Zusammenfassung
Hintergrund
Die Tonsillektomie zählt zu den häufigen Eingriffen in Deutschland, deren Anzahl durch demografische Veränderungen, das Aufkommen der Tonsillotomie und der Leitlinie zur Tonsillitistherapie beeinflusst sein könnte.
Ziel
Die Zahl der jährlich in den Bundesländern ausgeführten Tonsillektomien, Adenotonsillektomien und Tonsillotomien sollte erfasst werden.
Material und Methoden
Anhand einer Sonderauswertung durch das Statistische Bundesamt wurde pro Jahrgang und Bundesland die Zahl der stationär versorgten Patienten ohne Beschränkung in Bezug auf Alter oder Geschlecht erfasst, bei denen die genannten Eingriffsarten erfolgt waren. Die Operationsraten wurden in Bezug auf die Einwohnerzahl kalkuliert. Mittels Regressionsanalyse wurden die einzelnen Bundesländer, Jahrgänge und Altersgruppen verglichen, mit dem Pearson-Korrelationskoeffizienten erfolgte der Vergleich der Variablen.
Ergebnisse
Zwischen 2005 und 2017 wurden 1.313.449 Operationen ausgeführt. Die Gesamtrate (pro 100.000) ging sowohl für die Tonsillektomie (von 92 auf 43) als auch – noch viel mehr – für die Adenotonsillektomie (von 51 auf 15) zurück. Im Gegensatz dazu stieg die Tonsillotomierate von 6 auf 22 an. In der Korrelationsanalyse war dieser Zusammenhang stark positiv (r = 0,986).
Schlussfolgerung
Der in den Bundesländern festzustellende Trend zeichnete sich seit langer Zeit und somit unabhängig von der Publikation der Leitlinie zur Tonsillitis ab. Bundesweit hat die Aktivität auf dem Gebiet der stationären Tonsillenchirurgie nachgelassen, der Rückgang der Tonsillektomiehäufigkeit und die Zunahme der Tonsillotomiehäufigkeit waren im Jahresvergleich jeweils signifikant. Signifikante Unterschiede im Vergleich zum bundesdeutschen Trend wurden für 7 der 16 Bundesländer nachgewiesen.
Abstract
Background
Tonsillectomy remains a common procedure in Germany. However, demographic changes, the advent of tonsillotomy, and current guidelines may have an impact on the overall incidence.
Objective
To longitudinally evaluate the number of tonsillectomies, with (ATE) or without adenoidectomy (TE), and tonsillotomies (TT) performed annually in Germany.
Materials and methods
Based on comprehensive data from the Federal Office for Statistics, the number of patients undergoing the above-stated surgical procedures on an inpatient basis was retrospectively assessed in terms of year and federal state, without restriction by age or gender. Annual rates of ATE, TE, and TT were calculated based on population statistics. Regression analysis was performed to compare different federal states, years, and age groups. The variables were compared using the Pearson correlation coefficient.
Results
Between 2005 and 2017, 1,313,449 tonsil surgeries were registered. There was a considerable decrease in the overall incidence rate (per 100,000) of TE (92 to 43), which was even more pronounced for ATE (51 to 15). In contrast, an increased TT rate (6 to 22) was observed. Correlation analysis revealed a strong positive correlation (r = 0.986).
Conclusion
The change of trends in tonsil surgery started long before relevant national guidelines were published. The national trend was associated with considerably less surgical activity overall, a significant decrease in ATE/TE, and a significant increase in TT. Regional differences to the national trend were identified and found to be significant in at least in 7 of 16 federal states.
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Hintergrund
Tonsillektomie (TE) und Adenotonsillektomie (ATE) zählen zu den häufigsten Eingriffen im Fachgebiet der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, v. a. bei Kindern [21]. Rezidivierende akute Tonsillitiden sowie die Verlegung der oberen Atemwege durch eine (adeno)tonsilläre Hyperplasie sind typische Operationsindikationen [22]. Die postoperative Morbidität wird v. a. durch Schmerzen bestimmt, Blutungen können den Verlauf komplizieren und Anlass zu einer verlängerten stationären Beobachtung oder stationären Wiederaufnahme nach Entlassung sein. Das Wiederentdecken der Tonsillotomie (TT) als Alternative zur ATE/TE in den späten 1990er-Jahren fiel zusammen mit der Beobachtung, dass bei Kindern die Verlegung der oberen Atemwege durch hyperplastische Tonsillen häufiger als Tonsillitiden Anlass zum Eingriff war [15, 18]. Im Gegensatz zur TE bietet die TT den Vorteil der geringeren postoperativen Morbidität, nimmt aber den Nachteil des Rezidivs der Tonsillenhyperplasie in Kauf („tonsillar regrowth“). Bei klinischer Relevanz kann dies dann einen Zweiteingriff in Form der sekundären TE bedeuten [26]. Nach dem schwedischen Tonsillenregister hat sich die Operationshäufigkeit von TE und TT seit 2006 spiegelbildlich entwickelt, seit 2011 dominiert die Ausführung der TT bei Kindern mit Tonsillenhyperplasie [3].
Das Ziel der vorliegenden Longitudinalstudie war es, die Operationshäufigkeit von ATE, TE und TT in den einzelnen Bundesländern über eine möglichst große Zeitspanne zu erfassen.
Material und Methoden
Für diese retrospektive longitudinale Kohortenstudie wurde Datenmaterial einer durch die Autoren beauftragten Sonderauswertung des Statistischen Bundesamts verwendet. Das Kollektiv umfasste alle stationär ausgeführten Eingriffe bei Patientinnen und Patienten ohne Altersbeschränkung. Die Operationsindikation konnte nicht als Suchparameter verwendet werden, stattdessen diente der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) als Selektionskriterium für die unterschiedlichen Eingriffsarten (OPS-Code 5‑281.0 für TE, 5‑282.0 für ATE und 5‑281.5 für TT). Die jährlichen Operationsraten für ATE, TE und TT pro 100.000 Einwohner wurden kalkuliert anhand der offiziellen Bevölkerungsstatistik des Statischen Bundesamts sowohl für die Bundesrepublik (BRD) als auch der einzelnen Bundesländer (BL) [19, 20]. Methoden der deskriptiven Statistik wurden ergänzt um Regressionsanalysen zum Vergleich der BL (Referenz: BRD), Jahre (Referenz: 2017) und Altersgruppen (Referenz: ≤10 Jahre mit den Altersgruppen ≤20, ≤40 und >40 Jahre). Mittels Korrelationsanalyse (Pearson-Korrelationskoeffizient) wurden die Operationsraten von ATE/TE und TT verglichen. Alle Signifikanztests waren 2‑seitig, ein p-Wert <0,05 wurde als signifikant gewertet (MS Excel; SPSS Version 25, Fa. IBM Inc., Armonk, NY, USA). Nach §15 der Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte war das Einholen eines Ethikvotums nicht erforderlich.
Ergebnisse
Für die ATE/TE waren Daten vom Statistischen Bundesamt erst ab 2005 erhältlich, für die TT erst ab 2007, weil dieser Eingriff erst dann einen eigenen OPS-Code erhielt. Die jüngsten Daten entstammten dem Jahr 2017. Insgesamt waren 1.313.449 Eingriffe in dem 13 Jahre dauernden Zeitraum ausgeführt worden (TE: 815.299; ATE: 377.469; TT: 120.681). Innerhalb dieser Zeit ging die Zahl an TE um das 2,2-Fache, die Zahl an ATE um das 3,4-Fache zurück (Tab. 1 und 2). Im Gegensatz dazu stieg die Zahl der TT um das 3,8-Fache innerhalb von 11 Jahren (Tab. 3). Zwischen 2007 und 2017 änderte sich das Verhältnis der Eingriffe TE zu ATE und TT von 10,6:5,8:1 zu 2:0,7:1.
Der Rückgang der Operationsraten in der BRD pro 100.000 Einwohner war sehr deutlich bei der TE (96 im Jahr 2005, 43 im Jahr 2017) und noch ausgeprägter bei der ATE (52 im Jahr 2005, 15 im Jahr 2017). Eine gegensätzliche Entwicklung fand sich für die TT (6 im Jahr 2007 und 22 im Jahr 2017; Tab. 4). Dieser Trend war in allen BL zu verzeichnen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Im Vergleich der BL untereinander fanden sich die größten Unterschiede bezüglich der Operationsraten für die TE (Faktor 3,8) und ATE (Faktor 5) im Jahr 2017, für die TT war dies im Jahr 2009 nachzuweisen (Faktor 12). Die geringsten Unterschiede fanden sich bei der TE in den Jahren 2006/2012 (Faktor 3), bei der ATE 2008 (Faktor 3,7) und bei der TT 2007 (Faktor 5,5). Innerhalb der BL schwankte die TE-Rate zwischen 2005 und 2017 am stärksten in Rheinland-Pfalz (Faktor 2,8) und am geringsten in Hamburg (Faktor 1,5). Bezogen auf die ATE änderten sich die Operationsraten am stärksten in Brandenburg (Faktor 5,4) und am wenigstens in Schleswig-Holstein (Faktor 2,1). Im Fall der TT bestand die am stärksten ausgeprägte Schwankung der Operationsraten zwischen 2007 und 2017 in Mecklenburg-Vorpommern (Faktor 15) und die geringste in Baden-Württemberg (Faktor 2).
Regressionsanalyse für die Tonsillektomie
Die Operationsraten der TE nahmen bundesweit von Jahr zu Jahr signifikant ab (p < 0,05), die stärkste Abnahme war nach 2015 zu erkennen. Im Vergleich der BL untereinander zeigte sich eine überdurchschnittliche Operationsrate in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Sachsen und Thüringen (Odds Ratio: 1,579–28,092). Eine im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt geringere Operationsrate war für Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein nachzuweisen (Odds Ratio: 0,107–0,555). Die Operationsraten nahmen signifikant mit steigendem Alter ab (Tab. 5).
Regressionsanalyse für die Adenotonsillektomie
Auch die Operationsraten der ATE reduzierten sich bundesweit signifikant im Jahresvergleich (p < 0,05; Ausnahme: 2006); und auch für diese Eingriffsart fand sich die stärkste Abnahme nach 2015. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt ließen sich höhere Eingriffsraten in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland nachweisen (Odds Ratio: 1,596–2,729) und niedrigere in Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein (Odds Ratio: 0,129–0,76). Bezogen auf die Altersgruppen war die Operationsrate am niedrigsten bei den >40-Jährigen, es folgten die 10- bis 20-Jährigen, 20- bis 30-Jährigen, und am höchsten war sie bei den <10-Jährigen (p < 0,05; Tab. 6).
Regressionsanalyse für die Tonsillotomie
Im Gegensatz zu den beiden anderen Eingriffsarten stieg die TT-Rate bundesweit Jahr für Jahr (p < 0,05) mit stärkstem Anstieg nach 2015 an. Überdurchschnittlich häufig wurde in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein tonsillotomiert (Odds Ratio: 3,441–83,812), seltener in Bayern, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland (Odds Ratio: 0,024–0,243). Die Operationsraten nahmen signifikant (p < 0,05) mit steigendem Alter ab (Tab. 7).
Korrelationsanalyse
Die steigende Prävalenz der TT mit simultan sinkender Prävalenz der ATE und TE wird durch den negativen Korrelationskoeffizienten ausgedrückt (Tab. 8). Signifikante Unterschiede zum bundesweiten Korrelationskoeffizienten in allen Altersgruppen fanden sich bei 3 BL, nur für Kinder bei 2 BL, für Jugendliche und junge Erwachsene jeweils bei 6 und bei Erwachsenen bei 7 BL. Signifikante Unterschiede zum Bundeswert sowohl in jeder Altersgruppe und dem Gesamtkollektiv wurden nur für Bremen und Schleswig-Holstein festgestellt (hierunter ein positiver Korrelationskoeffizient in Bremen für Erwachsene und in Schleswig-Holstein für Jugendliche).
In Hamburg fanden sich zwar signifikante Unterschiede zum Bundeswert, dies betraf aber nicht die Kinder. Für andere BL konnten signifikante Unterschiede zum Bundeswert in nur einer (Brandenburg), 2 separaten (Sachsen-Anhalt; Mecklenburg-Vorpommern; Thüringen) und 3 Altersgruppen (Saarland) nachgewiesen werden.
Diskussion
Die vorliegende Longitudinalstudie basierte auf einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamts, das seit 2005 die Daten zu stationär behandelten Patientinnen und Patienten archiviert. Die Datensammlung erfolgt seither bundesweit einheitlich, insofern kann von einer homogenen, hohen Datenqualität ausgegangen werden. Anhand des Zahlenmaterials lässt sich belegen, dass sich die Gesamtzahl aller Eingriffe zwischen 2015 und 2017 halbiert hat. Diese Entwicklung wird auch von den meisten EU-Ländern berichtet [8] oder Ländern aus der OECD [11]. Für den Beobachtungszeitraum ließ sich ein eindeutiger Trend nachweisen mit sinkender Operationshäufigkeit von ATE/TE bei gleichzeitigem Anstieg der TT. Im Jahresvergleich waren die Zahlenunterschiede jeweils signifikant. Die Korrelationsanalysen lassen erwarten, dass die TT sich mehr und mehr als Ersatzoperation der ATE/TE in Deutschland entwickelt. Aus der Regressionsanalyse der vorliegenden Studie kann abgeleitet werden, dass die Tonsillenchirurgie typischerweise bei Kindern ausgeführt wird, was im Einklang mit anderen Berichten steht [3, 5, 10]. Schließlich zeigt die vorliegende Studie exemplarisch, dass es nicht ausreicht, lediglich Absolutzahlen oder Operationsraten einzelner BL miteinander zu vergleichen, sondern die aus der Korrelationsanalyse und Regressionsanalyse hervorgehenden Zusammenhänge mit einzubeziehen. So lässt sich aus den Ergebnissen des vorliegenden multivariaten Regressionsmodells ableiten, dass sich die Altersstruktur der untersuchten Population entscheidend auf die Unterschiedsfindung bei der Prävalenz der Tonsillenchirurgie auswirkt. Die Korrelationsanalyse deckte signifikante Unterschiede zum bundesweiten Durchschnitt bei Patienten jeden Alters in Bremen und Schleswig-Holstein auf, in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Saarland betraf dies nur einzelne Altersgruppen. Die Ergebnisse für Hamburg zeigen, dass die meisten TT bei Kindern vorgenommen worden waren.
Aus der vorliegenden Studie geht hervor, dass die Bewertung von Operationsraten in der Tonsillenchirurgie immer unter Berücksichtigung der Altersstruktur des jeweiligen Kollektivs vorgenommen werden sollte. Dies ist bei der Planung von Krankenhausbetten von Bedeutung, da die Prävalenz der Tonsillenchirurgie nachweislich vom (jungen) Patientenalter abhängt, was nach Wissen der Autoren bisher so nicht beschrieben wurde.
Die Trends der Tonsillenchirurgie in Schweden lassen sich anhand des schwedischen Tonsillenregisters detaillierter nachvollziehen, da hier auch Indikationen erfasst werden [3]. Diese sind nicht Bestandteil des vom Statistischen Bundesamt gesammelten Datenmaterials, weswegen eine Abschätzung der zukünftigen Entwicklungen derzeit nicht möglich ist. Die vorliegenden Studienergebnisse zeigen einen seit Jahren bestehenden Trend, der einen gewissen Akzent nach 2015 erfahren hat. Dies steht sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit der 2015 publizierten Tonsillitisleitlinie, die auch Empfehlungen zur Indikation von TE und TT enthält [27]. Es werden weitere Studien benötigt, um den Effekt dieser Leitlinie und ein erst kürzlich vorgesehenes Zweitmeinungsverfahren für die Tonsillektomie auf die Prävalenz der Tonsillenchirurgie beurteilen zu können [28]. Wegen des kontinuierlichen Charakters bei der Fallzahlentwicklung in der Tonsillenchirurgie liegt es nahe, in der 2009 publizierten Leitlinie „Halsschmerzen“ keinen Einflussfaktor auf chirurgische Optionen bei der Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis zu sehen [12]. Ganz andere Erfahrungen werden aus Schottland berichtet, wo nach Publikation der Leitlinie „Management of sore throat and indications for tonsillectomy“ die Fallzahlen der TE signifikant zurückgingen [7].
Da die obere Atemwegsobstruktion als Folge einer Tonsillenhyperplasie sich erfolgreich mittels TT therapieren lässt, sprechen die Zahlen der vorliegenden Studie dafür, dass diese Indikation und/oder die Akzeptanz der TT, wie in Schweden, zunimmt [10, 13]. Die Aussagekraft der vorliegenden Studie erfährt eine Einschränkung dadurch, dass Zahlen zur Häufigkeit ambulant ausgeführter Eingriffe durch das Statistische Bundesamt oder von einer anderen Institution nicht erhältlich sind. Diese Daten sind im Besitz der derzeit 109 Krankenkassen in Deutschland [29]. Durch persönliche Kontakte des Erstautors mit Repräsentanten von 5 Krankenkassen mit insgesamt etwa 40 Mio. Versicherten lässt sich die Zahl der ambulant ausgeführten TT auf etwa 8000 im Jahr 2017 schätzen. Gerade wegen der extremen ärztlichen Dokumentationsverpflichtungen erscheint es sinnvoll, diese Daten der versorgungsmedizinischen Forschung zugänglich zu machen, um Bettenplanungen, Op.-Kapazitäten und Ausbildungsprogramme für Fachpersonal realistischen Bedürfnissen anzupassen.
Die in der vorliegenden Studie festgestellte regional unterschiedliche Prävalenz in der Tonsillenchirurgie mit 1,5- bis 15-fachen Unterschieden ist nicht ungewöhnlich und wurde auch aus anderen Ländern [8, 11, 25] oder Regionen [4, 9, 16, 23] berichtet. Bis sind diese weltweit verbreiteten regionalen Unterschiede in der elektiven Chirurgie ein ungeklärtes Phänomen trotz ausgiebiger Forschung [2]. In Bezug auf die TE ließ sich zumindest ein gewisser Einfluss des Gesundheitssystems [6], aber auch sozioökonomischer oder anderer Faktoren [14] auf die Prävalenz der Operationshäufigkeit nachweisen.
Trotz der sehr praktikablen (schottischen) Leitlinie zu Halsschmerzen ergab eine Datenanalyse von 1.630.807 Kindern im Vereinigten Königreich, dass nur rein geringer Anteil (1/7) der Kinder mit dieser Indikationsgrundlage tonsillektomiert worden war, aber bei einem von 8 tonsillektomierten Kindern eine gute Indikation vorlag, was etwa 32.500 unnötige Operationen bedeutete [24].
Die vorliegende Studie kann Formulierungen bestätigen, die heterogene Behandlungskonzepte als endemisch und zeitkonstant ansehen [1]. Den begrenzten Effekt von Leitlinien kann man nicht nur an dem Beispiel aus dem Vereinigten Königreich, sondern auch an den vorgelegten Fallzahlen der vorliegenden Studie, insbesondere denen nach 2015, erkennen [17].
Fazit für die Praxis
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Die Absolutzahl von Adenotonsillektomien (ATE)/Tonsillektomien (TE) in den deutschen Bundesländern (BL) hat sich zwischen 2015 und 2017 etwa halbiert.
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Der Fallzahlrückgang steht im Einklang mit den meisten EU-Ländern.
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Der signifikante Fallzahlrückgang der Operationsraten von TE/ATE ist umgekehrt proportional zum signifikanten Anstieg der Tonsillotomieraten.
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Die beobachteten Trends in der Tonsillenchirurgie sind in den einzelnen BL unterschiedlich stark ausgeprägt, aber innerhalb der BL weitgehend konstant.
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Der Akzent in den beobachteten Trends nach 2015 steht vermutlich im Zusammenhang mit der 2015 publizierten Tonsillitisleitlinie.
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Windfuhr, J.P., Chen, Y. Tonsillenchirurgie in den Bundesländern: Unterschiede und Gemeinsamkeiten. HNO 68, 414–425 (2020). https://doi.org/10.1007/s00106-019-00777-0
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