Im Verlauf der emotionalen Entwicklung erwerben Kinder eine Reihe von Fertigkeiten, durch die sie ihre Gefühle mimisch und sprachlich ausdrücken, die Gefühle anderer erkennen und verstehen sowie ihre eigenen Gefühle regulieren können [8, 25]. Beim Erwerb dieser emotionalen Kompetenz kann es zu Entwicklungsverzögerungen bzw. -beeinträchtigungen kommen [23], die frühzeitig diagnostiziert werden sollten, da sie häufig zu einem auffälligen Sozialverhalten [12, 13] und schulischen Problemen [2, 24] führen können oder bereits damit assoziiert sind.

Die emotionale Kompetenz von Kindern setzt sich aus folgenden Fertigkeiten zusammen:

  • Positive und negative Gefühle (z. B. Freude, Ärger, Traurigkeit, Angst) bei sich selbst wahrnehmen können

  • Eigene Gefühle mimisch und/oder sprachlich ausdrücken können

  • Gefühle situationsangemessen ausdrücken und dabei soziale Regeln für den Emotionsausdruck beachten können

  • Gefühle im mimischen Ausdruck anderer Personen erkennen können

  • Auf die Gefühle anderer Personen empathisch reagieren

  • Die Ursachen und Konsequenzen verschiedener Gefühle nachvollziehen und verstehen können

  • Gefühle mit Unterstützung der Bezugspersonen und/oder eigenständig regulieren können

Der enge Zusammenhang zwischen einer mangelnden emotionalen Kompetenz von Kindern und ihrem Sozialverhalten zeigt sich beispielsweise darin, dass sozial auffällige Kinder den mimischen Emotionsausdruck anderer Personen schlechter erkennen und interpretieren können [7] und ein schlechteres Emotionsverständnis aufweisen [3].

Mangelnde Kompetenzen im Umgang mit Emotionen sind ein Risikofaktor für Verhaltensauffälligkeiten

Die meisten Erhebungsinstrumente für den sozial-emotionalen Bereich fokussieren auf problematische soziale Verhaltensweisen (z. B. der Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder [10]) und nicht auf die Ausbildung von Fertigkeiten im Umgang mit Emotionen. Verzögerungen und mangelnde Kompetenzen in diesem Entwicklungsbereich sind jedoch ein bedeutsamer Risikofaktor für das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten [4]. In den letzten Jahren wurde zunehmend erkannt, dass eine Erfassung emotionaler Fertigkeiten erforderlich ist, um Kinder mit einer ungünstigen Entwicklungsprognose frühzeitig entsprechenden Interventionen zuweisen zu können [5].

Probleme der Erfassung emotionaler Fertigkeiten

Wie in anderen Bereichen der testgestützten Entwicklungsdiagnostik wird auch die Erhebung emotionaler Fertigkeiten durch schnell ablaufende Entwicklungsveränderungen und -fortschritte von der frühen Kindheit bis zum Schulalter erschwert [19, 21]. Das diagnostische Vorgehen sollte daher nach Möglichkeit verschiedene Methoden nutzen, unterschiedliche Quellen einbeziehen und die emotionale Kompetenz der Kinder in mehreren Situationen und sozialen Kontexten erfassen [5, 9, 16, 30]. Bei einer solchen multimodalen Diagnostik werden Selbst- und Fremdeinschätzungen (von Kindern und Eltern), Verhaltensbeobachtungen und klinische Urteile miteinander kombiniert, um zu einer angemessenen Entwicklungsbeurteilung zu kommen [11].

Je jünger die Kinder sind, desto schwieriger ist es, Defizite und Verzögerungen bei der Ausbildung emotionaler Fertigkeiten festzustellen, da die Bandbreite unauffälliger Entwicklungsverläufe im frühen Kindesalter groß ist [16].

Zur Erhebung emotionaler Fertigkeiten im Kindesalter werden (neben strukturierten Interviews und Verhaltensbeobachtungen) am häufigsten Fragebogenverfahren eingesetzt. Sowohl bei Selbst- als auch bei Fremdeinschätzungen emotionaler Fertigkeiten müssen jedoch typische Antworttendenzen berücksichtigt werden. So zeigen beispielsweise jüngere Kinder eine ausgeprägte Tendenz, bei Selbsteinschätzungen eigener emotionaler Zustände Extremwerte anzugeben [6]. Fremdeinschätzungen durch die Eltern sind bei Vorschulkindern die Methode der Wahl [18], da diese Verfahren effizient sind und eine kurze Bearbeitungsdauer haben. Für die Befragung der Eltern spricht, dass sie die meiste Zeit mit dem Kind verbringen und die größte Bandbreite von kindlichen Verhaltensweisen in verschiedenen Situationen beobachten [14, 27]. Allerdings überschätzen Eltern von sozial auffälligen Kindergartenkindern gerade die sozial-emotionalen Fertigkeiten ihrer Kinder deutlich [7].

Ablauf des diagnostischen Prozesses

Um Entwicklungsauffälligkeiten frühzeitig identifizieren zu können, hat die American Academy of Pediatrics 2001 ein Routinescreening von Vorschulkindern gefordert [1]. Als geeignetes Vorgehen wird ein so genanntes „multi-stage screening“ empfohlen, um eine zugleich kosteneffiziente und niedrigschwellige Erhebung sozial-emotionaler Kompetenz bei Kindern zu erreichen [5]. Die erste Stufe dieses diagnostischen Prozesses besteht darin, in pädiatrischen Praxen ein kurzes Screeninginstrument einzusetzen, um Kinder mit einem erhöhten Risiko für Entwicklungsverzögerungen bzw. -auffälligkeiten identifizieren zu können. Auf den weiteren Stufen werden diese Kinder dann umfassenderen diagnostischen Maßnahmen und ggf. therapeutischen Interventionen zugeführt (Abb. 1):

Screening :

Mit Entwicklungsscreenings können Kinder identifiziert werden, die ein Risiko für die Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten aufweisen (z. B. Kinder mit einer hohen negativen Emotionalität oder mangelnden Fähigkeiten zur Emotionsregulation). In diesen Fällen ist eine weitergehende Diagnostik indiziert. Die eingesetzten Screeningverfahren sollten verschiedenen Anforderungen (Tab. 1) genügen [29], v. a. eine gute Differenzierungsfähigkeit aufweisen [17].

Diagnostik :

Mit bereichsspezifischen Verfahren zur Erhebung sozial-emotionaler Fertigkeiten lässt sich differenziert erfassen, ob ein Kind altersentsprechende Fertigkeiten in den Bereichen des Emotionsausdrucks, des Emotionsverständnisses und der Emotionsregulation entwickelt hat. Zeigen sich hier gravierende Defizite, sollten die Kinder entsprechenden Fördermaßnahmen zugewiesen werden [14].

Interventionszuweisung und -evaluation :

Eine umfassende Diagnostik mit spezifischen Verfahren ermöglicht es, für entwicklungsauffällige Kinder geeignete Interventionen zur Förderung der emotionalen Kompetenz zu finden [26, 27] sowie durch Verlaufskontrollen zu prüfen, ob diese effektiv waren und die emotionalen Fertigkeiten verbessern konnten.

Abb. 1
figure 1

Diagnostischer Prozess zur Erfassung von Störungen in der emotionalen Entwicklung. (Aus [23])

Tab. 1 Anforderungen an Entwicklungsscreenings. (Nach [29])

Verfahren zur Erhebung emotionaler Fertigkeiten

Die bisher entwickelten Verfahren stammen überwiegend aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Dort stehen geeignete Screeninginstrumente zur Erhebung sozial-emotionaler Kompetenzen und Entwicklungsauffälligkeiten in der pädiatrischen Praxis zur Verfügung [5], beispielsweise das Brief Infant-Toddler Social and Emotional Assessment (BITSEA, Tab. 2) [4] oder die Ages and Stages Questionnaires: Social Emotional [28]. Mit dem BITSEA können sozial-emotionale Probleme und Fertigkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter (vom 12.–36. Lebensmonat) erhoben werden. Der Elternfragebogen umfasst 42 Items; die Bearbeitungszeit beträgt etwa 10 min. Erhoben werden sozial-emotionale Fertigkeiten (s. Beispielitems in Tab. 2), Regulationsstörungen sowie externalisierende und internalisierende Verhaltensweisen. Der BITSEA verfügt über eine hohe Sensitivität (80–100%) und Spezifität (80%).

Aufgrund der engen Verzahnung der emotionalen und sozialen Entwicklung werden bei den meisten Verfahren sozial-emotionale Kompetenzen erhoben.

Die vorliegenden Instrumente haben entsprechend ihrer altersspezifischen Ausrichtung unterschiedliche Schwerpunkte:

  • Bei Verfahren für das Säuglings- und Kleinkindalter überwiegen Items zum Emotionsausdruck (z. B. negative und positive Emotionalität).

  • Bei Verfahren für das Vorschul- und Schulalter liegt der Schwerpunkt auf der Emotionsregulation; dies entspricht den wachsenden Fähigkeiten der Kinder zur eigenständigen Bewältigung emotionaler Belastungen. In diesem Alter wird auch das komplexer werdende Emotionsverständnis häufiger erfasst.

Tab. 2 Erfassung emotionaler Fertigkeiten mit dem BITSEA, Beispielitems [4]

Erst in jüngster Zeit wurden deutschsprachige Screeninginstrumente zur Erfassung sozial-emotionaler Fertigkeiten konzipiert, die nun neben entsprechenden Entwicklungsskalen in allgemeinen Entwicklungstests für diese bereichsspezifische Diagnostik zur Verfügung stehen.

Allgemeine Entwicklungstests

In ihnen wird der emotionale Entwicklungsstand eines Kindes in der Regel als eine von mehreren Entwicklungsdimensionen erhoben, wobei aus Gründen der Testökonomie nicht die ganze Bandbreite emotionaler Fertigkeiten berücksichtigt werden kann.

Dennoch können Skalen zur emotionalen Entwicklung in allgemeinen Entwicklungstests erste wichtige Hinweise auf Defizite im Bereich der emotionalen Kompetenz liefern.

So gibt beispielsweise der Entwicklungstest von 6 Monaten–6 Jahren (ET6-6) [22], in welchem die emotionale Entwicklung des Kindes als eine zentrale Entwicklungsdimension in 9 verschiedenen Altersbereichen (6 Monate–6 Jahre) mit jeweils altersspezifischen Items durch eine Verhaltensbeobachtung bzw. einen Elternfragebogen erfasst wird, in den jeweils relevanten Altersbereichen Auskünfte über das Erleben primärer Emotionen, das Bindungsverhalten, die Entwicklung des Selbst sowie über kognitiv-emotionale Fertigkeiten (s. Beispiel items in Tab. 3).

Tab. 3 Erfassung emotionaler Fertigkeiten mit dem ET6-6, Beispielitems [22]

Mit dem Wiener Entwicklungstest (WET) [15], der bei 3- bis 6-jährigen Kindern eingesetzt werden kann, lässt sich die Fähigkeit zum Erkennen von Emotionen im mimischen Ausdruck erfassen (Tab. 4). Die sozial-emotionale Entwicklung wird dabei durch einen Elternfragebogen zur Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes sowie den Subtest Fotoalbum erhoben, bei dem emotionale Fertigkeiten des Kindes überprüft werden.

Tab. 4 Erfassung emotionaler Fertigkeiten mit dem WET [15]

Screeningverfahren

Ein neu entwickeltes deutschsprachiges Verfahren zur Erfassung sozial-emotionaler Kompetenz, das eigens für die Anforderungen und das Setting in der pädiatrischen Praxis konzipiert wurde, sind die Elternfragebögen zur ergänzenden Entwicklungsbeurteilung bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen U6–U9 [20] (EEE U6–U9). Dieses Instrument soll es ermöglichen, über den klinischen Eindruck des Pädiaters in der Untersuchungssituation hinausgehend auch Alltagsbeobachtungen der Bezugspersonen einzubeziehen, um so den Entwicklungsstand des Kindes angemessener einschätzen zu können (Tab. 5).

Die EEE U6–U9 sind ein neues, deutschsprachiges Screeningverfahren zur Erfassung sozial-emotionaler Kompetenz in der pädiatrischen Praxis

Zur Erfassung der sozial-emotionalen Entwicklung und lebenspraktischer Fertigkeiten stehen dabei 5 zeitökonomisch einsetzbare, altersspezifisch ausgerichtete Elternfragebögen, die sich an den Intervallen für die Vorsorgeuntersuchungen U6–U9 orientieren, zur Verfügung. Im Sinne eines Screenings können Entwicklungsauffälligkeiten entdeckt und ggf. eine weiterführende Diagnostik empfohlen werden. In Tab. 5 sind Beispielitems aus dem sozial-emotionalen Bereich für verschiedene Altersbereiche angeführt.

Tab. 5 Screening emotionaler Fertigkeiten mit dem EEE U6–U9, Beispielitems [20]

In einem anderen Setting – in Kindertageseinrichtungen – kann mit dem Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten (DESK 3–6) [29] neben weiteren Entwicklungsbereichen auch die sozial-emotionale Entwicklung 3- bis 6-jähriger Kinder beurteilt werden. Dieses Instrument basiert auf Beobachtungsbögen, auf denen das Verhalten der Kinder in Alltagssituationen und in sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen von den Erzieherinnen eingeschätzt wird.

Fazit für die Praxis

Entwicklungsdiagnostiker plädieren für ein routinemäßiges Screening sozial-emotionaler Fertigkeiten im Rahmen der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen, da Eltern emotionale Auffälligkeiten bei Kleinkindern offenbar häufig in ihrer Bedeutung unterschätzen und daher von sich aus keine Beratung in Anspruch nehmen [4, 7]. Dies führt dazu, dass Auffälligkeiten im sozial-emotionalen Verhalten in vielen Fällen nicht erkannt oder zu spät diagnostiziert werden [29]. Ein geeignetes Screening ermöglicht es, Risikofaktoren bzw. Entwicklungsverzögerungen bereits im Vorschulalter zu erkennen, Interventionen frühzeitig einzuleiten und auf diese Weise eine primäre Prävention von Verhaltensauffälligkeiten und emotionalen Störungen zu betreiben. Für den deutschsprachigen Raum liegen erste psychometrisch geprüfte und ökonomisch einsetzbare Instrumente vor, mit denen fundierte Entwicklungsbeurteilungen im Rahmen eines Screenings vorgenommen werden können.

Es besteht jedoch ein hoher Bedarf, weitere diagnostische Instrumente zu entwickeln, mit denen die Vielzahl von Fertigkeiten in den Bereichen des Emotionsausdrucks, des Emotionsverständnisses und der Emotionsregulation differenziert und umfassend erhoben werden kann.