Hintergrund und Fragestellung

Eine Stressreaktion ist eine normale Reaktion auf verschiedene Reize und Belastungen. Sie dient der Mobilisierung von Energie, einer verstärkten Blutzirkulation im Gehirn und in den Muskeln und erhöht die Aufmerksamkeit [1]. In Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften ist der menschliche Organismus zunehmend komplexen Belastungen in der Arbeits- und Lebenswelt ausgesetzt, auf die er reagieren muss. Laut einer von der Techniker Krankenkasse in Auftrag gegebenen Studie empfinden 8 von 10 Deutschen ihr Leben als stressbelastet, und jeder Dritte leidet unter „Dauerstress“ [2]. Wenn die Häufigkeit und Intensität von Stressbelastungen die vorhandenen individuellen Ressourcen zur Stressbewältigung übersteigen, kann es zu einer chronischen Überforderung in Form von chronischem Stress kommen. Chronischer Stress hat Effekte auf den Stoffwechsel, das Immun- und kardiovaskuläre System und beeinträchtigt die Schlafregulierung, Lern-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozesse [1, 2, 3]. Stress scheint auch ein Faktor beim Entstehen und Fortschreiten von psychischen Auffälligkeiten und Störungen zu sein. Bis vor ca. 10 Jahren war hier aufgrund mangelnder Längsschnittstudien aber keine eindeutige Zuordnung von Ursache und Wirkung möglich [1]. Inzwischen gilt die Assoziation zwischen stressbelasteten Lebensereignissen und Episoden einer Major Depression als belegt [4]. Eine umfangreiche Analyse der Literatur zu psychosozialem Stress im Arbeitsumfeld, die auch Längsschnittstudien einschloss, identifizierte Risikofaktoren für die Entwicklung mentaler Störungen [5]. Psychosozialer Dauerstress birgt besonders hohe Risiken für stressbedingte chronische Veränderungen und deren Wechselwirkungen, die meist den bei vorzeitiger Alterung ablaufenden Prozessen entsprechen, wie mit Blick auf das Immunsystem gezeigt werden konnte [6].

Die Untersuchung von chronischem Stress in DEGS1 hat das Ziel, lang andauernde oder häufig wiederkehrende Alltagsbelastungen und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit und das psychische Wohlbefinden näher zu untersuchen. Hierbei wird zunächst die Prävalenz von chronischem Stress bei Frauen und Männern in unterschiedlichen Altersgruppen und bei Menschen mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status beschrieben. Darüber hinaus werden Zusammenhänge zwischen der Prävalenz von chronischem Stress und sozialer Unterstützung, Schlafstörungen, depressiven Symptomen und dem sog. Burnout-Syndrom untersucht.

Methoden

Studienpopulation von DEGS1 und Statistik

Die „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS) ist Bestandteil des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts (RKI). Konzept und Design von DEGS sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben [7, 8, 9, 10, 11]. Die erste Erhebungswelle (DEGS1) wurde von 2008 bis 2011 durchgeführt und umfasste Befragungen, Untersuchungen und Tests [12, 13]. Zielpopulation war die in Deutschland lebende Bevölkerung im Alter von 18 bis 79 Jahren. DEGS1 hat ein Mischdesign, das sowohl quer- als auch längsschnittliche Analysen ermöglicht. Hierbei wurde eine Einwohnermeldeamtsstichprobe gezogen, die die ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 (BGS98) ergänzt. Insgesamt nahmen 8152 Personen teil, darunter 4193 Ersteingeladene (Response 42 %) und 3959 ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des BGS98 (Response 62 %). 7238 Personen besuchten eines der 180 Untersuchungszentren, 914 wurden ausschließlich befragt. Die Nettostichprobe ermöglicht für den Altersbereich von 18 bis 79 Jahren (n=7988, davon 7116 in Untersuchungszentren) repräsentative Querschnittanalysen und Trendaussagen im Vergleich mit dem BGS98 [11]. Die Querschnitt- und Trendanalysen werden mit einem Gewichtungsfaktor durchgeführt, der Abweichungen der Stichprobe von der Bevölkerungsstruktur (Stand 31.12.2010) hinsichtlich Alter, Geschlecht, Region und Staatsangehörigkeit sowie Gemeindetyp und Bildung korrigiert [11]. Bei der Berechnung der Gewichtung für die ehemaligen Teilnehmenden des BGS98 wurde die Wiederteilnahmewahrscheinlichkeit, basierend auf einem logistischen Modell, berücksichtigt. Eine Nonresponder-Analyse und der Vergleich einzelner erhobener Indikatoren mit Daten der amtlichen Statistik weisen auf eine hohe Repräsentativität der Stichprobe für die Wohnbevölkerung in Deutschland hin [11].

Um sowohl die Gewichtung als auch die Korrelation der Teilnehmenden innerhalb einer Gemeinde zu berücksichtigen, wurden die Konfidenzintervalle und p-Werte mit den SPSS-20-Verfahren für komplexe Stichproben bestimmt. Unterschiede werden als statistisch signifikant angesehen, wenn sich die jeweiligen 95 %-Konfidenzintervalle nicht überschneiden. Wenn sich die 95 %-Konfidenzintervalle nur geringfügig überschneiden wurde die statistische Signifikanz von Prävalenzunterschieden anhand eines korrigierten Chi-Quadrat-Tests auf Unabhängigkeit nach Rao-Scott [14] ermittelt. Hierbei wurde ein p-Wert < 0,05 als statistisch signifikant angesehen.

Chronischer Stress

Zur Messung der Stressbelastung wurde die Screening-Skala des Trierer Inventars zum chronischen Stress (TICS-SSCS) genutzt [15]. Dieser aus 12 Items bestehende Fragebogen wurde den Altersgruppen bis einschließlich 64 Jahre zur Beantwortung vorgelegt (N = 5850). Die Auswertungen in diesem Beitrag bleiben also auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Altersgruppe von 18 bis 64 Jahren begrenzt. Mit dem TICS-SSCS wird die Häufigkeit an subjektiv erlebter Stressbelastung in 5 verschiedenen Stressbereichen in den letzten 3 Monaten erhoben: chronische Besorgnis, arbeitsbezogene und soziale Überlastung, Überforderung und Mangel an sozialer Anerkennung. Die Häufigkeit der Belastung in den 5 Stressbereichen wird jeweils mit den Ausprägungen „nie“ (0 Punkte), „selten“ (1 Punkt), „manchmal“ (2 Punkte), „häufig“ (3 Punkte) und „sehr häufig“ (4 Punkte) erfasst. Auf Basis der 12 Itemwerte wurde ein Summenscore berechnet; dabei durften für bis zu 3 Items Antworten fehlen. Der Wertebereich des Summenscores variiert zwischen 0 und 48 Punkten, wobei der Punktwert 0 für niemals Stress und der Punktwert 48 für sehr häufigen Stress in allen 5 Stressbereichen steht. Für n = 5802 lag ein Punktwert für den Summenscore subjektiver Stressbelastung vor. Basierend auf der Verteilung der Punktwerte des Summenscores in der Gesamtstichprobe wurden die folgenden Kategorien von Stressbelastung gebildet: 0 bis 11 Punkte (≤ Median) „unterdurchschnittlich bis durchschnittlich“, 12 bis 22 Punkte „überdurchschnittlich“, 23 bis 48 Punkte (≥ 90. Perzentil) „stark“.

Burnout-Syndrom

Zum Burnout-Syndrom wurde im ärztlichen, computergestützten Interview (CAPI) gefragt, ob es jemals von einem Arzt oder Psychotherapeuten festgestellt wurde. Wenn diese Frage bejaht wurde, wurde zusätzlich gefragt, wann es das erste Mal festgestellt wurde, ob es in den letzten 12 Monaten bestand und welche Behandlungen in Anspruch genommen wurden.

Depressive Symptomatik

Das Vorliegen einer aktuellen depressiven Symptomatik in den letzten 2 Wochen wurde im Selbstausfüllfragebogen mit dem Depressionsmodul des Patient Health Questionnaire (PHQ) erfasst [16]. Das als PHQ-9 bezeichnete Depressionsmodul ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, mit dem das Vorliegen und die Häufigkeit von 9 depressiven Symptomen innerhalb der letzten 2 Wochen gemäß den diagnostischen Kriterien einer Major Depression nach DSM-IV erfragt wird [16, 17]. Jedes Symptom wird dabei mit den Ausprägungen „Überhaupt nicht“ (0 Punkte), „An einzelnen Tagen“ (1 Punkt), „An mehr als der Hälfte der Tage“ (2 Punkte) oder „Beinahe jeden Tag“ (3 Punkte) erfasst. Der Skalensummenwert entspricht der Summe der Punktwerte aller 9 Symptome und variiert zwischen 0 und 27 Punkten. Ein Punktwert von 10 oder mehr Punkten wird als aktuelle depressive Symptomatik definiert [16, 17, 18].

Schlafstörungen

Aktuelle Schlafstörungen, definiert als Einschlaf- oder Durchschlafprobleme, wurden als Selbstangabe für den Zeitraum der letzten 4 Wochen erfasst [19].

Bestimmung von Kovariablen

Der sozioökonomische Status wurde anhand eines Indexes bestimmt, in den Angaben zu schulischer und beruflicher Ausbildung, beruflicher Stellung sowie Haushaltsnettoeinkommen (bedarfsgewichtet) eingehen und der eine Einteilung in niedrige, mittlere und hohe Statusgruppe ermöglicht [20]. Mittels der Oslo-3 Social Support Scale, einem international eingesetzten Drei-Item-Instrument, wurde die wahrgenommene soziale Unterstützung im privaten Umfeld erhoben [21]. Auf Basis des Summenscores wurden die Ausprägungen „geringe Unterstützung“ (3 bis 8 Punkte), „mittlere Unterstützung“ (9 bis 11 Punkte), „starke Unterstützung“ (12 bis 14 Punkte) gebildet [20].

Ergebnisse

Die Prävalenz starker Stressbelastung nach Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status ist in Tab. 1 dargestellt. Frauen geben mit 13,9 % signifikant häufiger eine überdurchschnittliche Stressbelastung an als Männer (8,2 %). Zwischen den Altersgruppen gibt es keine signifikanten Unterschiede. Die Prävalenz starker Stressbelastung nimmt insgesamt mit steigendem sozioökonomischem Status ab; sie fällt von 17,3 % bei niedrigem auf 7,6 % bei hohem sozioökonomischem Status. Bei den Frauen ist der Unterschied zwischen mittlerem und hohem SES nicht signifikant (p = 0,326).

Tab. 1 Prävalenz starker Belastung durch chronischen Stress unterteilt nach Geschlecht, Altersgruppen und sozioökonomischem Status (SES), N=5793

Starke Stressbelastung und soziale Unterstützung

Eine starke Belastung mit chronischem Stress ist besonders häufig (26,2 %), wenn eine geringe soziale Unterstützung vorliegt (Tab. 2). Das trifft sowohl auf Männer als auch auf Frauen zu. Umgekehrt sinkt bei starker sozialer Unterstützung die Häufigkeit starker Stressbelastung signifikant auf ein viel niedrigeres Niveau (7 %).

Tab. 2 Prävalenz starker Belastung durch chronischen Stress unterteilt nach Geschlecht und sozialer Unterstützung, N=5774

Starke Stressbelastung und psychische Beeinträchtigungen

Menschen mit einer starken Belastung durch chronischen Stress zeigen deutlich häufiger eine aktuelle depressive Symptomatik, ein Burnout-Syndrom oder Schlafstörungen als Menschen ohne starke Belastung durch chronischen Stress. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen. Mehr als jeder zweite Erwachsene mit aktueller depressiver Symptomatik fühlt sich durch chronischen Stress stark belastet (53,7 %). Dies gilt ebenso für knapp jede zweite Person (45,9 %), bei der ein Burnout-Syndrom diagnostiziert wurde und trifft immerhin bei jedem Fünften (22,1 %) mit Schlafstörungen zu (Tab. 3).

Tab. 3 Prävalenz starker Belastung durch chronischen Stress unterteilt nach Geschlecht und unterschiedlichen psychischen Beeinträchtigungen

Starke Stressbelastung und psychische Mehrfachbeeinträchtigungen

In Abb. 1 zeigt sich, dass Beeinträchtigungen durch Burnout, durch eine depressive Symptomatik oder durch Schlafstörungen mit steigender Stressbelastung zunehmen. Personen mit unterdurchschnittlicher bis durchschnittlicher Stressbelastung sind zu 16,4 % von solchen Beeinträchtigungen betroffen; bei Menschen mit starker Stressbelastung steigt dieser Wert hingegen auf 61,1 %. Gleichzeitig nimmt mit steigender Stressbelastung auch die Prävalenz von Mehrfachbelastungen durch 2 oder 3 psychische Beeinträchtigungen zu. Insgesamt fallen die Beeinträchtigungen bei starker Stressbelastung bei Frauen etwas höher aus.

Abb. 1
figure 1

Prävalenz psychischer Beeinträchtigungen in Abhängigkeit von Stressbelastung, N=5481

Diskussion

In der ersten Welle von DEGS wurde subjektiver chronischer Stress erstmalig bei 5802 Probanden im Alter von 18 bis 64 Jahren mit einem standardisierten Instrument erfasst (TICS) [15]. Die verwendete Screening-Version (SSCS) deckt dabei 5 miteinander in Beziehung stehende Dimensionen von chronischem Stress ab. Mit TICS wurde ein hinsichtlich Faktorenstruktur und psychometrischer Eigenschaften für Populationsstudien validiertes Instrument verwendet [22].

In DEGS1 wurden gesundheitliche Effekte von chronischem Stress fokussiert auf psychische Beeinträchtigungen untersucht. Die Ergebnisse belegen eindrücklich einen hohen Zusammenhang zwischen Belastungen durch chronischen Stress und psychischen Beeinträchtigungen durch depressive Symptome, Burnout-Syndrom und Schlafstörungen. In unserer Stichprobe nimmt das Auftreten von chronischem Stress mit steigendem sozioökonomischem Status (SES) ab. In der Stichprobe, die der Entwicklung des Tests diente, waren die Werte der Screening-Skala zum chronischen Stress nicht signifikant mit der Schulbildung korreliert [15]. Zukünftige vertiefende Analysen unserer Daten werden vermutlich Aufschluss darüber geben können, welche spezifischen SES-Aspekte mit einer geringeren Stressbelastung einhergehen.

Die Ergebnisse zur höheren Stressbelastung von Frauen und von Personen in jüngeren Altersgruppen sind konsistent mit den Ergebnissen, die in der Testpublikation veröffentlicht wurden [15]. Bezüglich der sozialen Unterstützung konnten die in der Testpublikation berichteten Unterschiede bestätigt werden. Soziale Unterstützung fungiert gemäß der Interpretation der Testautoren als Ressource, die bei chronischem Stress der Bewältigung dient und als Puffer wirkt.

Mit Blick auf die geminderte Schlafqualität bei chronischem Stress lassen sich unsere Ergebnisse vermutlich kausal interpretieren. In einer entsprechenden Längsschnittuntersuchung konnte der Einfluss von chronischem Stress auf die Schlafqualität aufgezeigt werden, aber umgekehrt kein Einfluss der Schlafqualität auf die subjektive Wahrnehmung von chronischem Stress [23].

Der Zusammenhang zwischen chronischem Stress und psychischen Beschwerden, insbesondere mit depressiven Symptomen, ist konsistent zu früheren Befunden [15]. Hier ist anzumerken, dass dieser Zusammenhang durch die Überschneidung einzelner Fragebogeninhalte im PHQ-9 und TICS-SSCS verstärkt werden kann [15]. Ein Beispiel ist das Item „Zeiten, in denen ich mir viele Sorgen mache und damit nicht aufhören kann“ des SSCS. Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die hier „sehr häufig“ angeben, haben zu 61 % eine aktuelle depressive Symptomatik gemäß PHQ-9. Aber auch insgesamt war die Prävalenz einer depressiven Symptomatik bei starker Stressbelastung hoch (Prävalenz 53,7 %). In einer australischen Stichprobe von Frauen konnte gezeigt werden, dass sowohl chronischer Stress (6 Monate) als auch akuter Stress mit dem Beginn einer depressiven Episode assoziiert ist [24].

Als Burnout-Syndrom wird ein Zustand emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierter Leistungsfähigkeit bezeichnet, der aufgrund beruflicher stressbedingter Überlastung entstanden ist. Insoweit ist das Burnout-Syndrom sehr eng mit dem Stressbegriff im Sinne von Arbeitsstress verknüpft. Die Differenzialdiagnostik des Burnout-Syndroms ist bis heute nicht standardisiert, was die diesbezügliche Vergleichbarkeit von Studien erschwert [25]. Dass in unserer Studie bei fast jedem zweiten Probanden mit einem Burnout-Syndrom eine starke Stressbelastung gefunden wurde, ist nicht überraschend. Von einer Feinanalyse der Arbeitsstress-bezogenen Belastung sind zukünftig differenzierte Erkenntnisse zu erwarten.

Die Bedeutung von psychischen Beeinträchtigungen als Gesundheitsrisiko steht dennoch außer Frage. Gerade konnte in einer Metaanalyse von 10 prospektiven englischen Kohortenstudien mit fast 70.000 Teilnehmern aus der Allgemeinbevölkerung nachgewiesen werden, dass das Mortalitätsrisiko (alle Todesursachen) in Assoziation mit psychosozialem Stress um 21 % steigt [26].

Fazit

Das Ziel, mit DEGS1 besonders von chronischem Stress betroffene Bevölkerungsgruppen zu identifizieren und den Zusammenhang zwischen chronischem Stress und gesundheitlichen Beschwerden und Störungen näher zu untersuchen, ist ein Thema mit hoher Public-Health-Relevanz.