Hintergrund

Auch nach einer Tonsillektomie findet man gelegentlich „Resttonsillen“. Die fehlende anatomische Grenze zwischen unterem Pol der Gaumenmandel und der Zungengrundtonsille kann eventuell zum unbeabsichtigten Belassen von Tonsillengewebe führen. Bonding bezifferte 1973 die Rate mit 2,97 % [1], Nielsen 1981 [3, 4] sogar mit 5,4 % bei den nachuntersuchten Patienten. Odhagen et al. beschreiben Raten für STE nach TE von 0,6 % und von 3,9 % nach Tonsillotomie [5].

Werden klinische Symptome auf revisionswürdige Tonsillenreste zurückgeführt, können sie gelegentlich sogar Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen werden [6]. Verbleibendes Tonsillengewebe kann dann zur Indikation für Nachoperationen werden, wenn hierdurch rezidivierende Infektionen auftreten oder es ausgehend von dem Restgewebe zu einer erneuten Tonsillenhyperplasie mit Obstruktion der oberen Atemwege kommt [9]. Dennoch erscheint es plausibel, dass nach einer Tonsillotomie (TOTO) im Vergleich zur Tonsillektomie (TE) von einem höheren Risiko einer Nachoperation in Form der sekundären Tonsillektomie (STE) auszugehen ist [5].

Daten des schwedischen Tonsillenregisters zeigen steigende Zahlen der sekundären Tonsillektomien in Verbindung mit der vermehrten Durchführung von Tonsillotomien [5]. Die Obstruktion der oberen Atemwege durch Tonsillenhyperplasie stellt hierbei die Hauptindikation für die TOTO dar [5].

Die Studie zeigt außerdem ein deutlich erhöhtes Risiko für eine STE nach Tonsillotomie, im Vergleich zu dem Risiko einer STE nach erfolgter Tonsillektomie.

Ziel dieser retrospektiven Longitudinalstudie war es, die Prävalenz der STE in Deutschland vor dem Hintergrund der bundesweit steigenden Fallzahl der TOTO [8] zu erfassen.

Material und Methoden

Für diese retrospektive Longitudinalstudie wurden die Daten einer Auswertung des Statistischen Bundesamts herangezogen, die Auskunft über die Fallzahlen aller vollstationär ausgeführten Operationen geben. Patientinnen und Patienten, die der STE zugeführt worden waren, wurden mit dem Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS-Code 5‑281.4) identifiziert und nach Altersgruppen stratifiziert. Anschließend wurde eine einfache lineare Regressionsanalyse über die Zeit durchgeführt.

Zur Berechnung der alters- und geschlechtsspezifischen Operationsraten wurde eine weitere Auswertung des Statistischen Bundesamts mit Angabe der Einwohnerzahl pro Altersgruppe und Geschlecht herangezogen. Die Raten wurden alters- und geschlechtsspezifisch durch Division der Eingriffszahl pro Einwohnerzahl, multipliziert mit 100.000, angegeben. Die größtmögliche Zeitspanne umfasste die Jahrgänge 2005 bis 2018.

Zusätzlich wurden anhand derselben Auswertung des statistischen Bundesamts unter Verwendung der OPS-Codes 5‑281.0, 5‑282.0 und 5‑281.5 die Fallzahlen der vollstationär durchgeführten Tonsillektomien ohne (TE) und mit Adenotomie (ATE) sowie Tonsillotomien (TOTO) im Untersuchungszeitraum identifiziert.

Nach §15 der Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte war das Einholen eines Ethikvotums für die Ausführung dieser Studie nicht erforderlich.

Ergebnisse

Innerhalb des Beobachtungszeitraums waren 4818 Patienten und 6200 Patientinnen einer STE zugeführt worden. Die altersspezifischen Operationsraten sind Tab. 1 und 2 zu entnehmen. Die Fallzahl reduzierte sich demnach um 55,3 % (von 1080 auf 483) zwischen 2005 und 2018 (Abb. 1). Es zeigt sich hier ein signifikanter Rückgang der Gesamtzahlen an STE über die Zeit (p < 0,001). Die Regressionsgerade ist in Abb. 1 dargestellt.

Tab. 1 Altersspezifische Operationsraten der sekundären Tonsillektomie für Patienten pro 100.000 Einwohner (2005–2018)
Tab. 2 Altersspezifische Operationsraten der sekundären Tonsillektomie für Patientinnen pro 100.000 Einwohner (2005–2018)
Abb. 1
figure 1

Prävalenz der sekundären Tonsillektomie 2005–2018 (Absolutzahlen). Innerhalb der 14 Jahrgänge nahm die Gesamtzahl der stationär ausgeführten sekundären Tonsillektomien sowohl bei Patientinnen wie Patienten ab

Der kontinuierliche Rückgang der Fallzahlen fand sich in vergleichbarer Größenordnung bei Patienten und Patientinnen (−47,36 % vs. 42,67 %; Abb. 1).

In fast allen Jahrgängen erfolgte der Eingriff bei Patientinnen überwiegend im Alter zwischen 15 und 25 Jahren und bei Patienten im Alter zwischen 35 und 45 Jahren (Tab. 1 und 2). Die Fallzahl von TE und ATE nahm innerhalb des Beobachtungszeitraums um 64,5 % ab (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Absolutzahlen der Tonsillektomie, Adenotonsillektomie und Tonsillotomie 2005–2018. Bei der TE und ATE findet sich ein nahezu linearer Fallzahlrückgang, bei der erst seit 2007 erfassten TOTO nimmt die Fallzahl seither kontinuierlich zu

Diskussion

Insgesamt stehen 1.235.316 Primäreingriffe (TE und ATE) aus 14 Jahrgängen den 11.018 STE gegenüber (Abb. 1 und 2). Da die TOTO erst 2007 mit einem eigenen OPS-Code (5-281.5) erfasst werden konnte, war die Gesamtzahl erst ab diesem Zeitpunkt zu ermitteln (139.050 Eingriffe). Bezogen auf die jährliche Fallzahl der stationären Primäreingriffe lag die der STE stets um das Hundertfache niedriger (0,9–0,67 %). Das Mengenverhältnis der STE zu den 3 primären Eingriffsarten ist aber tatsächlich noch niedriger einzuschätzen, da die Fallzahl der ambulant ausgeführten TOTO hinzugerechnet werden muss. Sie wird vom statistischen Bundesamt nicht erfasst und kann nur geschätzt werden (etwa 8000 im Jahr 2017 [6]).

In der wissenschaftlichen Literatur wird das Thema der STE nur in wenigen Arbeiten untersucht, der wesentliche Beitrag stammt von Odhagen [5]. Er identifizierte in einer retrospektiven Studie mit Kindern im Alter zwischen 1 und 12 Jahren insgesamt 684 Patienten (2,5 %), die durchschnittlich 1,6 Jahre nach dem Primäreingriff nachoperiert werden mussten [5]. Überwiegend war der STE eine TOTO vorausgegangen (n = 609; 3,9 %), seltener eine TE (n = 75; 0,6 %). Dies ist deswegen erstaunlich, weil bei korrekter Ausführung einer TE kein Tonsillengewebe verbleiben sollte. Diese Zahlen zeigen aber, dass offensichtlich „Resttonsillen“ auch nach einer TE nicht immer auszuschließen sind. Vermutlich ist dies sogar häufiger, als die Zahlen vermuten lassen, denn in die retrospektive Studie gingen nur symptomatisch gewordene Kinder ein. Ein Grund für verbleibendes Resttonsillen kann das unbeabsichtigte Belassen von Gewebe insbesondere im Bereich des kaudalen Tonsillenpols im Übergang zum Zungengrund sein. Funktionell wäre dies dann mit einer TOTO gleichzusetzen. Dies stützt zwar die Annahme einer effektiven Therapie rezidivierender Tonsillitiden durch eine TOTO, eine wissenschaftliche Erklärung liefert diese Beobachtung jedoch nicht [2].

Aktuelle Studien mit systematischen Befundkontrollen zur Erfassung von verbliebenem Tonsillengewebe nach TE liegen nach unserem Wissen nicht vor.

Als Argument gegen das Prinzip der TOTO wird häufig angeführt, dass sich im verbleibenden Tonsillengewebe erneut Tonsillitiden entwickeln können und deswegen im Verlauf eine STE unumgänglich wird. Ein weiteres Argument gegen die TOTO ist das befürchtete Wiederauftreten einer Tonsillenhyperplasie („regrowth“), ausgehend vom verbleibenden Tonsillengewebe. Eine Tonsillenhyperplasie nach TOTO ist tatsächlich aber nur in etwa 3 % der Fälle zu erwarten, insgesamt sind Nachoperationen in Form einer STE in etwa 1,5 % der Fälle zu erwarten [9]. In der genannten Studie von Odhagen war die STE zur Beseitigung einer oberen Atemwegsobstruktion zu 66,2 % und zur Therapie von Tonsillitiden in 14,9 % auch nach TE indiziert (vs. 82,3 % und 12 % nach TOTO) [5].

Die vorliegende Studie ist zwar nicht dazu geeignet, die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen Prävalenz der TOTO und der STE nachzuweisen, Schätzungen sind jedoch wegen der inzwischen bundesweit erreichten Fallzahl der TOTO möglich.

Im Jahr 2017 betrug die Fallzahl der stationären TOTO insgesamt 17.809 (Abb. 2). Hinzukommen die etwa 8000 ambulanten Eingriffe [7]. Entsprechend der bisher genannten Zahlen müsste es in etwa 1,5–3,9 % der Fälle nach Tonsillotomie zu einer STE kommen [5, 9]. Das würde bedeuten, dass 375–975 Patienten mit einer Nachoperation in Form einer STE rechnen müssten. Die Gesamtzahl der STE im Jahr 2018 betrug jedoch nur 483 (Abb. 1) und sinkt im Jahresvergleich kontinuierlich weiter, während die Fallzahlen der TOTO kontinuierlich steigen [7].

Ein weiteres Argument, das gegen die Beeinflussung der STE durch die steigenden Fallzahlen der TOTO spricht, ist das Patientenalter. Die TOTO wird typischerweise im ersten Lebensjahrzehnt ausgeführt, sehr viel seltener danach [8]. Nach Odhagen ist durchschnittlich binnen 1,6 Jahren nach dem Primäreingriff mit einer STE zu rechnen und dies umso häufiger, je jünger die Kinder zum Zeitpunkt der Primäroperation waren. Somit wären die höchsten Operationsraten der STE in den Altersgruppen „<5 Jahre“ und „<10 Jahre“ zu erwarten. Dies traf jedoch nicht für das untersuchte Patientenkollektiv zu. Allenfalls beim männlichen Geschlecht fanden sich in der Hälfte aller 14 Jahrgänge die höchsten Operationsraten der STE im Alter unter 10 Jahren. Die Patientinnen befanden sich hingegen durchgängig im Erwachsenenalter (Tab. 1 und 2).

Limitationen

Anhand der vorliegenden Datengrundlage ist das Abbilden von individuellen Verläufen nicht möglich, somit kann nicht gesagt werden, ob der STE eine TOTO oder TE vorausging. Auch liegen uns keine Informationen über das Patientenalter zum Zeitpunkt des Primäreingriffs vor, sodass der Einfluss des Patientenalters auf das Risiko einer STE nicht zu beurteilen ist.

Der herangezogene OPS-Code 5‑218.4 erfasst außerdem nicht, ob die Nachoperation in Form einer TE oder TOTO ausgeführt wurde.

Wie häufig die STE fälschlicherweise als Primäreingriff (5-281.0) kodiert wurde, kann wegen des Studiendesigns nicht beurteilt werden, wir gehen jedoch davon aus, dass dies nicht in einem relevanten Ausmaß geschehen ist. Dies gilt auch für die Möglichkeit, dass eine STE ambulant ausgeführt worden sein sollte, was wir zumindest aktuell in Deutschland als unwahrscheinlich einstufen. Schließlich erlaubt es die Auswertung des Statistischen Bundesamts nicht, Aussagen über die Operationsindikation der STE zu treffen. Insofern bedarf es weiterer Studien, um nach Beseitigung der genannten Limitationen mögliche Zusammenhänge aufzudecken.

Fazit für die Praxis

  • Die jährliche Zahl an sekundären Tonsillektomien sinkt zwischen 2005 und 2018 in Deutschland kontinuierlich.

  • Die Fallzahl der stationären Tonsillotomie steigt gleichzeitig kontinuierlich an.

  • In welchem Umfang die steigende Zahl an Tonsillotomien zu einer relevanten Häufung an sekundären Tonsillektomien führt, müssen zukünftige Studien klären.