suchterkrankungen erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Als wirksame psychotherapeutische Behandlungsverfahren gelten der Motivationssteigerungsansatz, das kognitiv-verhaltenstherapeutische Bewältigungstraining, das soziale Kompetenztraining, die Paar- und Familientherapie, das gemeindenahe Verstärkermodell und die Reizexposition [34].

Suchttherapeutische Interventionen zielen auf Veränderungen in der „Motivhierarchie“

Gemeinsam ist diesen Interventionen, dass die Behandlung darauf abzielt, die über das mesolimbische motivationale System vermittelte implizite kognitive Fokussierung auf vermeintlich belohnungsankündigende Reize zu reduzieren oder durch Aufwertung alternativer Verstärker relativ zu mindern [25]. Dabei zielt das Reizexpositionstraining auf eine Extinktion der Verknüpfung von konditioniertem Stimulus und konditionierter Reaktion, indem der Verstärker, die Suchtmitteleinnahme, vorenthalten wird. Motivationssteigerungsansatz und das gemeindenahe Verstärkermodell (Belohnung der Abstinenz z. B. durch Konsumgutscheine) stärken dagegen eher Handlungsmotive, die inkompatibel mit weiterem Suchtmittelkonsum sind, oder erzeugen Dissonanzen, die eine kritische Distanz zum Konsumverhalten ermöglichen. Das kognitiv-verhaltenstherapeutische Bewältigungstraining sowie das soziale Kompetenztraining wirken dabei als Unterstützung der Selbstwirksamkeitserwartung [2]. Suchttherapeutische Interventionen zentrieren also nicht primär auf explizites Verstehen der Handlungsmotive oder Informationen zum Suchtmittelgebrauch (im Gegensatz zu z. B. Maßnahmen der Ernährungsberatung), sondern vielmehr auf implizite Entscheidungsabläufe durch Veränderungen in der „Motivhierarchie“ oder auf die Stärkung der Kompetenz, diese umzusetzen. Auf Basis der dargestellten Befunde erscheint aus suchtmedizinischer Sicht ein Ausbau dieser Therapiebausteine Erfolg versprechend für die Behandlung der Adipositas.

Auch für den Bereich der Pharmakotherapie existieren bereits seit längerer Zeit Hinweise darauf, dass suchtmedizinische, rückfallprophylaktische Therapien auch bei Adipositas Wirksamkeit zeigen – und umgekehrt. Dies kann nicht nur als weiterer Beleg für die gemeinsamen und in beide Störungsbilder involvierten neurobiologischen Funktionssysteme gewertet werden, es eröffnet auch Perspektiven für eine raschere Übertragung und Prüfung der in der Suchtforschung erfolgreich untersuchten Pharmaka.

Beispielhafte Substanzen für eine Kreuzwirksamkeit bei beiden Störungsbildern sind z. B. Cannabinoidantagonisten (das inzwischen vom Markt genommene Rimonabant: [49, 55], bestimmte Antikonvulsiva [Topiramat: [21, 41]] und Opiatantagonisten [Naltrexon: [36, 39]]). Gemeinsam ist diesen Substanzen ein modulatorischer Effekt auf das dopaminerge mesolimbische System. Es erscheint sinnvoll, neue in der Suchtforschung erfolgreich getestete Pharmaka mit verwandter Pharmakodynamik, die ebenfalls modulatorische Effekte im mesolimbischen System zeigen und abstinenzerhaltende oder konsummengenreduzierend wirksam sind, wie z. B. Dopamin-D3-Antagonisten oder Corticotropin-releasing-Hormon (CRH-1)-Antagonisten [48], in der Adipositasbehandlung zu prüfen.

Fazit für die Praxis

Vorliegende Befunde zu phänomenologischen und neurobiologischen Gemeinsamkeiten von Adipositas und Suchterkrankungen unterstreichen die Sinnhaftigkeit einer näheren Betrachtung des adipositasassoziierten Essverhaltens aus einem suchtmedizinischen Blickwinkel. Im Spiegel einer seit Jahrzehnten ansteigenden Inzidenz der Adipositas und der damit verbundenen Begleiterkrankungen sowie einer Vervielfachung der entsprechenden Behandlungskosten sollten Erkenntnisse und evidenzbasierte Interventionen der Suchttherapie zumindest im Sinne einer Hypothesenüberprüfung auf dieses bisher vor allem internistisch betrachtete und behandelte Krankheitsbild Anwendung finden. Die Prüfung psychotherapeutischer und pharmakotherapeutischer Interventionen, die primär implizite motivationale Prozesse beeinflussen, kann hierfür ein erster Schritt sein. Die grundlegende Relevanz, die die überlappenden Befunde zu genetischer Vulnerabilität, neurobiologischen Regelkreisläufen und therapeutischen Wirkansätzen beider bisher als eigenständige Entitäten betrachteten Syndrome für das psychiatrische Fachgebiet haben können, spiegelt sich in der aktuell geführten Diskussion wider, die Adipositas als Erkrankung im Psychiatrischen Kapitel der 5. Revision des DSM zu berücksichtigen [8, 58]. Der vorliegende Beitrag soll auch in Deutschland die Diskussion zu diesem Thema anregen.