Grundlage für die notärztliche Diagnosestellung und Einschätzung des Verletzungsschweregrads eines Unfallsopfers bildet die präklinische Untersuchung, erweitert um präklinisch verfügbare apparative Diagnostik- bzw. Monitoring-Verfahren. Im Gegensatz zu dem interdisziplinär besetzten und in der Traumaversorgung sehr versierten Schockraumteam agiert der Notarzt, der zudem häufig nicht regelhaft mit der Versorgung Traumatisierter betraut ist, ärztlich allein, unter meist ungünstigen äußeren Bedingungen, mit deutlich eingeschränkten diagnostischen Hilfsmitteln sowie limitierten personellen und materiellen Ressourcen bei häufig zeitkritischen, akut vital bedrohlichen Verletzungsbildern. Fraglich ist, ob unter diesen Voraussetzungen die exakte präklinische Diagnosestellung überhaupt möglich sein kann.

Hintergrund

Nach wie vor stellt das Trauma bei den unter 40-Jährigen die Haupttodesursache dar. Dabei wird die Prognose schwerverletzter Patienten ganz wesentlich von der Qualität der prä- und innerklinischen Primärversorgung mitbestimmt [8, 15, 16, 23, 27]. Im Rahmen der präklinischen Versorgungsphase kommt der notärztlichen Einschätzung des Verletzungsschweregrads eine Schlüsselposition zu, da diese nicht nur die Art und den Umfang der zu ergreifenden präklinischen Maßnahmen, sondern maßgeblich auch die Zielklinikauswahl beeinflusst[2, 18, 27]. Insofern hängt die Prognose des Schwerverletzten entscheidend vom Notarzt ab [2].

Bedingt durch ein zeitkritisches und häufig akut vital bedrohliches Verletzungsbild, regelhaft ungünstige äußere Bedingungen, deutlich beschränkte diagnostische Hilfsmittel und limitierte personelle Ressourcen, stellt die präklinische Einschätzung der Verletzungsschwere allerdings selbst für den erfahrenen Notarzt eine große Herausforderung dar [22]. Hinzu kommt in vielen Fällen die geringe individuelle praktische Erfahrung des Notarztes in der präklinischen Versorgung schwer Traumatisierter aufgrund der geringen Häufigkeit derartiger Notfalleinsätze, insbesondere im bodengebundenen Rettungsdienst. So ist es nicht verwunderlich, dass es bei der präklinischen Festlegung des Verletzungsschweregrads oft zu Fehleinschätzungen kommt [1, 2, 3]. Nach Muhm et al. [22] stellt in der notfallmedizinischen Qualitätssicherung die Einschätzung der präklinischen Verletzungsschwere einen für die klinische Patientenversorgung wesentlichen Parameter dar. Allerdings finden sich in der notfallmedizinischen Literatur nur wenige Studien, die sich speziell mit dieser Problematik befassen [1, 2, 3, 20, 22]. Da der Verkehrsunfall in der Bundesrepublik mit knapp 57 % die weitaus häufigste Ursache für eine schwere Verletzung ist, wurde der Einsatzanlass „Verkehrsunfall“ als Basis für die vorliegende Analyse gewählt [28]. Ziel war die Beurteilung der Zuverlässigkeit notärztlicher Verdachtsdiagnosen am Beispiel von Verkehrsunfallopfern im Vergleich mit den innerklinisch ermittelten Diagnosen.

Material und Methode

Es erfolgte eine retrospektive Datenerhebung am Luftrettungszentrum „Christoph 22“ – Ulm und an dem angeschlossenen Bundeswehrkrankenhaus Ulm im Zeitraum von Mai 2005 bis Oktober 2009. Aufnahme in die Analyse fanden Patienten, die folgende Kriterien erfüllten:

  • Traumapatienten im Rahmen von Verkehrsunfällen,

  • präklinische Versorgung durch RTH „Christoph 22“ – Ulm,

  • Zielklinik Bundeswehrkrankenhaus Ulm (überregionales Traumazentrum),

  • vollständige präklinische Einsatzdokumentation,

  • vollständige klinische Verlaufsdokumentation,

  • vollständige Entlassdiagnosen.

Für die Studie liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Universität Ulm vor (Antrag-Nr. 224/13). Grundlage für die Analyse der präklinischen Einsatzabläufe bildet die an sämtlichen RTH-Stationen der ADAC-Luftrettung etablierte Dokumentation entsprechend dem von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) formulierten Standard auf Basis des Minimalen Notarztdatensatzes 2 (MIND2, [21]). Dieser beinhaltet auch den sog. Utstein-Trauma-Style [9], der zur Dokumentation von Umfang und Schweregrad einer Verletzung insgesamt 10 verschiedene Körperregionen sowie 7 Schweregrade der Verletzung differenziert. Grundlage für die Analyse der innerklinischen Versorgungsabläufe bildet der am Bundeswehrkrankenhaus Ulm etablierte Standard auf Basis des nationalen Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (TR-DGU®). Dies beinhaltet auch die Erfassung der Abbreviated Injury Scale (AIS, [7]) und des Injury Severity Score (ISS, [4]).

Für den Vergleich von notärztlichen Verdachtsdiagnosen und innerklinisch gesicherten Diagnosen wurde für jeden Patienten der präklinisch nach Utstein-Trauma-Style dokumentierte Verletzungsumfang/- schweregrad dem innerklinisch verifizierten Verletzungsumfang/- schweregrad entsprechend dem AIS-Code gegenübergestellt. Dabei wurde folgende Differenzierung vorgenommen:

  • Präklinisch dokumentierte/r Verletzung/-schweregrad stimmt mit der klinisch gesicherten Diagnose um ± 1 Punktwert überein. Im Folgenden wird hierfür der Begriff: „Übereinstimmung“ verwendet.

  • Präklinisch dokumentierte/r Verletzung/-schweregrad ist um mehr als einen Punktwert weniger schwerwiegend als die klinisch gesicherte Diagnose. Im Folgenden wird hierfür der Begriff: „Unterschätzung“ verwendet.

  • Präklinisch dokumentierte/r Verletzung/-schweregrad ist um mehr als einen Punktwert schwerwiegender als die klinisch gesicherte Diagnose. Im Folgenden wird hierfür der Begriff: „Überschätzung“ verwendet.

  • Eine klinisch gesicherte Verletzung mit AIS ≥ 3 wurde präklinisch vom Notarzt nicht dokumentiert. Im Folgenden wird hierfür der Begriff „relevant falsch-negative Diagnose“ verwendet.

Zur Klärung der Frage nach einer möglichen Beeinflussung der notärztlichen Diagnostik bei Patienten mit relevant eingeschränkten Vitalfunktionen wurde in einem weiteren Schritt das Gesamtkollektiv in verschiedene Untergruppen aufgeteilt. Diese wurden in Bezug auf die notärztliche „Diagnosequalität“ einander gegenübergestellt:

  • Patienten mit primärem Wert in der Glasgow Coma Scale (GCS) ≤ 8 vs. > 8,

  • Patienten mit primärem systolischen Blutdruckwert ≤ 90 vs. > 90 mmHg,

  • Patienten mit primärer pulsoxymetrisch gemessener Sauerstoffsättigung (SpO2) ≤ 96 vs. > 96 %.

Die Festlegung der Grenzwerte für die GCS und den systolischen Blutdruck erfolgte entsprechend der Abgrenzung „schweres SHT“ (GCS ≤ 8) und „traumaassoziierte hämodynamische Instabilität“ (systolischer Blutdruckwert ≤ 90 mmHg) gemäß der S3-Leitlinie Polytrauma [5]. Die Festlegung des Grenzwerts für die SpO2 erfolgte zur Abgrenzung eines „assoziierten Thoraxtraumas“ ( ≤ 96 %) gemäß der Literatur [12].

Neben einer rein deskriptiven Auswertung wurde zur numerischen Darstellung der Übereinstimmung von präklinischer Verdachtsdiagnose und klinisch gesicherter Diagnose für die verschiedenen Körperregionen der gewichtete κ-Koeffizient berechnet [6, 11]. Der Vergleich der Untergruppen erfolgte mithilfe des Exakt-Tests nach Fisher. Das Signifikanzniveau wurde mit p < 0,05 festgelegt.

Ergebnisse

Insgesamt nahmen 479 Patienten (Alter: 37,0 ± 18,2 Jahre; Range: 6 bis 88 Jahre, männlich: 65,8 %, ISS: 15,5 ± 13,5; ISS ≥ 16: 41,1 %/Letalität: 7,3 %) an der Studie teil. Führend war der Pkw-Unfall mit 56,2 %, gefolgt von Motorrad- und Fahrradunfall mit 24,0 resp. 11,6 %. Unfälle mit Lkw/Kleintransportern schlugen mit 4,0 % zu Buche, und Fußgänger waren in 4,2 % der Fälle verletzt. Die Häufigkeit der relevant verletzten Körperregionen (AIS ≥ 3) in Bezug auf das Gesamtkollektiv und in Bezug auf die unterschiedlichen Unfallfahrzeuge/-mechanismen ist Tab. 1 zu entnehmen.

Tab. 1 Häufigkeiten der Verletzungen verschiedener Körperregionen mit AIS-Schweregrad ≥ 3 bezogen auf das Gesamtstudienkollektiv (n = 479) sowie bezogen auf die verschiedenen Unfallfahrzeuge/-mechanismen

In Tab. 2 ist die notärztliche Diagnosequalität für die verschiedenen Körperregionen des Gesamtkollektivs mithilfe des gewichteten κ-Koeffizienten dargestellt. Es zeigt sich, dass die Regionen Schädel und untere Extremitäten die höchsten κ-Koeffizienten aufwiesen, während für Regionen Hals/HWS und BWS/LWS die niedrigsten gewichteten κ-Koeffizienten berechnet wurden. Die Gegenüberstellung der notärztlichen Verdachtsdiagnosen und der klinischen Diagnosen ist in Abb. 1 a (Einbeziehung sämtlicher AIS-Schweregrade) und Abb. 1 b (klinische Diagnosen mit AIS ≥ 3) entsprechend den Kriterien „Übereinstimmung“ sowie „Unter-“ bzw. „Überschätzung“ ersichtlich. Die Ergebnisse hinsichtlich notärztlich nichtdiagnostizierter relevanter Verletzungen von Körperregionen (AIS ≥ 3) und vital bedrohlicher Verletzungen von Körperregionen (AIS ≥ 4) sind in Abb. 2 dargestellt. Es wird deutlich, dass diese Problematik im Wesentlichen Verletzungen des Körperstamms betraf.

Abb. 1
figure 1

a Gegenüberstellung der notärztlichen Verdachtsdiagnosen und der klinischen Diagnosen (Einbeziehung sämtlicher AIS-Schweregrade) im Studienkollektiv hinsichtlich „Übereinstimmung“, „Unterschätzung“ und „Überschätzung“. b Gegenüberstellung der notärztlichen Verdachtsdiagnosen und der klinischen Diagnosen mit AIS ≥ 3 im Studienkollektiv hinsichtlich „Übereinstimmung“, „Unterschätzung“ und „Überschätzung“

Abb. 2
figure 2

Notärztlich nichtdiagnostizierte Verletzungen AIS ≥ 3 und AIS ≥ 4 in Bezug auf die einzelnen Körperregionen im Studienkollektiv

Tab. 2 Notärztliche Diagnosequalität für die verschiedenen Körperregionen unter Berücksichtigung der Schweregradausprägung für das Gesamtkollektiv mithilfe des gewichteten κ-Koeffizienten (einschließlich 95 %-Konfidenzintervall)

Die Ergebnisse bezüglich einer möglichen Beeinflussung der notärztlichen Diagnosequalität durch eingeschränkte Vitalfunktionen sind in Tab. 3 aufgeführt. Es wird deutlich, dass bei Patienten mit GCS ≤ 8 signifikant seltener eine Schädel-Hirn-Verletzung nicht dokumentiert wurde als bei Patienten mit GCS > 8 (5,4  vs. 19,0 %, p < 0,02). Bei Patienten in der Gruppe mit initialem systolischen Blutdruckwert ≤ 90 mmHg wurden signifikant seltener Abdominalverletzungen nicht dokumentiert als in der Gruppe mit systolischem Blutdruckwert > 90 mmHg (28,6 vs. 52,5 %, p < 0,02). Bei Patienten mit einer initialen SpO2 ≤ 96 % wurden ein bestehendes Thoraxtrauma und sein Schweregrad signifikant häufiger korrekt notärztlich dokumentiert als bei Patienten mit einer initialen SpO2 > 96 % („Übereinstimmung“: 67,3 vs. 46,4 %, p < 0,002). Ebenso wurde bei diesen Patienten signifikant seltener ein Thoraxtrauma nicht dokumentiert als in der Gruppe mit einer initialen SpO2 > 96 % (18,1 vs. 35,7 %, p < 0,004).

Tab. 3 Anteil (%) der notärztlich nichtdiagnostizierten Verletzungen ohne Berücksichtigung der Schweregradausprägung bei eingeschränkten Vitalfunktionen, bezogen auf die verschiedenen Körperregionen

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Vergleich mit der Literatur

Erstaunlicherweise finden sich in der Literatur nur relativ wenige Studien, die sich mit der Thematik der Zuverlässigkeit notärztlicher Verdachtsdiagnosen bei Traumapatienten beschäftigen [1, 2, 3, 20, 22, 26]. Zudem kommen die Autoren dieser Studien zu sehr differenten Ergebnissen mit der Spannbreite einer 20 %igen [22] bis 89 %igen [2] Übereinstimmung von notärztlichen Verdachtsdiagnosen und innerklinisch gesicherten Diagnosen. Vor dem Hintergrund der Häufigkeit primär nichterkannter Verletzungen („missed injuries“) von bis zu 39 % bei Traumapatienten stellt sich allerdings die Frage, was denn realistischerweise überhaupt von einer notärztlichen Einschätzung erwartet werden kann? Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die innerklinisch gesicherten Diagnosen nach einer differenzierten innerklinischen Primärversorgung durch ein interdisziplinär besetztes Schockraumteam, einschließlich aufwendiger apparativer radiologischer Diagnostik, gestellt wurden. Ganz im Gegensatz zu dem interdisziplinär besetzten und in der Traumaversorgung sehr versierten Schockraumteam agiert der Notarzt, der zudem häufig nicht regelhaft mit der Versorgung Traumatisierter betraut ist, ärztlich allein, unter meist ungünstigen äußeren Bedingungen, mit deutlich eingeschränkten diagnostischen Hilfsmitteln sowie limitierten personellen und materiellen Ressourcen bei häufig zeitkritischen, akut vital bedrohlichen Verletzungsbildern. Aus Sicht der Autoren muss daher die Erwartungshaltung hinsichtlich der Zuverlässigkeit notärztlicher Verdachtsdiagnosen bei Traumapatienten deutlich relativiert werden.

Auf den ersten Blick sind die Ergebnisse dieser Untersuchung hinsichtlich der Zuverlässigkeit notärztlicher Verdachtsdiagnosen bei Verkehrsunfallopfern ernüchternd. Zieht man die in der Literatur [11] angegebenen Richtwerte des gewichteten κ-Koeffizienten für die Stärke der Übereinstimmung heran, ergeben sich lediglich bezüglich der Regionen Schädel sowie untere Extremitäten „gute Übereinstimmungen“ (Richtwerte: 0,61–0,80), für Thorax, Gesicht und obere Extremitäten „mittelmäßige Übereinstimmungen“ (Richtwerte: 0,41–0,60), für Abdomen und Becken hingegen „mäßige Übereinstimmungen“ (Richtwerte: 0,21–0,40) und für Hals/HWS sowie BWS/LWS lediglich „schwache Übereinstimmung“ (Richtwerte: < 0,20; Tab. 2). Dabei muss berücksichtigt werden, dass für diese Analyse die notärztlichen Verdachtsdiagnosen den Klinikentlassdiagnosen gegenübergestellt wurden, während sie in anderen Untersuchungen [3, 22] nur mit den Schockraumdiagnosen verglichen wurden. Vor dem Hintergrund der Problematik der Missed injuries stellt dies eine besonders „verschärfte“ Form des Vergleichs dar.

Betrachtet man die Kriterien „Übereinstimmung“ sowie „Unter-“ bzw. „Überschätzung“ von notärztlicher Verdachtsdiagnose und klinischer Diagnose, zeigt sich, dass mit Zunahme des Verletzungsschweregrads der Anteil korrekt notärztlich eingeschätzter Verletzungen zu-, während der Anteil an „unter-“ bzw. „überschätzten“ Verletzungen abnimmt (Abb. 1 a,b).

Körperregionen

Schädel

Die höchste Rate an Übereinstimmungen findet sich für die Region Schädel: Unter Einbeziehung sämtlicher AIS-Schweregrad-Ausprägungen beträgt dieser Anteil 68 %. Dies steht im Einklang mit den Ergebnissen von Albrech et al. ([1], 73 %); dagegen ermittelten Muhm et al. [22] erstaunlicherweise für diese Region lediglich einen 33 %igen Übereinstimmungsgrad. Für Schädel-Hirn-Verletzungen mit AIS ≥ 3 steigt die Übereinstimmungsrate auf 77 % (Abb. 1 a,b) bei einer Quote an nichterkannten Schädel-Hirn-Verletzungen von lediglich 2,3 % bei AIS ≥ 3 bzw. 0,5 % bei AIS ≥ 4 (Abb. 2). Die Einbeziehung der GCS bei der notärztlichen Beurteilung ist effektiv, wie die signifikant niedrigeren Raten an relevant falsch-negativen Diagnosen bei Patienten mit GCS ≤ 8 gegenüber solchen mit GCS > 8 (5,4 vs. 19 %; p = 0,015; Tab. 3) eindrücklich belegen. Wegen der prognostischen Bedeutsamkeit des schweren Schädel-Hirn-Traumas, insbesondere im Rahmen einer Mehrfachverletzung/Polytraumatisierung, ist dies ein sehr wichtiges Ergebnis. Insgesamt scheint die präklinische Einschätzung des schweren Schädel-Hirn-Traumas recht zuverlässig möglich zu sein.

Körperstamm

Im Einklang mit der Literatur [3, 19, 22] fanden sich für den Körperstamm (Thorax, Abdomen und Becken) niedrigere Übereinstimmungsgrade und höhere Unterschätzungsraten (Abb. 1 a,b). Zudem war der Anteil an nichtdiagnostizierten Verletzungen mit AIS ≥ 3 deutlich höher als bei allen anderen Körperregionen (Thorax: 12,6 %, Abdomen: 16,9 % und Becken: 15,0 %); ebenso waren sämtliche notärztlich nichtdiagnostizierten vital bedrohlichen Verletzungen (AIS > 3; Abb. 2) dem Körperstamm zuzuordnen. Diese Problematik ist bereits aus der innerklinischen Akutversorgung schwer Traumatisierter bekannt: So bilden Verletzungen des Körperstamms den größten Anteil an Missed injuries [24, 29]. Ursächlich hierfür sind insbesondere die Komplexität des Verletzungsmusters (meist liegt eine Polytraumatisierung zugrunde), die eingeschränkte klinische Beurteilbarkeit durch Bewusstseintrübung bzw. Bewusstlosigkeit infolge assoziierten Schädel-Hirn-Traumas und fehlende klinische Zeichen einer Verletzung am Körperstamm. Letzteres trifft auf die präklinische Beurteilung von verunfallten Fahrzeuginsassen in ganz besonderem Maß zu: Konnte in der Vor-Airbag-Ära beispielsweise anhand von Prellmarken und Hämatomen durch den Sicherheitsgurt („seatbelt sign“) auf eine Verletzung des Körperstamms rückgeschlossen werden, fehlen diese Zeichen heute in der Airbag-Ära – selbst bei schwerwiegenden Verletzungen des Körperstamms – praktisch vollständig [19, 30].

Thorax

Von den 3 Körperhöhlen erscheint der Thorax präklinisch noch am besten einschätzbar: So fand in dieser Analyse der Thorax die höchste Übereinstimmungsrate [mit 60 bzw. 69 % für AIS ≥ 3, deutlich höher als bei anderen Autoren (40 % [22] bzw. 49 % [3])], die niedrigste Unterschätzungsquote (28 bzw. 26 % für AIS ≥ 3) und den niedrigsten Anteil an nichtdiagnostizierten Verletzungen mit AIS ≥ 3 (12,6 %). Durch Einbeziehung der initialen pulsoxymetrischen Messergebnisse kann die notärztliche Einschätzung des Thoraxtraumas verbessert werden [12]: So liegt der Anteil von nichtdiagnostizierten Thoraxverletzungen in dieser Studie bei Patienten mit initialer SpO2 ≤ 96 % signifikant niedriger als bei Patienten mit initialer SpO2 > 96 % (18,1 vs. 35,7 %, p = 0,004).

Abdomen/Becken

Während zumindest instabile Beckenverletzungen durch eine klinische Untersuchung vom Notarzt grundsätzlich detektierbar sind, ist dies selbst bei schwerwiegendem Abdominaltrauma für den Notarzt – zumal bei fehlenden äußeren klinischen Verletzungszeichen – meist unmöglich. Häufig gibt dem Notarzt lediglich die Kreislaufinstabilität als indirektes Zeichen einer Hämorrhagie Hinweise auf ein potenziell zugrunde liegendes Abdominal- und/oder Beckentrauma. Die Einbeziehung dieses Parameters kann die notärztliche Einschätzung verbessern, wie die signifikant niedrigere Rate an nichtdiagnostizierten Abdominaltraumata bei initialem systolischen Blutdruckwert < 90 mmHg (28,6 vs. 52,5 % bei systolischem Blutdruckwert ≥ 90 mmHg, p = 0,025) in dieser Studie belegt. Daher ist der Einsatz der Sonographie als ergänzendes diagnostisches Verfahren (im Sinne von „prehospital focussed assessment with sonography in trauma“, pFAST) zur Detektion freier intraabdomineller Flüssigkeit zu diskutieren [17]. Allerdings wird die Wertigkeit des Verfahrens in der Literatur durchaus noch kontrovers diskutiert [25]: Kritisch angemerkt werden die interindividuelle Diskrepanz der Durchführung und Befundung, die Dauer der Untersuchung, der frühe Zeitpunkt, zu dem – im Sinne eines falsch-negativen Befunds – noch nicht ausreichend freie Flüssigkeit intraabdominell vorliegt und die Notwendigkeit eines zusätzlichen Geräts [25]. Andererseits ist der Nachweis freier intraabdomineller Flüssigkeit eine wichtige Information für die weitere Entscheidungsfindung bezüglich Transportzeitpunkt, Transportmittel und Zielklinik [25].

Extremitäten

Erstaunlicherweise gab es in der vorliegenden Analyse deutliche Unterschiede hinsichtlich der notärztlichen Diagnosequalität zwischen der oberen und der unteren Extremität. Während für Verletzungen der unteren Extremität entsprechend dem κ-Koeffizienten „gute“ Übereinstimmungen ermittelt wurden, fanden sich für Verletzungen der oberen Extremität lediglich noch „mittelmäßige“ Übereinstimmungen (Tab. 2). Betrachtet man jedoch ausschließlich relevante Verletzungen (AIS ≥ 3), findet sich für beide Regionen eine 70 %ige Übereinstimmungsquote. Zudem ist der Anteil notärztlich nichtdiagnostizierter Verletzungen mit AIS ≥ 3 in beiden Körperregionen sehr gering (2,6 % für „obere“ und 2,1 % für „untere“ Extremität). Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit der Literatur hinsichtlich innerklinischer Missed injuries [24, 29]. Da die überwiegende Mehrzahl der nichtdiagnostizierten Verletzungen in dieser Studie bei Patienten mit hohen Verletzungsschweregraden und/oder bei Patienten mit deutlich eingeschränkten Vitalfunktion zu verzeichnen war, sind mögliche Erklärungen für die geringere Diagnosequalität, insbesondere die obere Extremität betreffend, die Komplexität des zugrunde liegenden Verletzungsmusters und die eingeschränkte klinische Beurteilbarkeit des Patienten [29].

Wirbelsäulenverletzungen

Die Ergebnisse bezüglich der notärztlichen Einschätzung von Wirbelsäulenverletzungen mit einem hohen Anteil falsch-positiver Diagnosen (aber auch einen äußert geringen Anteil an nichtdiagnostizierten relevanten Verletzungen) entsprachen den Erwartungen. Sie können als Folge einer konsequenten Umsetzung der diesbezüglichen Empfehlungen der S3-Leitlinie Polytrauma gewertet werden [5].

Unfallmechanismen

Bei der präklinischen Einschätzung des Verletzungsmusters und des Verletzungsschweregrads wird dem Unfallmechanismus allgemein hohe Bedeutung beigemessen [5, 10, 19]. So sind im deutschen und angelsächsischen Sprachraum definierte Unfallmechanismen beispielsweise auch der häufigste Grund für die Aktivierung eines Schockraumteams [26]. Eine Metaanalyse der Literatur zum Einfluss des Unfallmechanismus erbrachte allerdings widersprüchliche Ergebnisse. Deshalb propagieren die Autoren zumindest einen vom Unfallmechanismus unabhängigen Versorgungsalgorithmus, wie er in verschiedenen Ausbildungssystemen [z. B. Pre Hospital Trauma Life Support (PHTLS®), Advanced Trauma Life Support (ATLS®) und European Trauma Course (ETC®), [10]] bereits umgesetzt wird. Dennoch wird die Einbeziehung des Unfallmechanismus als wichtig erachtet, zumal bestimmte Unfallmechanismen sehr charakteristische Verletzungen bzw. Verletzungsmuster nach sich ziehen [10, 19]. Rehn et al. [26] fanden eine signifikant verbesserte notärztliche Einschätzung, indem neben Unfallmechanismus auch anatomische und physiologische Kriterien in die Beurteilung einbezogen wurden. In der vorliegenden Analyse wurde die Rolle des Unfallmechanismus bei der notärztlichen Einschätzung des Verletzungsmusters nicht explizit untersucht.

Limitationen

Die vorliegende Untersuchung unterliegt verschiedenen Limitationen. So handelt es sich um eine retrospektive Analyse mit den ihr anhaftenden Problemen. Des Weiteren handelt es sich um eine monozentrische Studie, in die ausschließlich Verkehrsunfallopfer einbezogen wurden, die durch das Team einer Luftrettungsstation präklinisch versorgt und anschließend einem bestimmten überregionalen Traumazentrum zugeführt wurden. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Studienergebnisse an einem äußerst selektierten Patientenkollektiv erhoben wurden; dies muss bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden. Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass die Qualität der notärztlichen Einsatzdokumentation zahlreichen Einflussfaktoren unterliegt [13, 14]. In Bezug auf diese Untersuchung wäre insbesondere der Einfluss der „notärztlichen Dokumentationsschwäche“ (im Sinne: „notärztlich nicht diagnostiziert“ vs. „notärztlich zwar diagnostiziert, aber nicht dokumentiert“) von Interesse. Aufgrund des retrospektiven Studiendesigns konnte diese Frage nicht untersucht werden. Ebenso konnte der Einfluss des Faktors „Zeitdruck am Einsatzort“ (im Sinne einer möglichst kurzen präklinischen Gesamtversorgungsphase [5, 28]) und seiner möglichen Auswirkungen auf die Qualität der notärztlichen Diagnostik nicht untersucht werden.

Fazit für die Praxis

In Anbetracht des erheblichen Anteils von Missed injuries im Rahmen der innerklinischen Akutversorgungsphase schwer Traumatisierter muss die Erwartungshaltung an die Qualität der notärztlichen Diagnosestellung grundsätzlich relativiert werden: Eine exakte präklinische Diagnosestellung ist nicht oder nur eingeschränkt möglich. Dies trifft insbesondere für Verletzungen des Körperstamms und hier speziell für das Abdomen und das Becken zu, bei denen der Anteil von nichtdiagnostizierten Verletzungen mit AIS ≥ 3 im Vergleich zu anderen Körperregionen hoch ist. Dahingegen ist die Einschätzung des prognostisch bedeutsamen schweren Schädel-Hirn-Traumas mit einer guten Qualität möglich. Grundsätzlich gilt, dass mit zunehmenden Verletzungsschweregrad der Anteil korrekt notärztlich eingeschätzter Verletzungen steigt, während der Anteil an „unter-“ bzw. „überschätzten“ Verletzungen abnimmt. Grundlage für die notärztliche Diagnosestellung und Einschätzung des Verletzungsschweregrads bildet nach wie vor die präklinische Untersuchung des Notfallpatienten, erweitert um die präklinisch verfügbaren apparativen Diagnostik- bzw. Monitoring-Verfahren. Die Rolle der pFAST im Rahmen der präklinischen Einschätzung eines potenziellen Abdominaltraumas wird in diesem Zusammenhang noch kontrovers diskutiert. Soweit verfügbar sollten in die Bewertung auch Informationen zu Unfallsituation und -mechanismus (z. B. Gurtanlage? Aktivierte Rückhaltesysteme? Sitzposition? Tod eines Insassen? etc.) einfließen, da zumindest bestimmte Unfallsituationen und -mechanismen sehr charakteristische Verletzungen bzw. Verletzungsmuster nach sich ziehen.