Die Effektivität offizieller Empfehlungen in der Medizin ist vom Grad ihrer Bekanntheit, dem Interesse der fachkundigen Leser und deren individueller Motivation zur Umsetzung abhängig. Auch abteilungsinterne Vorgaben haben prägenden Einfluss. Welche Indikationen legen Anästhesisten ihrer Entscheidungsfindung bei der Durchführung diagnostischer Maßnahmen im Rahmen der präoperativen Evaluation zugrunde und inwieweit orientieren sich ihre Entscheidungen den aktuellen Empfehlungen?

Hintergrund

Das Prämedikationsgespräch ist ein wesentlicher Bestandteil der anästhesiologischen Versorgung und dient, neben Aufklärung über und der Einwilligung zu anästhesiologischen Maßnahmen, v. a. der Risikobeurteilung des Patienten. Bezüglich der Entscheidungsfindung zu präoperativen Diagnostik wurden 1998 [7] und 2010 [19] Empfehlungen seitens der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI), 2010 sogar interdisziplinär, ausgesprochen. Eine direkte Überprüfung der Auswirkungen derartiger Empfehlungen, d. h., inwieweit diese in die Tat umgesetzt werden, gibt es regulär nicht und wäre auch kaum regelmäßig und flächendeckend bundesweit möglich.

Im Rahmen einer jüngst publizierten Studie, die im Kontext dieser gemeinsamen Empfehlung „Präoperative Evaluation erwachsener Patienten vor elektiven, nicht kardiochirurgischen Eingriffen“ [19] diese Fragestellung berührt [2], wurden Fragebogen an alle beim Berufsverband Deutscher Anästhesisten e. V. (BDA) verzeichneten Klinikadressen mit anästhesiologischer Fachabteilung verschickt. Die Antwort erfolgte jeweils einmal/Abteilung und wurde (gemäß fernmündlicher Auskunft der Autoren) von einem leitenden Mitarbeiter, stellvertretend für die Abteilung, ausgefüllt. Ein Rückschluss auf die Entscheidungsfindung des einzelnen Arztes erscheint dabei nur eingeschränkt möglich.

Die vorliegende Studie untersuchte daher, am Beispiel des Bundeslands Hessen, zum einen die Kenntnis, die Akzeptanz und die Umsetzung der interdisziplinären Fachempfehlungen [19] unter den angestellten Ärzten. Zum anderen sollte dargestellt werden, welche Indikationen der einzelne Anästhesist in seiner Entscheidungsfindung bei der Durchführung diagnostischer Maßnahmen im Rahmen der präoperativen Evaluation zugrunde legt und inwieweit seine Entscheidung den aktuellen Empfehlungen entspricht.

Methoden

Zielkollektiv

Ziel dieser Studie war es, möglichst flächendeckend die einzelnen Anästhesisten zu befragen und nicht anästhesiologische Abteilungen als Ganzes. Aus Gründen des daraus resultierenden Aufwands wurde die Erhebung auf ein Bundesland beschränkt. Unter der Schirmherrschaft der Landesverbände von DGAI und BDA in Hessen wurde diese Befragungsstudie entwickelt und an alle Anästhesisten gerichtet, die Mitarbeiter einer anästhesiologischen Fachabteilung an hessischen Kliniken waren. Freiberufliche oder niedergelassene Anästhesisten, auch mit Belegarztfunktion, wurden, aus Gründen der Vergleichbarkeit und differenten Organisationsstrukturen, nicht befragt. Ebenfalls nicht berücksichtigt wurden angestellte Anästhesisten von Praxiskliniken.

Teilnehmerrekrutierung, Zeitpunkt und Dauer der Datenerhebung

Da zum Zeitpunkt der Erhebung keine Datenbank bzw. kein Verzeichnis existierte, in dem alle in Hessen als Anästhesisten tätigen Ärzte erfasst waren, mussten diese erst ermittelt werden. Zu diesem Zweck wurden zunächst über das Internet die Kliniken mit eigenständiger Anästhesieabteilung identifiziert. Deren Chefärzte wurden 3 Monate nach Veröffentlichung der interdisziplinären Empfehlungen [19] schriftlich über die Studie informiert und gebeten, die Informationen über die Studie und Zugangsdaten für die Erhebung an die eigenen Mitarbeiter weiterzuleiten. Ferner wurde, sofern vorhanden, über die auf der Internetseite des jeweiligen Klinikums angegebenen E-Mail-Adressen der Mitarbeiter eine Einladung zur Studienteilnahme verschickt. Außerdem erfolgte eine schriftliche Kontaktaufnahme an alle angestellten Anästhesisten anhand von Mitgliederlisten, die vom DGAI und dem BDA zur Verfügung gestellt wurden. Überdies wurde ein Besuchstermin des Doktoranden dieser Studie mit den meisten jeweiligen Chefärzten vereinbart (s. Anhang), im Rahmen dessen erneut über die Studie informiert wurde, Einladungen zur Studienteilnahme ausgeteilt und statistische Daten zur personellen Abteilungsstärke erfragt wurden. Außerdem konnten sich bei dieser Gelegenheit Kollegen, die bereits an der Onlinebefragung (OB) teilgenommen hatten, freiwillig dem betreuenden Doktoranden schriftlich oder mündlich zu erkennen geben und für ein späteres Interview registrieren lassen. Alle Teilnehmer der anonym durchgeführten Internetbefragung, die sich bei dem Doktoranden für ein späteres Interview registrieren ließen, wurden im weiteren Verlauf aufgesucht und zur OB auszugsweise inhaltlich identisch mündlich befragt. Nach 8-monatiger Gesamtdauer wurden beide Datenerhebungen beendet und die Internetseite gesperrt. Details der auf mehreren Ebenen durchgeführten Recherche und Teilnehmerrekrutierung finden sich im Methodenteil des Onlineanhangs zu diesem Beitrag.

Befragungsformen, Zugangsdaten, Anonymität und Datenschutz

Die Befragung erfolgte zweistufig. Zunächst wurde um die Bearbeitung eines Onlinefragebogens (OB) gebeten. Hierzu war unter einer eigens eingerichteten Internetadresse ein webbasierter Fragebogen mit insgesamt 90 Fragen erstellt worden. Der Zugang zu dieser Internetseite wurde mithilfe eines Benutzernamens und eines Passworts geschützt. Hierbei wurden ausschließlich anonymisierte Datensätze erstellt. Der generierte Datensatz lässt keine Rückschlüsse auf die Identität des einzelnen Teilnehmers zu. Ein Viertel der Teilnehmer dieser OB ließ sich für eine anschließende, freiwillige, mündliche Interviewbefragung (IB) registrieren und wurde auszugsweise zu den Inhalten der OB nachbefragt, um einen möglichen Bias von zu positiver Selbsteinschätzung bei einer anonymen Onlineteilnahme zu erkennen. Durch die Anonymität der OB bestand keine Möglichkeit, den korrespondierenden Onlinedatensatz des Interviewpartners zu identifizieren und einen Abgleich vorzunehmen. Aufgrund dieser fehlenden individuellen Vergleichbarkeit der Antworten von OB und IB wurde angestrebt, mindestens 25 % der Teilnehmer der OB inhaltlich vergleichbar zu ihrer Prämedikationspraxis zu befragen. Somit sind zumindest die Trends und Schwerpunkte zwischen den Gruppen als Stichprobe vergleichbar. Die Interviewdaten wurden für die weitere Auswertung wieder anonymisiert. Der angestrebte Datenschutz und die Anonymität wurden somit gewährleistet.

Inhaltlicher Befragungsaufbau zu den Stammdaten

Im Rahmen der Stammdatenerhebung in OB und IB wurden die Struktur der Kliniken, an denen die teilnehmenden Ärzte beschäftigt waren (Kliniken der Grund und Regelversorgung-, Schwerpunkt- und Maximalversorgung oder Universitätsklinikum) sowie die Berufserfahrung der Teilnehmenden erfasst.

Kenntnis und Akzeptanz der Fachempfehlungen

In der OB und IB wurde zunächst allgemein nach Kenntnis der Fachempfehlungen und ihrer praktischen Umsetzung gefragt. Anschließend wurde die Akzeptanz dieser Empfehlungen untersucht. Um diese möglichst korrekt abzubilden, wurde hierzu doppelt überprüft. Primär wurde gefragt, inwieweit die Empfehlungen als „sinnvoll und nützlich“ angesehen werden. Im weiteren Verlauf wurde dies nochmals gefragt, jedoch nun in Negation – „weniger hilfreich“.

Indikation kardiopulmonaler Diagnostik

In diesem Fragenkomplex wurde die Indikationsgrundlage für ein 12-Kanal-Elektrokardiogramm (12-Kanal-EKG) und eine p.-a.-Röntgenuntersuchung der Thoraxorgane (Thoraxröntgen) sowohl online als auch im Interview erfasst. Im Onlinefragenkatalog wurden zusätzlich die Indikationen für Echokardiographie, Lungenfunktionsdiagnostik und der erweiterten kardialen Diagnostik in Form eines Belastungs-EKG miterhoben. Es konnte zwischen „immer“, „ab Alter“, „nach existierendem Hausstandard“ und „nach individueller Einschätzung“ differenziert werden. Da die aktuellen Fachempfehlungen jedoch eine individuelle Beurteilung fordern, wurde, sofern „nach eigener Einschätzung“ gewählt wurde, um eine diesbezügliche Erläuterung in einem Freitextfeld gebeten. Auf Grundlage der Fachempfehlungen von 2010 [19] wurden die Freitexterläuterungen nach ihrer Empfehlungskonformität bewertet. Eine Zusammenfassung der Indikationen gemäß den Empfehlungen ist im Methodikteil des Anhangs dargestellt.

Dauermedikation

Bezüglich einer größeren Anzahl an häufig verordneten Medikamenten zur Dauertherapie wurden die Teilnehmer der OB gebeten, zu differenzieren, welche der Medikamente am Vorabend und am Morgen des Operationstags gegeben bzw. abgesetzt werden sollten. Zusätzlich konnten die Präparate als „über 24 h zuvor abzusetzen“ oder „umzustellen“ bewertet werden.

Bearbeitung von 2 Fallbeispielen

Zur Darstellung der praktischen Umsetzung der zuvor erhobenen Aussagen wurden die Teilnehmer der OB und der IB gebeten, 2 Fallbeispiele zu bearbeiten. Hierbei wurde jeweils das Szenario eines Patienten mit Indikation zur Hemikolektomie bei unterschiedlich ausgeprägten kardialen Vorerkrankungen und unterschiedlichen chirurgischen Dringlichkeiten vorgestellt (Infobox 1). Herleitung und Entwicklung der Fallbeispiele orientierten sich an den Fachempfehlungen. Dies wird im Anhang dieser Studie für den interessierten Leser genauer dargestellt. Es wurde die gewünschte präoperative Diagnostik erfasst und den Empfehlungen gegenübergestellt. Vom Schwerpunkt dieser Studie unabhängige, weiterführende Angaben zur perioperativen, anästhesiologischen Versorgung (Prämedikation, Anästhesieverfahren, Überwachung) sind für den interessierten Leser tabellarisch ebenfalls im Anhang dieser Arbeit beigefügt.

Statistische Auswertung

Die statistischen Auswertungen wurden mithilfe von JMP 8 (SAS Institute Inc., Cary, NC, USA) durchgeführt. Die Darstellung der Daten erfolgte als Absolut- und Prozentwerte. In Einzelfällen wurden aus den Prozentangaben Mittelwerte gebildet und angegeben. Die Antworten wurden, soweit möglich, dichotomisiert. Bis auf das Berufsalter wurden die Daten anschließend als nominale oder ordinale Werte analysiert. Bei den intervallskalierten und dichotomen Daten wurde der Pearson-Korrelationskoeffizient berechnet. Bei der Berechnung der Korrelationskoefizienten für ordinalskalierte Werte wurde der Rangkorrelationskoeffizient nach Kendall (Kendalls τ) verwendet. Im Fall nichtnormalverteilter Daten wurden nichtparametrische Tests wie Mann-Whitney-U-Test und H-Test nach Kruskal und Wallis herangezogen. Bei allen durchgeführten Tests erfolgte eine zweiseitige Signifikanzüberprüfung; hierbei wurde für alle statistischen Tests ein p-Wert < 0,05 als statistisch signifikant angenommen.

Ergebnisse

Krankenhausstruktur und Ausbildungsstand der Teilnehmer

Im Bundesland Hessen arbeiteten zum Zeitpunkt der Datenerhebung von Januar bis September 2011 nach der vorliegenden Erfassung 1428 Anästhesisten in klinischem Angestelltenverhältnis an 85 maximal- bis regelversorgenden Kliniken. Dabei handelt es sich um 3 Universitätskliniken, 7 Kliniken der Maximalversorgung, 19 Kliniken der Schwerpunktversorgung sowie 56 Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung. Aufgrund unterschiedlichster Art von Zusatzversorgungsaufträgen der nominal 7 Fach-/Spezialkliniken in Hessen wurden diese Kollegen gebeten, ihr Spektrum den oben erwähnten Versorgungsstufen zuzuordnen, und sind daher in der oben genannten Aufstellung enthalten. Von den 1428 Ärzten waren mit teilweise standortübergreifenden Kooperationen und Zuständigkeiten 81 als Chefärzte tätig. Unter den 1347 verbleibenden und zur Teilnahme aufgeforderten Kollegen hatten 788 Anästhesisten (59 %), mit einer Berufserfahrung von über 5 Jahren, die Facharztreife (FA). Von den 1347 Anästhesisten beteiligten sich 396 (29 %) an der Befragung. Davon befanden sich wiederum 30 %, laut ihrer Berufserfahrung von 5 Jahren oder weniger, noch in der Weiterbildung (Weiterbildungsassistent, WBA). Bezüglich der Berufsjahre zeigt sich, dass die überwiegende Anzahl teilnehmender Ärzte mit langjähriger Berufspraxis im Rahmen der Regelversorgung tätig ist. Die weitere diesbezügliche Abstufung ergab ein Angestelltenverhältnis für Kollegen mit hoher Berufserfahrung an den Kliniken der Maximalversorgung, gefolgt von den Universitätskliniken und den Kliniken der Schwerpunktversorgung. Für ein nachfolgendes mündliches Interview registrierten sich 100 der 396 teilnehmenden Ärzte (25 %). Die Verteilung der jeweiligen Teilnehmer bezüglich des Kliniktyps und der Berufsjahre ist in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Versorgerstatus der Kliniken und Berufserfahrung der Teilnehmer

Kenntnis, Akzeptanz und Umsetzung der Fachempfehlungen

Kenntnis

Eine Zusammenfassung der Antworten der 396 bzw. 100 Teilnehmer der OB resp. IB ist in Tab. 2 dargestellt. Ärzte mit einer Berufserfahrung über 5 Jahren (FA) gaben bessere Kenntnis an als Ärzte mit einer Berufserfahrung unter 6 Jahren (WBA); OB: 35 vs. 18 %, p = 0,0022; IB: 17 vs. 13 %, p = 0,051.

Tab. 2 Kenntnis der Empfehlung

Akzeptanz der Fachempfehlungen

Wie in Tab. 3 ersichtlich, hielt bei der OB und bei der IB die Mehrheit der Befragten die Empfehlung für mindestens überwiegend sinnvoll. Das höhere Ausmaß der Akzeptanz bei WBA vs. FA war nicht signifikant (OB: p = 0,135, IB: p = 0,321) Die Ergebnisse der beiden Fragen zur Akzeptanz „sinnvoll“ bzw. „weniger sinnvoll“ waren größtenteils übereinstimmend und korrelierten miteinander (Kendall-Rangkorrelationskoeffizient bei OB: τ  = 0,949, p < 0,0001; bei IB: τ = 0,634, p < 0,0001).

Tab. 3 Einstufung der Empfehlung als sinnvoll/nützlich

Umsetzung

Die Antworten in der OB und der IB hinsichtlich der Umsetzungsbemühungen der Empfehlungen sind zusammenfassend in Tab. 4 aufgeführt. Gemäß OB berücksichtigen FA diese Empfehlungen stärker in der täglichen Praxis als WBA (53 vs. 33 %, p = 0,007).

Tab. 4 Selbsteinschätzung zur Umsetzung der Empfehlung

Bei der IB gab die überwiegende Zahl der Interviewpartner (64 %) an, sich unabhängig von den Empfehlungen, auf eigene Erfahrung oder auf Hausstandards zu verlassen. Vor allem die WBA messen mit 71 % anderweitiger Orientierung den Fachempfehlungen wenig Einfluss auf die tägliche Prämedikationsroutine zu. Die mündlich befragten FA setzten die Fachempfehlungen tendenziell stärker eigenständig um (p = 0,105). Eine Kenntnis der Empfehlung ging bei der OB und der IB signifikant mit der Bereitschaft einher, diese auch in der Praxis umzusetzen (p < 0,0001).

Signifikante Unterschiede in Kenntnis, Akzeptanz und Anwendungsbereitschaft der Empfehlungen in Bezug auf den Versorgungstyp der Klinik ließen sich nicht feststellen. Werden die Werte für alle 3 Fragestellungen aber rein deskriptiv betrachtet, ähneln sich die Aussagen der Ärzte an den Universitätskliniken sowie den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung in der OB stark. Die Kollegen aus den Kliniken der Maximalversorgung sind am besten informiert und auch am meisten zur Umsetzung motiviert, während die Anästhesisten der Kliniken der Schwerpunktversorgung die Fachempfehlungen zwar ebenso begrüßen, aber deutlich weniger Kenntnis und Umsetzungswillen haben als die anderen. Im Interview zeichnete sich ein etwas anderes Bild ab. Kenntnis und Umsetzung waren hier am höchsten in den Universitätskliniken. Die Kollegen in den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung zeigten sich deutlich zurückhaltender in ihren Aussagen. Auffallend war die weiterhin gute Bewertung durch die Anästhesisten der Kliniken der Maximalversorgung.

Präoperative Diagnostik

Die Ergebnisse der OB hinsichtlich Indikationsstellung der verschiedenen diagnostischen Verfahren sind sowohl allgemein als auch differenziert nach Versorgerstatus der Klinik in Tab. 5 und differenziert nach Berufserfahrung in Tab. 6 detailliert dargestellt. Die wichtigsten dieser tabellarisch dargestellten Ergebnisse und jene, die über die in den Tabellen dargestellten Resultate hinausgehen, werden nachfolgend separat aufgeführt.

Tab. 5 Indikationen präoperativer Diagnostik nach Versorgerstatus der Kliniken
Tab. 6 Indikationen der präoperativen Diagnostik nach Berufserfahrung

Elektrokardiographie

Generell und auch bei differenzierter Betrachtung vom Versorgungstyp der Klinik und der Berufserfahrung der Befragten war bei der OB der Hausstandard mit 37–49 % die häufigste Indikation. Lediglich bei den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung wurde das Patientenalter noch häufiger genannt (42 %) als der Hausstandard (39 %). Es gaben 22 % der befragten Ärzte an, nach eigenem Ermessen zu handeln. Deren Freitextbegründungen zu dieser Antwortmöglichkeit waren in 82 % der Fälle konform mit den neuen Fachempfehlungen. Bezüglich der ärztlichen Qualifikation fanden sich sowohl bei den WBA (p = 0,0065) als auch bei den FA (p = 0,084) Assoziationen zwischen zunehmender Berufserfahrung und Empfehlungskonformität der Antwort. Anders als in der OB gaben bei der IB 44 % der Ärzte an, dass es unabhängig von der kardialen Symptomatik sinnvoll erscheint, abhängig vom Patientenalter ein EKG zu fordern. Im Rahmen der Bearbeitung der Fallbeispiele wurde, in Übereinstimmung mit den Fachempfehlungen, die Indikation für ein EKG sowohl in der OB mit 91 % (Fallbeispiel 1) und 89 % (Fallbeispiel 2) als auch in der IB mit 89 % (Fallbeispiel 1) und 97 % (Fallbeispiel 2) annähernd korrekt gestellt.

Thoraxröntgen

Generell wurde gemäß OB die Indikation zum Thoraxröntgen annähernd gleich häufig nach Standard und eigenem Ermessen gestellt. Bei Letzteren war bei 25 % die Indikation im Freitext empfehlungskonform. Eine Assoziation zwischen Berufserfahrung und Empfehlungskonformität fand sich bei den FA (p = 0,02) und nicht bei den WBA (p = 0,76). Bei allen Versorgertypen war der Hausstandard mit 43–48 % die häufigste Indikationsgrundlage. Demgegenüber war bei den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung die eigene Einschätzung mit 41 % der häufigste Grund; hierbei spielte das Patientenalter mit 27 % an den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung eine bedeutendere Rolle als bei den anderen Kliniktypen (p < 0,0001). Ebenso zeigten sich bei der ärztlichen Qualifikation, wenn auch nicht signifikant (p = 0,228), Unterschiede in der Orientierung. So handelten zwar sowohl die FA als auch die WBA in 39 bzw. 40 % der Fälle nach eigenem Ermessen, gleichzeitig griffen aber die FA mit 42 % häufiger auf Standards zurück als WBA mit 35 %. Das Patientenalter spielte bei den FA (15 %) tendenziell seltener eine Rolle als bei den WBA (23 %). In der IB wurde durch 18 % der Ärzte eine Patientenaltersgrenze für die reguläre präoperative Thoraxröntgendiagnostik als klinisch von Nutzen angegeben. Bei der Bearbeitung des Fallbeispiels 1 waren bei der OB 55 % und bei der IB 75 % bezüglich des Thoraxröntgens empfehlungskonform. Im 2. Fallbeispiel befanden sich 77 % bei der OB vs. 67 % bei der IB mit ihrer Indikationsstellung in Übereinstimmung mit den Fachempfehlungen.

Echokardiographie

Gemäß OB wurde die Echokardiographie generell betrachtet und dabei unabhängig von der Berufserfahrung zu etwa 70 % nach eigener Einschätzung indiziert. Von diesen Teilnehmern konnten 39 % ihre Entscheidung konform zu den Fachempfehlungen begründen. Die Indikation zur Echokardiographie erfolgte je nach Kliniktyp zu 51–77 % nach eigenem Ermessen. Eine alternative Orientierung an Standards wurde hierfür eher in den Universitätsklinik angegeben und am wenigsten bei den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung (p < 0,0001). Zum dem Fallbeispiel 1 waren sich in Übereinstimmung mit den Empfehlungen bei der OB 73 % und bei der IB 88 % der Ärzte einig, keine Echokardiographie zu benötigen. Im 2. Fallbeispiel sahen in der OB 87 % der Kollegen diese Diagnostik indiziert, was laut den Fachempfehlungen begründbar ist. Bei der IB waren es 62 %.

Lungenfunktionsdiagnostik

Entsprechend der OB wurde auch die Lungenfunktionsdiagnostik generell und unabhängig von der Berufserfahrung häufiger nach eigenem Ermessen (58–63 %) als nach Standard (35–42 %) angeordnet. Dabei war die von 15 % der Befragten bei der eigenen Einschätzung gegebene Begründung konform mit den Fachempfehlungen. Ein Standard für die Indikation zur Lungenfunktionsdiagnostik fand v. a. in Universitätskliniken und Kliniken der Maximalversorgung (51 bzw. 52 %) Anwendung. Demgegenüber basierte die Indikation zur Lungenfunktionsdiagnostik in Kliniken der Schwerpunktversorgung sowie Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung in 66 bzw. 79 % auf der Einschätzung des Anästhesisten (p < 0,0001). Im 1. bzw. 2. Fallbeispiel wurde in Übereinstimmung mit den Fachempfehlungen zu 96 bzw. 81 % bei der OB und zu 100 bzw. 92 % bei der IB auf eine Lungenfunktionsdiagnostik verzichtet.

Belastungselektrokardiographie

Gemäß OB war generell und auch unabhängig von der Berufserfahrung bei etwa einem Viertel der Teilnehmer der Hausstandard die Grundlage der Indikationsstellung, dagegen basierte bei fast drei Viertel der Teilnehmer die Entscheidung auf der eigenen Einschätzung. Bei Letzteren stimmte die Begründung der eigenen Einschätzung in 34 % der Fälle. Die differenzierte Betrachtung der verschiedenen Kliniktypen zeigte ebenfalls die eigene Einschätzung als häufigste Grundlage der Indikationsstellung bei allen Versorgerarten. Es bestanden jedoch signifikante Unterschiede in den verschiedenen Indikationsstellungen zwischen Kliniktypen. In Verbindung mit dem 1. bzw. 2. Fallbeispiel wurde bei der OB ein Belastungs-EKG in 19 bzw. 45 %, gefordert, bei der IB sahen 7 bzw. 14 % der Anästhesisten dies als indiziert an.

Weiterführende Angaben zu den Fallbeispielen 1 und 2

Die im Rahmen der Bearbeitung der Fallbeispiele über die diagnostischen Verfahren hinaus gewonnenen Daten zur geplanten anästhesiologischen Versorgung der 2 Beispielpatienten beziehen sich nicht auf die Kernthematik dieser Arbeit und sind daher sind für den interessierten Leser im Anhang tabellarisch zusammengefasst (Tab. 7).

Allgemeine Befragung zum Umgang mit der Hausmedikation

Die Ergebnisse bezüglich des Umgangs mit gängigen Hausmedikationen sind der besseren Verständlichkeit halber in Form einer Tabelle dargestellt und als Tab. 8 im Anhang dieser Arbeit beigefügt. Neben der deskriptiven Darstellung bezüglich der Weiterverabreichung verschiedener Medikamentengruppen ist, sofern dort formuliert, die Empfehlung der Fachgesellschaften mitangegeben.

Diskussion

Ziel dieser Studie war zum einen, am Beispiel des Bundeslands Hessen die Kenntnis, die individuelle Akzeptanz und die Umsetzung der interdisziplinären Fachempfehlungen zur präoperativen Evaluation erwachsener Patienten vor nichtkardiochirurgischen Eingriffen unter den angestellten Anästhesisten zu erfassen. Zum anderen sollte dargestellt werden, welche Indikationen für den einzelnen Anästhesisten bei der Durchführung exemplarisch ausgewählter diagnostischer Maßnahmen im Rahmen der präoperativen Risikoevaluation bestehen und inwieweit diese den aktuellen Empfehlungen entsprechen. Der Zeitpunkt der Erhebung war bewusst so gewählt, dass der einzelne Anästhesist einerseits mit den neuen Empfehlungen bereits vertraut sein konnte. Andererseits war eine Umsetzung in schriftlich fixierte klinikeigene „standard operating procedures“ (SOP) zum Studienzeitpunkt nur wenige Monate nach der Publikation in größerem Ausmaß aber noch nicht zu erwarten. Vergleichbar mit der zufällig im selben Zeitraum durchgeführten Untersuchung von Böhmer et al. [2] ist die hier vorgestellte Befragung kurz nach Veröffentlichung der gemeinsamen Empfehlung ebenfalls als Statuserhebung anzusehen, die es zukünftig ermöglichen wird, den Einfluss dieser Empfehlungen auf die tatsächlich gelebte Praxis der präoperativen Evaluation zu quantifizieren.

Kenntnis, Akzeptanz und Umsetzung

Bei Betrachtung der Ergebnisse der vorliegenden Erhebung zeigt sich unter den angestellten Ärzten eine eher geringe effektive Kenntnis der Empfehlung (Tab. 2). Zwar geben insgesamt 84 % der Teilnehmer an, von der Veröffentlichung in irgendeiner Art zu wissen. Jedoch darf nur eine „Vertrautheit“ als wirkliche Kenntnis gewertet werden, da Teilkenntnis oder Wissen um die Veröffentlichung kaum effektiven Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben kann. Diese Art von Vertrautheit wird online nur durch 18 % der WBA und 35 % der FA angegeben; dies macht zusammen 30 % der Teilnehmer aus. Tritt man aus der Anonymität der OB und berücksichtigt die Diskrepanz zu den noch deutlich geringeren summarischen 16 %-Angaben zur Vertrautheit im Interview, kann zum Studienzeitpunkt wohl mit noch deutlich weniger als einem Drittel der Ärzte gerechnet werden, die durch die Aussagen der Fachempfehlungen angeleitet werden. Obwohl sich ca. 10 % mehr WBA im Interviewkollektiv befanden, die ja auch online per se eine geringere Kenntnis angaben, werten die Autoren dieser Studie die Interviewergebnisse als allgemein aussagekräftiger, da der Interviewpartner von inhaltlichen Rückfragen ausgehen muss und somit seine Kenntnis wohl realistischer einschätzt. Böhmer et al. [2] berichten als Ergebnis ihrer bundesweiten Erhebung, dass 92,9 % der Teilnehmer die aktuellen Fachempfehlungen zur präoperativen Evaluation [19] kennen. Unklar ist in diesem Zusammenhang, inwieweit hiermit die bloße Kenntnis der Veröffentlichung oder die Vertrautheit mit den Inhalten gemeint ist. Bezieht sich diese Angabe auf die Kenntnis der Veröffentlichung, decken sich die Ergebnisse von Böhmer et al. mit den Ergebnissen dieser Untersuchung. Ist mit „kennen“ allerdings die Kenntnis (bezogen auf die Inhalte) gemeint, wie es die Formulierung im Methodenteil eher vermuten lässt, zeigen die Ergebnisse dieser Studie eine deutlich niedrigere Kenntnis (Vertrautheit) der teilnehmenden Anästhesisten mit den Fachempfehlungen auf. Zu bedenken ist hierbei, dass gleichermaßen bei dieser Untersuchung, wie zuvor von Böhmer et al. geschildert, durch den freiwilligen Charakter der Untersuchungen eine Selektion der Teilnehmenden vorliegt. Dies lässt vermuten, dass die Kenntnis bei allen in Hessen bzw. in Deutschland tätigen Anästhesisten noch niedriger liegt.

Die Unterschiede der Ergebnisse dieser Arbeit und der Studie von Böhmer et al. [2] hinsichtlich der Kenntnis der Empfehlungen mögen v. a. durch das Studiendesign entstanden sein. Während in dieser Untersuchung alle angestellten Anästhesisten ohne Chefärzte zur Teilnahme gebeten wurden, war die Studie von Böhmer et al. ausschließlich auf die Abteilungsleiter ausgerichtet. Durch diesen komplementären Ansatz sehen die Autoren dieser Studie bereits aus methodischer Sicht die vorliegende Untersuchung als sinnvolle Ergänzung zu der bundesweiten Erhebung.

Die zuvor aufgezeigte Diskrepanz zwischen den Ergebnissen demonstriert einmal mehr die Bedeutung einer Integration der Empfehlungen in hausinterne Standards als eine Möglichkeit, die Umsetzung der Empfehlungen zu steigern. Da jedoch die Abbildung von bestimmten medizinischen Maßnahmen in SOP nicht automatisch bedeutet, dass diese in der täglichen Praxis Anwendung finden [8, 12], bedarf es neben der guten Kenntnis auch einer breiten Akzeptanz unter den klinisch tätigen Anästhesisten. Gemäß den Ergebnissen dieser Erhebung schätzen immerhin 90 % der Teilnehmer in der OB die Empfehlungen mindestens als „überwiegend sinnvoll“ ein, sodass zu vermuten ist, dass Standards auf dem Boden der aktuellen Empfehlungen ein hohes Maß an Umsetzung erfahren könnten. Erfreulicherweise sind laut den Ergebnissen der OB Kenntnis und Umsetzung miteinander assoziiert, und 90 % der Teilnehmer geben hohe Akzeptanzwerte an. Demgegenüber ergibt sich bei der IB eine Diskrepanz zwischen Kenntnis und Umsetzung der Empfehlung.

Wird schlussendlich das Ziel der bundesweiten Erhebung von Böhmer et al., nämlich die Abbildung der Praxis der präoperativen Evaluation kurz nach Veröffentlichung der Empfehlungen als Grundlage späterer Reevaluationen, betrachtet, stellen die Ergebnisse dieser Studie eine wichtige Ergänzung dieser Zielsetzung dar und können in ihrer Gesamtheit späteren Untersuchungen dienlich sein.

Präoperative Evaluation

Aufgrund der nichteinheitlichen Indikationsstellung für die einzelnen, exemplarisch gewählten diagnostischen Verfahren, werden diese im Folgenden separat diskutiert (Tab. 5, Tab. 6).

Elektrokardiographie

Bei der Indikation eines EKG zeigt sich, insgesamt gesehen, ein hohes Maß der Orientierung an Standards. Bezogen auf die Klinikstruktur sind, mit Ausnahme der Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung, bei allen Kliniktypen Standards die häufigste Indikation. Hinsichtlich der Berufserfahrung ist die Orientierung an Standards bei FA mit 46 % die führende Indikation, wohingegen bei WBA Standards (37 %) und Patientenalter (36 %) fast gleich häufig genannt wurden. Auch bei den Ärzten der Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung wird das Kriterium Patientenalter für ein EKG als bedeutend angesehen (häufigste Indikation). Obwohl in den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung der Anteil an FA am höchsten ist [2], lässt sich daraus jedoch kein Zusammenhang zwischen Ausbildungsstand und Indikationsstellung schlussfolgern, wie die zuvor bereits dargelegte stärkere Orientierung der WBA am Alter des Patienten gegenüber den FA darlegt. Auch im Interview zeigte sich, gemäß des noch größeren Einflusses des Patientenalters auf die Indikationsstellung, wie tief verwurzelt dessen Einfluss auf die Einschätzung des Patienten ist, ohne dass bisher diesbezüglich ein signifikanter Nutzen festgestellt werden konnte [11, 16]. Verglichen mit den Ergebnissen dieser Untersuchung berichten Böhmer et al. [2] in ihrer Studie sogar über eine noch höhere Orientierung am Patientenalter für die EKG-Diagnostik. Aufgrund möglichst optimierter Prozessabläufe erfährt das Patientenalter, als Indikation für ein routinemäßig durchgeführtes EKG vor Prämedikation, nach Ansicht der Autoren wohl dennoch eher sogar eine gewisse Renaissance. So erleichtert die „vollständige Aktenlage“ eine zügige und optimierte Prämedikation in den entsprechenden Ambulanzen. Revisiten zur späteren Einsicht in Untersuchungsergebnisse oder eine Wiedervorstellung des Patienten sind häufig umständlicher zu organisieren und mit noch höherem Zeitaufwand verbunden. Des Weiteren ist zu bedenken, dass für das präoperative Routine-EKG zwar bisher keine signifikanten Vorteile bezüglich des Narkoseergebnisses belegt werden konnten [6], dass es aber ebenso Hinweise gibt, dass ein Patientenalter ab 65 Jahren einen Risikofaktor für schwerwiegende EKG-Veränderungen mit Auswirkungen auf das anästhesiologische Management darstellt [5]. Die Fragestellung, inwieweit präoperative pathologische EKG-Veränderungen im Zusammenhang mit dem Auftreten einer erhöhten postoperativen kardialen Morbidität stehen, kann entsprechend der nichteindeutigen Datenlage derzeit nicht beantwortet werden [2, 5, 9, 11, 13, 14, 15].

Thoraxröntgen

Insgesamt betrachtet sind für das Thoraxröntgen wie auch für das EKG Standards (40 %) die Hauptindikationen. Die eigene Einschätzung wird fast gleich häufig (39 %) als Grund angegeben. Ähnliche Ergebnisse ergeben sich auch bei differenzierter Betrachtung des Ausbildungsstands und der Krankenhausstruktur. Ebenfalls ähnlich wie beim EKG wichen die Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung insofern von den anderen Versorgertypen ab, als dass ein Thoraxröntgen am häufigsten nach eigener Einschätzung (41 %) angefordert wird, gefolgt von „nach Standard“ (28 %) und „nach Alter“ (27 %). Abgesehen von den Kliniken der Grund- bzw. Regelversorgung war das Patientenalter aber insgesamt (18 % sowohl bei OB und IB) nicht derart ausschlaggebend wie beim EKG (32 %) oder wie bei Böhmer et al. [2] mit 30 % beschrieben. Vor dem Hintergrund der bereits von Böhmer et al. [2] ausführlich dargelegten Problematik bezüglich der Indikation zur Anfertigung einer Thoraxröntgenaufnahme aufgrund des Patientenalters (u. a. geringe Sensitivität des Thoraxröntgens zur Detektion einer kardiopulmonalen Erkrankung [20], eher seltene Konsequenzen pathologischer Thoraxröntgenbefunde auf die Behandlung des Patienten [1], fehlende Evidenz eines Zusammenhangs zwischen Anfertigung einer Thoraxröntgenaufnahme und Verbesserung des perioperativen Ergebnisses [21]) und der daraus resultierenden geringen klinischen Bedeutung für das anästhesiologische Vorgehen bei gleichzeitig bestehendem Schädigungspotenzial, sind selbst diese 18 % als kritisch zu sehen. Erst bei einer klinisch fassbaren thorakalen Organerkrankung mit Konsequenzen für das perioperative Vorgehen gewinnt dieses Verfahren an Bedeutung [3], was auch in den Fachempfehlungen [19] so abgebildet wird.

Echokardiographie, Lungenfunktion und Belastungselektrokardiographie

Echokardiographie, Lungenfunktion und Belastungs-EKG werden, insgesamt betrachtet, überwiegend (67, 61 und 70 %) auf der Basis eigener Einschätzung verordnet. Anders als beim EKG und beim Thoraxröntgen spielt das Patientenalter als Indikation für diese Untersuchungen sowohl insgesamt als auch bezogen auf den Ausbildungsstand und hinsichtlich des Krankenhaustyps keine Rolle. Werden die im Freitext angegebenen Begründungen zu der eigenen Einschätzung betrachtet, sind die Resultate eher ernüchternd. Die Rate an empfehlungskonformen Begründungen liegt je nach Diagnostikverfahren nur bei 15–39 %. Die Berufserfahrung (FA vs. WBA) spielt hierbei, wie auch beim EKG und beim Thoraxröntgen, keine wesentliche Rolle, da bei keiner Untersuchung die im Freitext gegebenen Antworten ein unterschiedliches Ausmaß der Konformität zwischen Begründung der eigenen Einschätzung und Fachempfehlungen aufwiesen. Inwieweit jene Kollegen, die nach hausinternem Standard die Indikationen für die einzelnen Untersuchungen gestellt haben, in Übereinstimmung mit den Fachempfehlungen gehandelt haben, ist unklar, da die Inhalte der hausinternen Standards nicht abgefragt wurden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die in dieser Studie eindrücklich dargestellte Bedeutung von Hausstandards als Orientierungsmaßstab hinsichtlich der Indikationsstellung für präoperativ durchzuführende Maßnahmen im Zusammenhang mit den in dieser Untersuchung gefundenen individuellen Kenntnissen der Fachempfehlung den Schluss erlauben, dass Abteilungsleitern und Ärzten in Führungspositionen empfohlen werden kann, neben dem Hinweis auf derartige Fachempfehlungen diese in die eigenen SOP zu integrieren. Diese Erkenntnis wird durch die Studie von Böhmer et al. [2] bestätigt. Laut deren Studie werden derzeit in einem Viertel der befragten Kliniken SOP erstellt.

Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Studie, die das Thema der präoperativen Diagnostik auf europäischer Ebene untersuchte, geben nur wenig Einblick in die Praxis außerhalb von Deutschland [17]. Von den 354 ausgewerteten Fragebogen stammten 214 (60 %) aus Deutschland, während die anderen 140 Fragebogen sich auf Krankenhäuser 17 anderer europäischer Länder verteilen. Aufgrund des offensichtlich nichtrepräsentativen Charakters dieser Studie verzichten die Autoren auf einen Vergleich der Ergebnisse der vorliegenden Studie mit jenen der Untersuchung von van Gelder et al. [17].

Fallbeispiele

Durch Integration von Fallbeispielen in die Studie wird die kombinierte Untersuchung der theoretischen Kenntnisse der Fachempfehlungen mit der individuellen, täglich umgesetzten praktischen Vorgehensweise ermöglicht. Unter Berücksichtigung der interdisziplinären Fachempfehlungen wurde für das 1. Fallbeispiel nur die Indikation eines EKG als empfehlungskonform festgelegt, während im 2. Fallbeispiel Thoraxröntgen, Echokardiographie und Belastungs-EKG grundsätzlich als gerechtfertigt eingestuft wurden.

In der Zusammenfassung der Ergebnisse kann festgestellt werden, dass bei den Fallbeispielen die Indikationsstellung einer kardialen Diagnostik überwiegend so erfolgte, wie sie auch unter der Berücksichtigung der Fachempfehlungen indiziert wäre. Ob die der Indikation zugrunde liegende Entscheidung aber konform zu der veröffentlichten Empfehlung war, kann aufgrund der zuvor erhobenen Daten zu Indikation und Kenntnissen nicht mit Sicherheit gesagt werden.

Einzig beim Thoraxröntgen scheint die bisherige Praxis grundsätzlich fraglich und eine schärfere Indikationsstellung wünschenswert. Hier vermuten die Autoren, neben altbedingten Abläufen, auch Ursachen in der weiten Verbreitung der technischen Anlagen, der einfachen Durchführung und ggf. einem Mangel an strukturbedingten diagnostischen Alternativen. Derartig unabhängige, selbstregulierende Einflüsse durch nur begrenzt vorhandene Ressourcen lassen sich auch bei differenzierter Betrachtung des Versorgerstatus gerade für die Echokardiographie und die Lungenfunktionstestung vermuten.

Hausmedikation

Die Frage nach der perioperativen Fortführung oder dem Absetzen der Dauermedikation des Patienten ist wegen unzureichender Evidenz für viele Medikamente bzw. Medikamentengruppen als ungeklärt zu werten. Demgegenüber gibt es zu einigen Medikamentengruppen wie β-Rezeptoren-Blocker, Thrombozytenaggregationshemmer, Statine und Antiepileptika eine klare Datenlage mit entsprechenden interdisziplinären Handlungsanweisungen. Dennoch wird in der vorliegenden Studie eine allgemeine Unsicherheit deutlich, u. a. sichtbar bei der doch grundsätzlich gut begründeten Fortführung der Gabe von Acetylsalicylsäure (ASS, 100 mg) zur Thromboseprophylaxe und zur Verbesserung der rheologischen Eigenschaften des Bluts. Trotz des nachweislich um 90-fach gesteigerten Risikos einer Stent-Thrombose bei vorzeitiger Unterbrechung der Thrombozytenaggregationshemmung [10] stimmten nur 45 % der Teilnehmer in der OB dafür, ASS am Operationstag weiterzugeben, und 32 % würden es sogar länger als 48 h zuvor absetzen. Betrachtet man die Aussagen in der IB, führten hier jeweils 75 % der Teilnehmer die Medikation mit ASS fort. Unsicherheiten zeigten sich diesbezüglich v. a. im Rahmen der IB bei den WBA (p = 0,0254). Vergleichbare Ergebnisse liegen für die Statine vor, die trotz guter Datenlage zur perioperativen Weiterverordnung am Operationstag [4, 19] von 40 % der Kollegen abgesetzt werden. Eine ähnliche Unsicherheit wird auch für die Mehrzahl der in der Befragung angesprochenen Medikamente [Angiotensinkonversionsenzym(ACE)-Hemmer, orale Antidiabetika, Kalziumantagonisten] sichtbar und spiegelt die nichteindeutigen Aussagen zu diesen Medikamenten in den Empfehlungen bei nichtvorliegender Evidenz wider. Allerdings wird in den jüngsten Fachempfehlungen der perioperative Umgang mit einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus gar nicht angesprochen. Die Empfehlungen erwähnen lediglich das Vorgehen beim nichtinsulinpflichtigen Diabetes mellitus. Am Beispiel dieser weitverbreiteten Erkrankung macht die vorliegende Studie deutlich, wie unterschiedlich der Umgang mit einer Insulindauertherapie ist (Tab. 9 im Anhang). Dabei geht es nicht um kleinere Unterschiede bezogen auf die Form und Dosierung der Insulintherapie, sondern um völlig different praktizierte perioperative Therapiekonzepte. Diese reichen von der Eigentherapie des Patienten über feste und starre Insulinschemata bis zur Überlassung der Verantwortung an die operativen Disziplinen. An dieser Stelle wäre es begrüßenswert, wenn die Fachgesellschaften einheitliche Empfehlungen zur präoperativen Insulintherapie bei Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus entwickeln würden.

Limitationen

Die Studie weist mehrere Limitationen auf, die bei der Bewertung der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Dies betrifft zunächst das gewählte Studienkollektiv (an Kliniken angestellte Anästhesisten). Die „künstliche Trennung“ in angestellte vs. nichtangestellte Anästhesisten beruht v. a. auf methodischen Gründen. Vor dem Hintergrund, dass es zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Datenbank gab, in der alle in der Anästhesie tätigen Ärzte (d. h. nicht nur FA, sondern auch WBA) aufgeführt sind, erschien die hier gewählte Vorgehensweise vorteilhaft, da so zumindest über die leitenden Ärzte jeder Abteilung eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme gegeben war. Nichtsdestotrotz stellte sich im Laufe der Untersuchung selbst diese bei Planung der Studie klare Trennung aufgrund der sehr vielfältigen medizinischen Einrichtungen, in denen operative Eingriffe seitens der Anästhesie betreut werden, als nicht so klar heraus. In Relation zur Gesamtzahl der erfassten Teilnehmer kann die Anzahl der dadurch möglicherweise nichtkontaktierten Anästhesisten aber als gering eingeschätzt werden. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es trotz der mehrgleisigen und mehrstufigen Ermittlung (Kontakt über Chefärzte, direkte Anschreiben über E-Mail-Adressen der Homepage der Klinik, direkte Anschreiben von DGAI- und BDA-Mitgliedern, persönlicher Besuch in der Klinik) von an hessischen Kliniken angestellten Anästhesisten sein kann, dass nicht sämtliche dieser Anästhesisten erreicht wurden. Diese Mängel schränken die Repräsentativität dieser Erhebung ein. Eine weitere Limitation dieser Erhebung resultiert aus der Tatsache, dass durch den anonymen Charakter der OB nicht genau zu bestimmen ist, wie groß der Anteil der Befragten aus der eigenen Klinik ist. Eine grobe Abschätzung der Anzahl der Teilnehmer aus dem eigenen Klinikum ist allerdings über die von den Teilnehmern angegebene Postleitzahl der Klinik möglich. Dementsprechend stammten ca. 10 % der Teilnehmer der OB aus der Universitätsklinik Marburg. Bei der IB waren dies sogar 21 %. Dieser überproportional starke Anteil an Befragten aus der eigenen Klinik (im Vergleich dazu: es stammen 6,6 % der identifizierten, an einer Klinik angestellten Anästhesisten von der Universitätsklinik Marburg) v. a. bei der IB und weniger bei der OB schränkt die Repräsentativität dieser Erhebung aufgrund eines möglicherweise resultierenden leichten Zentrumseffekts ebenfalls ein. Des Weiteren ist zu beachten, dass der Anteil der WBA im Vergleich zu den FA bei der IB um 10 % höher lag als bei der OB. Dies kann einen etwas verzerrenden Einfluss auf die Vergleichbarkeit der Gesamtdaten haben. Eine weitere Limitation ist, dass eine mögliche Übereinstimmung zwischen den existierenden Hausstandards mit den aktuellen Empfehlungen nicht überprüft wurde. Daher kann die Konformität zwischen der Indikationsstellung zu den einzelnen diagnostischen Maßnahmen seitens der Teilnehmer und den Fachempfehlungen nicht vollständig untersucht werden. Eine diesbezügliche Aussage konnte nur für die Angaben zur Antwortoption „eigene Einschätzung“ vorgenommen werden. Die wichtigste Limitation der Erhebung ist allerdings, dass 29 % der Anästhesisten, die im Rahmen dieser Untersuchung als „an hessischen Kliniken angestellt“ identifiziert wurden, an der Studie teilnahmen. Die Beteiligungsrate von 29 % liegt somit unter der von Böhmer et al. [2] in ihrer Studie berichteten Teilnahmequote (35,6 %). Dies ist insofern von Bedeutung, als davon ausgegangen werden kann, dass Kenntnis und Akzeptanz der Fachempfehlungen zum Umfragezeitpunkt wahrscheinlich noch niedriger lagen, als die Ergebnisse bescheinigen, da an einer derartig freiwilligen Befragung erfahrungsgemäß primär engagierte und interessierte Ärzte teilnehmen. Dies bedeutet, dass die Ergebnisse einer freiwilligen Befragung sich wahrscheinlich umso mehr von den tatsächlichen Gegebenheiten entfernen, je geringer die Teilnahmerate ist. Hierbei ist von Bedeutung, dass diese Studie nur den initialen Effekt kurz nach Publikation der Empfehlungen aufzeigt. Nach wiederholter Verbreitung der Empfehlungsinhalte auf verschiedenen Kommunikationswegen kann im Verlauf sicher von einem höheren Kenntnisstand der Inhalte ausgegangen werden. Eine derartige Kontrolle wäre im weiteren Verlauf zu wünschen. Aus Sicht der Autoren haben allerdings alle zuvor genannten Limitationen keinen nennenswerten Einfluss auf die nachfolgend in den Abschn. „Schlussfolgerungen“ und „Fazit für die Praxis“ gemachten Aussagen.

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die in einer Abteilung nachgeordneten Ärzte wesentlich schlechter mit den Fachempfehlungen vertraut sind als die Abteilungsleiter. Letztlich bestätigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie die Notwendigkeit und die Bedeutung von Fachempfehlungen, sofern sie in hausspezifische SOP integriert werden. Geschieht dies, ist eine höhere Patientenzufriedenheit durch kürzere Prozessabläufe bei einer gleichzeitig verbesserten Patientensicherheit vorstellbar.

Fazit für die Praxis

  • Die interdisziplinären Empfehlungen zur präoperativen Evaluation erwachsener Patienten vor elektiven, nichtkardiochirurgischen Eingriffen mögen den in Leitungsfunktion stehenden Ärzten überwiegend bekannt sein, wohl aber nicht der ärztlichen Basis.

  • Bei der Indikationsstellung bestimmter diagnostischer Verfahren bestehen z. T. signifikante Unterschiede in Abhängigkeit vom Versorgungtyp des Krankenhauses.

  • Das Patientenalter spielt, trotz fehlender Datenlage, immer noch eine bedeutende Rolle bei der Indikation von EKG und Thoraxröntgen. Hier sollte v. a. bezüglich des potenziell schädlichen Thoraxröntgens ein Umdenken erfolgen.

  • Aufgrund des hohen Stellenwerts hausinterner Standards bei der Indikationsstellung diagnostischer Maßnahmen erscheint die Integration der jüngsten Empfehlungen in hausspezifische Standards in Form von SOP als essenziell, um eine flächendeckende Umsetzung zu fördern.