Allgemeine Bemerkungen

Am 10.01.2008 wurde die VISEP-Studie nach einem langen und strengen „Review“-Prozess im New England Journal of Medicine veröffentlicht [1]. Viele der Fragen, die in dem Artikel von Zander et al. aufgeworfen wurden, sind durch diese Publikation beantwortet. Die Veröffentlichung einer „kritischen Stellungnahme“ zum Protokoll der VISEP-Studie vor Veröffentlichung der Studie ist unter mehreren Gesichtspunkten außergewöhnlich und nach unserer Kenntnis auch international einmalig. Außergewöhnlich und erklärungsbedürftig ist auch, dass die Kommentare der Marketing-Leiter der führenden deutschen HES-Hersteller im Zusammenhang mit der Stellungnahme von Zander et al. publiziert wurden, während der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Studiengruppe von den Herausgebern des Anaesthesisten nicht die Möglichkeit zu einer Entgegnung in der gleichen Ausgabe eingeräumt wurde. Versuche der Autoren, die federführende Ethikkommission und das BMBF, den Projektträger des Kompetenznetzwerk Sepsis (SepNet), zu einer Stellungnahme zur VISEP-Studie zu bewegen, bevor diese durch einen externen „Peer review“ internationaler Experten bewertet und veröffentlicht wurde, müssen leider ebenfalls als einmaliger Vorgang in der deutschen und der internationalen Wissenschaftslandschaft bezeichnet werden und werfen daher Fragen zur eigentlichen Motivation der Autoren auf.

Obwohl sich die Stellungnahme von Zander et al. damit weit außerhalb des Rahmens eines wissenschaftlichen Diskurses bewegt, veranlasst uns die damit hergestellte Öffentlichkeit, im Folgenden auch zu einzelnen „Kritikpunkten“ des VISEP-Studienprotokolls Punkt für Punkt Stellung zu beziehen. Die von Zander et al. kolportierten und missverstandenen „Studienergebnisse“ sind der Veröffentlichung korrekt zu entnehmen.

Kommentare

„… folgenschwere Empfehlungen“

Zander et al. begründen ihren vorschnellen Schritt wie folgt:

„Weil seit Februar 2006 … von Organisatoren sowie Teilnehmern vorschnelle und folgenschwere Empfehlungen ausgesprochen und veröffentlicht werden …“ (S. 76).

– Welche Folgen sind hier gemeint?

Folgen für unsere Patienten können nicht gemeint sein, denn bislang belegt keine einzige klinische Studie, dass der Einsatz von HES-Lösungen im Vergleich zu anderen Volumenersatzmitteln zu einer Verringerung der Morbidität oder gar der Mortalität von Patienten führt. Selbst durch einen kompletten Verzicht auf HES-Lösungen im OP-Saal oder auf der Intensivstation ist nicht davon auszugehen, dass hierdurch Patienten zu Schaden kommen. Dagegen gibt es aber eine ganze Reihe von Studien, die negative Effekte von HES auf das Gerinnungssystem [2, 3], die Nierenfunktion [4, 5] bis hin zum Multiorganversagen infolge von HES-Speicherung im retikuloendothelialen System (RES; [6, 7]) belegen.

Unserer Meinung nach sollten im Umgang mit Studienergebnissen Überlegungen um die Patientensicherheit im Vordergrund stehen. Es liegt in jedem Fall in der Verantwortung des einzelnen Arztes, Ergebnisse wissenschaftlicher Studien im Kontext von Gesamtliteratur und Leitlinien für das Wohl seiner Patienten umzusetzen.

Studiendesign (S. 71)

„Als primärer Endpunkt der Studie wird das Überleben (Verbesserung um 10%, also bei 600 Patienten, je 150/Studienarm, maximal 60 Patienten) angegeben“.

Diese Aussage ist falsch und zeigt, dass die Autoren das Studiendesign offenbar nicht verstanden haben. Der primäre Endpunkt der Studie war die 28-Tage-Mortalität. Ausgehend von der Hypothese, dass die Volumentherapie mit Hemohes 10% im Vergleich zu Sterofundin zu einer Senkung der Mortalität führen würde, wurde die Fallzahl der Studie so geplant, dass zwischen den beiden Therapieansätzen ein Unterschied in der 28-Tage-Mortalität von 10% (Reduktion von 40% in der Referenzbehandlung auf 30%) mit einer „power“ von 80% und einer globalen Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% statistisch signifikant nachgewiesen werden konnte. Dies erforderte den Einschluss von insgesamt 1134 auswertbaren Patienten in die Studie (d. h. 567 Patienten/Therapieansatz bzw. 284 Patienten/Studienarm). Durch den Einsatz des gewählten adaptiven Studiendesigns wurde der Möglichkeit Rechnung getragen, dass dieser Maximalrahmen nicht erforderlich sein würde, um vorzeitig in einer Interimanalyse schlüssige Antworten auf die Studienfragen geben zu können (Abbruch wegen Überlegenheit oder Nichtunterschiedlichkeit).

Der VISEP-Studie lag ein 2×2-faktorielles (bifaktorielles) Studiendesign zugrunde, das in den letzten Jahren zunehmend in Interventionsstudien etwa des US-amerikanischen „Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS) Network“ oder der „Canadian Critical Care Trials Group“ verwendet wurde [8, 9]. Ein 2×2-faktorielles Studiendesign impliziert, dass man unter der Unabhängigkeitsannahme 2 Behandlungsansätze mit je 2 Therapieoptionen in allen 4 Kombinationen prüft. Dies gestattet es dann, in der Auswertung lediglich 2 Vergleiche zu prüfen. Damit wird bewusst auf einen paarweisen Vergleich ausgewählter Therapiearme verzichtet. Das faktorielle Design liefert folglich keine Aussage zur Über- oder Unterlegenheit eines einzelnen Arms, sondern lediglich zur Über- oder Unterlegenheit der jeweiligen Therapieansätze (Tab. 1).

Tab. 1 Faktorielles Design der VISEP-Studie

Endpunkte (S. 72)

„… also 8 therapiebedingte Todesfälle infolge einer intensivierten Insulintherapie.“

„… also 19 therapiebedingte Todesfälle infolge einer Kolloid- statt Kristalloidtherapie.“

„….also 26 therapiebedingte Todesfälle infolge Protokollverletzung im Sinne einer HES-Überdosierung.“

Diese Schlussfolgerungen sind unrichtig. Die Autoren berechnen aus den Mortalitätsraten Patientenzahlen und verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff „therapiebedingte Todesfälle“. Dieses ist strikt zurückzuweisen, da hier ein kausaler Zusammenhang mit der Intervention, also ein „serious adverse event“, direkt unterstellt wird. Die Autoren offenbaren hier eine befremdlich geringe Kenntnis, was die Interpretation von Ergebnissen klinischer Studien betrifft.

Analyse des Studienprotokolls; Volumentherapie (S. 72)

„Eine Volumentherapie mit ausschließlich Kristalloiden oder Kolloiden ist wissenschaftlich nicht belegt oder zu begründen, entspricht nur im Einzelfall der klinischen Praxis und kann anhand einiger willkürlich ausgewählter Zitate als nichtakzeptabel eingestuft werden …“

Diese Aussage ist unrichtig. Die Wahl der Volumentherapie der VISEP-Studie war a priori im Protokoll festgelegt (Protokoll vom 22.07.2002) und lautete wie folgt:

1. Volumentherapie mit kristalloiden Lösungen

Das verwendete Produkt ist eine Vollelektrolytlösung (Sterofundin®, B.Braun AG, Melsungen). Der Volumenersatz wird in diesem Studienarm ausschließlich mit dieser Substanz durchgeführt. Die Vorgaben für die Art des Volumenersatzmittels gelten für den gesamten Beobachtungszeitraum von 21 Tagen nach Einschluss des Patienten.

2. Volumentherapie mit kolloidalen Lösungen

Das verwendete HES-Produkt ist 10%ige Hydroxyäthylstärke (Hemohes® 10%, B.Braun AG, Melsungen). Der Volumenersatz wird in diesem Studienarm bis zum Erreichen der Tageshöchstmenge von 20 ml/kgKG ausschließlich mit Hemohes® 10% durchgeführt. Wenn diese Menge ausgeschöpft ist, werden zur weiteren Volumentherapie Elektrolytlösungen der Kristalloidgruppe (Sterofundin®) verabreicht. Darüber hinaus kann die Deckung des Flüssigkeitsbasisbedarfs oder ein Flüssigkeitsersatz (z. B. bei ausgeprägtem gastralen Reflux, Diarrhoe, Perspiratio) jederzeit mit Sterofundin® vorgenommen werden. Die Vorgaben für die Art des Volumenersatzmittels gelten für den gesamten Beobachtungszeitraums von 21 Tagen nach Einschluss des Patienten.“

Daher erhielten die Patienten in der HES-Gruppe im Studienverlauf im Verhältnis zu Hemohes 10% auch das ca. Fünffache an Volumenzufuhr in Form von anderen kristalloiden Flüssigkeiten. Der direkte Vergleich von kolloidalen mit kristalloiden Lösungen zum Volumenersatz ist nicht außergewöhnlich, sondern war Gegenstand der weltweit bisher größten Vergleichsstudie zu dieser Fragestellung, der „Saline-versus-Albumin-Fluid-Evaluation-“ (SAFE-)Studie, bei der eine 4%ige Albumin- mit einer 0,9%igen NaCl-Lösung bei 7000 Patienten verglichen wurde. Über die Studiendauer von 28 Tagen erhielten 3497 Patienten zur Volumentherapie ausschließlich 4%ige Albumin- und 3500 Patienten ausschließlich 0,9%ige NaCl-Lösungen [10]. Die Einzelheiten der diesbezüglichen Volumentherapie sind unter [11] nachzulesen.

Analyse des Studienprotokolls; Volumentherapie (S. 72)

„Die Volumentherapie entlang hämodynamischer Zielvorgaben, wie (u. a.) zentraler Venendruck >8 mmHg durchzuführen, ist ungewöhnlich, wenn für einen supranormalen Wert für den zentralen Venendruck (ZVD; normal 1–8 mmHg in Atemruhelage, d. h. ohne Beatmung) keine obere Limitierung angegeben wird (vgl. hierzu ZVD-Zielwerte …).“

Diese Behauptung ist unrichtig. Diese hämodynamischen Zielvorgaben sind keinesfalls „ungewöhnlich“, sondern wurden u. a. in der Studie von Rivers et al. [12] in gleicher Weise verwendet.

Folgende hämodynamische Zielkriterien wurden im VISEP-Protokoll analog des Rivers-Protokolls bei allen Patienten angestrebt:

  • zentraler Venendruck (ZVD) ≥8 mmHg,

  • mittlerer arterieller Blutdruck (MAP) ≥70 mmHg und

  • zentralvenöse O2-Sättigung (ScvO2) ≥70%.

Die Volumensubstitution auf einen ZVD ≥8 mmHg hatte absoluten Vorrang, wobei die Wahl des Volumenersatzes durch den zugeteilten Therapiearm festgelegt war. Lagen die anderen beiden Zielparameter auch nach Volumengabe bei einem ZVD ≥8 mmHg nicht im angestrebten Bereich, war es dem behandelnden Arzt überlassen, auf welche Weise (z. B. weitere Volumengabe mit dem jeweils zugeteilten Volumenersatzmittel, Katecholamintherapie) die erstrebten Zielparameter erreicht wurden. Die Art der jeweiligen Therapieentscheidung musste dokumentiert werden.

Ein „oberer ZVD-Zielwert“ dürfte nur in der Broschüre von Herrn Zander (Flüssigkeitstherapie, 2006, Bibliomed, Melsungen; Referenz 14) existieren, jedoch nicht in der internationalen intensivmedizinischen Literatur [13].

Analyse des Studienprotokolls; Volumentherapie (S. 72)

„Da die Maximaldosis (Herstellerangabe) für Sterofundin auf 40 ml/kgKG/Tag begrenzt ist, also für den gleichen Patienten maximal 3,0 l/Tag, ist eine effektive Volumentherapie in diesen beiden kristalloiden Studienarmen nicht durchführbar (nur 600 ml verbleiben intravasal), es sei denn eine Hypovolämie würde akzeptiert oder die Maximaldosis erheblich überschritten.“

Dieses ist unrichtig. In der VISEP-Studie lag nur ein „kristalloider Studienarm“ vor (s. oben).

Die maximale Tagesdosis der Prüfsubstanz „Sterofundin“ ist nach Fachinformation (B.Braun AG, Melsungen, Oktober 2001) mit 40 ml/kgKG/Tag angegeben. Derartige Beschränkungen für kristalloide Lösungen finden sich auch in den Fachinformationen für andere nichtlaktathaltige kristalloide Lösungen. Diese orientieren sich jedoch formal am Basisflüssigkeitsbedarf von Gesunden, der bekanntlich bei 30 ml/kgKG/Tag liegt. Zumindest die Intensivmediziner und Anästhesisten unter den Autoren dürften wissen, dass die Einhaltung dieser Grenzen eine adäquate Kreislauftherapie kritisch kranker Patienten unmöglich machen würde. Verständlicherweise werden jedoch in der klinischen intensivmedizinischen Praxis sowie auch in internationalen Studien weit höhere Dosierungen verabreicht [12, 14].

Es verwundert deshalb nicht, dass auch Herr Boldt, einer der Autoren, in einer Studie bei herzchirurgischen Patienten >70 Jahre im Mittel 4,910±520 ml einer nicht näher spezifizierten Ringer-Laktat-Lösung am ersten postoperativen und 7,050±850 ml bis zum zweiten postoperativen Tag zusätzlich zu HES 130/0,4 verwendete [15].

Analyse des Studienprotokolls; kolloidale Lösung (S. 74)

„Das im Studienprotokoll genannte Ausschlusskriterium Serumkreatininwert >3,6 mg/dl bzw. >320 µmol/l wurde damit gegenüber den Herstellerangaben um 80% erhöht, also fast verdoppelt, auch in Relation zur Schortgen-Studie … mit der höchsten Kreatininkonzentration von 225 µmol/l ein kaum zu rechtfertigendes Ausschlusskriterium.“

1. Diese Aussage ist unzutreffend. Die Herstellerangaben zu Hemohes® enthalten keine „Ausschlusskriterien“, gemeint sind offensichtlich die „Gegenanzeigen“. Dort heißt es: „Störungen der Nierenfunktion mit Oligo- und Anurie.“ Ein Kreatiningrenzwert ist jedoch nicht genannt. Die 24-h-Diurese betrug in beiden Studienarmen der VISEP-Gruppe deutlich >500 ml/24 h (zwischen 2500 ml/24 h und 3500 ml/24 h am Tag 1 nach Studieneinschluss). Interessanterweise sind die Kreatininwerte bei Studieneinschluss in die VISEP-Studie mit im Mittel 150 µmol/l (1,6 mg/dl) nahezu identisch mit den Ausgangskreatininwerten in einer Studie von Boldt et al., bei der eine 20%ige Humanalbumin- mit einer 10%igen HES-Lösung verglichen wurde [16].

2. In der VISEP-Studie wurde für das Ausschlusskriterium Niereninsuffizienz die gleiche Definition wie in der Studie von Schortgen et al. verwendet: „renal dysfunction (previously known creatinine concentration ≥320 µmol/l or a need for dialysis)“ [4].

3. Die Behauptung, dass Patienten mit „gegenüber den Herstellerangaben um 80%“ erhöhten Kreatininwerten in die Studie eingeschlossen wurden, ist deshalb falsch.

4. Einer der Mitautoren der vorliegenden Publikation, Herr Boldt, setzt den Kreatiningrenzwert für die Verwendung von HES-Lösungen sogar höher an: „It has been established as general practice to use HES in patients with plasma creatinine level >3.0 mg/dl very cautiously and to favor use of other colloids (e.g. gelatin) or crystalloids in these patients“ [17]. Wir stimmen der Meinung des Mitautors J. Boldt zu, der in einem Review aus dem Jahr 2004 in der Wiener Medizinischen Wochenschrift äußerte: „Trotzdem bleibt die Gabe von HES bei Patienten mit (deutlich) eingeschränkter Nierenfunktion kontraindiziert (Empfehlungen der Hersteller). Unklar ist dabei immer noch, welche Grenzwerte hierfür zu Grunde gelegt werden sollten. So ist ein kritischer Kreatinin-Grenzwert bisher durch keine Studie eindeutig belegt. Ein Verzicht auf HES ab einem Kreatinin von 2 mg/dl ist ein weit verbreiteter empirischer Richtwert. Es hat sich jedoch gezeigt, dass moderate Mengen moderner HES-Lösungen (HES 200/0,5) auch bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion (medianer Kreatininwert >2 mg/dl) ohne negativen Einfluss auf die Nierenfunktion waren … Die Entwicklung der jüngsten HES-Generation (HES 130/0,4) scheint auch in Bezug auf den Einsatz beim Niereninsuffizienten vielversprechend. So fand sich nach Gabe von 500 ml HES 130/0,4 bei Patienten mit mittel- bis schwergradiger Einschränkung der Nierenfunktion keine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion (unveränderte Creatinin-Clearance …). Weitere Untersuchungen hierzu stehen jedoch noch aus“ [18].

Herr Boldt hat völlig recht. Bisher konnte mit keiner Studie belegt werden, dass der Einsatz von HES bei Patienten mit erhöhten Kreatininwerten schädlicher ist als bei Patienten mit normaler Nierenfunktion. Es liegen im Gegenteil einige Fallberichte vor, die belegen, dass selbst 500 ml HES im Einzelfall bei Nierengesunden zum Nierenversagen führen können [19, 20].

Analyse des Studienprotokolls; kolloidale Lösung (S. 74)

„Das eingesetzte Präparat besitzt mit 154 mmol/l eine zu hohe Chloridkonzentration (physiologisch 103 mmol/l). Eine Hyperchlorämie verursacht im Tierversuch folgende Effekte [14]: …“

Es ist richtig, dass die meisten HES-Präparate, einschließlich der „modernen“, hohe Chloridkonzentrationen aufweisen. Ob dies jedoch beim Patienten zur Hyperchlorämie führt, ist derzeit unzureichend untersucht. Wir können deshalb nicht ausschließen, dass der hohe Chloridanteil in HES-Lösungen partiell für die durch HES verursachten Nierenfunktionsstörungen mitverantwortlich ist.

Sowie S. 74, „Analyse des Studienprotokolls; Volumentherapie; kolloidale Lösung“:

„Die alleinige Gabe hyperonkotischer, hyperchlorämischer Lösungen (HES) muss also zwangsläufig eine extravaskuläre Hypohydratation mit zweifach konsekutiver Reduktion der Nierenausscheidung verursachen; dies kann in Kombination mit HES fatal sein.“

Die Prüfmedikation Hemohes 10% wurde nicht alleinig verabreicht (s. oben), sondern in Kombination mit kristalloiden Volumenersatzlösungen und zusätzlich zum täglichen Basisflüssigkeitsbedarf und ggf. zusätzlich zum Ersatz von anderweitigen Flüssigkeitsverlusten mit kristalloiden Lösungen.

Analyse des Studienprotokolls; kristalloide Lösung (S. 74)

„Bei der eingesetzten Lösung handelt es sich um Sterofundin mit einer Laktatkonzentration von 45 mmol/l und nicht um Ringer-Laktat-Lösung mit 27 mmol/l Laktat [5].“

Gegenteiliges wird in der genannten Referenz 5 auch nicht behauptet.

Analyse des Studienprotokolls; kristalloide Lösung (S. 74)

„Folgende Argumente sprechen gegen einen Einsatz laktathaltiger Lösung beim Sepsispatienten (ausführliche Darstellung bei [14]): … Es ist kontraindiziert, den O 2 -Verbrauch des Patienten im septischen Schock bei bereits bestehender Gewebehypoxie durch eine Laktatinfusion zu steigern.“

Diese „Kontraindikation“ ist lediglich der Broschüre des Erstautors zu entnehmen (Flüssigkeitstherapie, 2006, Bibliomed, Melsungen; Referenz 14). Eine Steigerung des Sauerstoffbedarfs durch Infusion von laktathaltigen Lösungen ist wissenschaftlich nicht belegt.

Analyse des Studienprotokolls; kristalloide Lösung (S. 74)

„Die Laktatdiagnostik (Hypoxiemarker) wird verhindert.“

Diese Meinung ist wiederum lediglich der Broschüre des Erstautors zu entnehmen (Flüssigkeitstherapie, 2006, Bibliomed, Melsungen; Referenz 14), ist jedoch weder anderweitig beschrieben noch international publiziert. Die Interpretation der Laktatkonzentration im Serum als „Hypoxiemarker“ ist bei Patienten mit schwerer Sepsis ohnehin aus anderen Gründen eingeschränkt, da trotz normaler Lakatkonzentration ein fortgeschrittenes Versagen der Mikrozirkulation vorliegen kann [21, 22].

Analyse des Studienprotokolls; kristalloide Lösung (S. 74)

„Zugeführtes Laktat kann oxidiert (O 2 -Verbrauch) oder der Glukoneogenese (bei intakter Leberfunktion) zugeführt werden. … Bei Diabetikern wird nach Ringer-Laktat-Zufuhr (nur 27 mmol/l Laktat) intraoperativ eine Verdoppelung der Glukosekonzentration beschrieben [14].“

Der Erstautor referenziert sich wiederum selbst (Flüssigkeitstherapie, 2006, Bibliomed, Melsungen; Referenz 14). Er bezieht sich hier jedoch offensichtlich auf eine Publikation aus dem Jahr 1978 [23] über Typ-1-Diabetiker. Diese Beobachtung wurde bisher nicht reproduziert. In der VISEP-Studie war die Zufuhr von laktathaltigen Elektrolytlösungen ohne jeglichen Einfluss auf die Serumlaktat- und Blutglucosespiegel (Publikation in Vorbereitung).

Analyse des Studienprotokolls; kristalloide Lösung (S. 74)

„Sterofundin hat einen potenziellen BE von +21 mmol/l mit der Folge, dass – die Möglichkeit zur Oxidation oder Glukoneogenese unterstellt – pro infundiertem Liter Lösung beim genannten Patienten (75 kgKG, 15 l extrazelluläres Flüssigkeitsvolumen) eine iatrogene Alkalose von +1,4 mmol/l erzeugt wird. Ist der Metabolismus ausgeschaltet, bewirkt jeder Liter Sterofundin beim gleichen Patienten einen negativen BE von −1,6 mmol/l im Sinne einer iatrogenen Dilutionsacidose mit Laktatanstieg.“

Diese theoretischen Ausführungen werden durch keine Referenz hinterlegt. Die Bedeutung der „Dilutionsacidose“ wurde kürzlich von J.A. Kellum in einem Review mit „Lewis Carrol’s Cheshire cat“ verglichen, „in that it is more imaginary than real“ [24].

Analyse des Studienprotokolls; intensivierte vs. konventionelle Insulintherapie (S. 74/75)

„Wenn bei Sepsispatienten mit einer v. a. hepatisch (Glukoneogenese) gestörten Laktat-Clearance die Laktatproduktion und der Glukoseumsatz mehr als verdoppelt sind [14], dann ist eine zusätzliche Infusion von Laktat kontraindiziert, weil nur noch 15% des zugeführten Laktats der Glukoneogenese zugeführt werden.

Da in der VISEP-Studie 30% der Patienten Diabetiker waren [11], wird die Situation für den Glukosemetabolismus noch unübersichtlicher, weil Diabetiker (s. oben) nach Zufuhr von Laktat eine Verdoppelung der Glukosekonzentration zeigen. Es muss daher bezweifelt werden, ob eine intensivierte Insulintherapie bei iatrogener Hyperglykämie infolge Laktatzufuhr wirksam sein kann.“

Die Äußerungen und Schlussfolgerungen der Autoren, wiederum auf der Broschüre des Erstautors (Flüssigkeitstherapie, 2006, Bibliomed, Melsungen; Referenz 14) beruhend, sind spekulativ (s. oben) und durch die Ergebnisse der VISEP-Studie widerlegt (s. oben).

Schlussfolgerungen (S. 76)

„Wegen der dargestellten methodischen Mängel des Studienprotokolls der VISEP-Studie kann die Konsequenz nur lauten, dass die Ergebnisse dieser Studie im Sinne der intendierten Aussagen nicht verwertbar sind. Insbesondere sind generelle Aussagen über den Einsatz kristalliner oder kolloidaler Lösungen, z. B. HES-Lösungen, beim Patienten mit Sepsis oder septischem Schock aus dieser Studie nicht ableitbar – obgleich diese Thematik, für sich betrachtet, dringend weiterer Untersuchungen bedarf.“

Eine der Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der VISEP-Studie ist, dass zur Erfassung HES-bezogener Nebenwirkungen ausreichend lange Beobachtungszeiträume nötig sind, da sich u. a. der Trend zu einer erhöhten Sterblichkeit durch HES erst innerhalb eines Beobachtungszeitraums von 90 Tagen manifestierte [25]. Da die meisten bisherigen Studien lediglich Beobachtungszeiträume von weniger als 5 Tagen umfassten, ist die Aussagekraft dieser Studien zur Sicherheit von HES stark eingeschränkt. Wir verstehen daher, dass viele Ärzte, ähnlich wie wir, durch die Ergebnisse der VISEP-Studie und die methodischen Mängel bisheriger Studien zur Sicherheit von HES-Lösungen stark verunsichert sind. Wer deshalb die Entscheidung trifft, derzeit HES nicht mehr oder nur noch stark reduziert einzusetzen, handelt nicht „vorschnell“ und „folgenschwer“, sondern trifft eine Sicherheitsmaßnahme im Sinne der ihm anvertrauten Patienten. Ein solches Vorgehen steht in vollem Einklang mit den Empfehlungen einer internationalen Konsensuskonferenz, die aufgrund systematischer Bewertung der Literatur bereits vor Bekanntwerden der Ergebnisse aus der VISEP-Studie zum Schluss kam: „Beim kardiopulmonalen Bypass und bei Patienten mit Sepsis sollten HES-Lösungen mit Vorsicht eingesetzt werden („to be used with caution“, Evidenzgrad II-A)“ [26]. Inzwischen wird auch in den neuesten Empfehlungen der „Surviving Sepsis Campaign“ auf das Risiko von Nierenversagen durch HES-Lösungen hingewiesen [27]. Im Übrigen ist es üblich und im Interesse der Patientensicherheit geboten, bereits vor der Publikation von Studienergebnissen, sofern diese auf dem Goldstandard, d. h. einer multizentrischen randomisierten Studie beruhen, Schlüsse für die klinische Praxis zu ziehen [28]. Wenn Studien mit geeignetem Design und einer Beobachtungsdauer von mindestens 90 Tagen mit anderen HES-Lösungen andere Resultate zeigen, sind wir gern bereit, unsere Auffassung zur Sicherheit von HES bei kritisch kranken Patienten zu revidieren. Dass es derartige Studien derzeit nicht gibt, liegt nicht im Verantwortungsbereich der SepNet-Studiengruppe.

Wir bedauern es sehr, dass wir durch den bisher einzigartigen Stilbruch akademischer Gepflogenheiten zu dieser Gegendarstellung gezwungen wurden. Die Ergebnisse der VISEP-Studie unterstreichen die Bedeutung nichtkommerzieller klinischer Studien, zu denen wir uns als SepNet-Studiengruppe auch weiterhin verpflichtet fühlen, nicht zuletzt auch dank der Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.