FormalPara Hintergrund

Nach einer Chemotherapie wird häufig ein Abbau der kognitiven Fähigkeiten beobachtet. Da eine Chemotherapie mit Veränderungen der Mikrostruktur der weißen Substanz des Gehirns einhergeht, haben die Autoren untersucht, ob die Mikrostruktur der weißen Substanz ein Risikofaktor für den kognitiven Abbau nach stattgefundener Chemotherapie ist.

FormalPara Methoden

Neuropsychologische Tests wurden vor und 6 Monate (n = 49), 2 Jahre (n = 32) und 3 Jahre (n = 32) nach der Chemotherapie von Mammakarzinompatientinnen („breast cancer“ [BC]) durchgeführt. Patientinnen, die eine anthrazyklinhaltige Chemotherapie (CTx) erhielten (BC + CTx-Gruppe), wurden mit einer Gruppe ohne Systemtherapie (BC − CTx: n = 39, 23 bzw. 19) und einer Kontrollgruppe gesunder Probanden (No-cancer[NC]-Gruppe: n = 37, 29 bzw. 28) verglichen. Mithilfe eines multivariaten normativen Vergleichs wurde untersucht, inwieweit die kognitiven Profile der BC + CTx-Patienten von denen der Kontrollgruppen abwichen. Zur Messung der Mikrostruktur der weißen Substanz wurde die fraktionale Anisotropie (FA) verwendet, die aus der Magnetresonanz-Diffusionstensor-Bildgebung abgeleitet wurde. Die FA wurde als Risikofaktor für den kognitiven Abbau – zusätzlich zum Ausgangsalter, der Fatigue, den kognitiven Beschwerden und dem Intelligenzquotienten vor Therapie – bewertet. Anschließend führten die Autoren voxelweise Diffusions-Tensor-Imaging-Analysen durch, um die Mikrostruktur der weißen Substanz in bestimmten Nervenbahnen zu erkennen.

FormalPara Ergebnisse

Eine niedrige FA sagte den kognitiven Verfall früh (6 Monate, P = 0,013) und spät (3 Jahre, P < 0,001) nach Chemotherapie voraus. Dies war nicht der Fall für die BC-CTx- und NC-Gruppen. Die voxelweise durchgeführte Analyse deutete auf eine Beteiligung von Bahnen der weißen Substanz hin, die für die kognitiven Funktionen wichtig sind.

FormalPara Schlussfolgerung der Autoren

Eine niedrige FA spiegelt möglicherweise eine geringe Reserve der weißen Substanz wider. Dies könnte ein Risikofaktor für den kognitiven Abbau nach einer Chemotherapie bei Patientinnen mit Mammakarzinom sein. Wenn diese Ergebnisse in künftigen Studien validiert werden sollten, könnte die Identifizierung von Patienten mit geringer Reserve an weißer Substanz dazu führen, dass frühzeitig gezielte Interventionen eingeleitet werden oder sogar die Entscheidung von Patienten und Ärzten für eine Chemotherapie kritisch hinterfragt wird.

Kommentar

Chemotherapiebedingte kognitive Beeinträchtigungen (CKB) sind eine weit verbreitete Komplikation der Chemotherapie bei Mammakarzinompatientinnen [1]. Ihre Inzidenz wurde mit 65–75 % während der Behandlung, 30–60 % nach der Behandlung [2, 3] und mehr als 35 % während des gesamten Lebens angegeben [4]. Zu den kognitiven Bereichen, die bei der CKB am stärksten betroffen sind, gehören das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit, Exekutivfunktion und die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Es häufen sich die Hinweise darauf, dass Entzündungen, medikamentöse Neurotoxizität, eine Überaktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA) und andere Faktoren einschließlich der Veränderungen des genetischen Profils oder des Intelligenzquotienten am Auftreten und an der Entwicklung der CKB beteiligt sind [5, 6].

Die hier vorgestellte Studie versucht, einen der Pathomechanismen der CKB zu erklären. Ein bisher wenig untersuchter Risikofaktor für den kognitiven Abbau durch eine Chemotherapie ist die sog. Hirnreserve. Diese Hirnreserve bezieht sich auf individuelle Unterschiede in den strukturellen Merkmalen des Gehirns (z. B. Mikrostruktur der weißen Substanz und der kortikalen Dicke). Die Unterschiede in der Hirnreserve könnten erklären, warum manche Menschen besonders anfällig für Gehirnalterationen sind. In Populationen außerhalb der Onkologie wurden in mehreren Studien Magnetresonanz-Diffusions-Tensor-Imaging-Studien (DTI) durchgeführt, um die fraktionale Anisotropie (FA) als Maß für die Hirnreserve abzuleiten. Die FA hängt mit der Richtungsabhängigkeit der Wasserdiffusion entlang der axonalen Fasern zusammen. Es ist bekannt, dass physikalische Eigenschaften von Faserbündeln, wie Myelinisierung und Axondichte, die FA beeinflussen [7]. Eine niedrige FA deutet im Allgemeinen auf eine beeinträchtigte Mikrostruktur der weißen Substanz hin. So wurde beispielsweise festgestellt, dass eine globale niedrige FA eine spätere kognitive Beeinträchtigung vorhersagt. Zudem weist eine niedrige FA im Genu des Corpus callosum auf einen allgemeinen kognitiven Verfall und eine Abnahme des räumlichen Gedächtnisses im späten mittleren Alter voraus.

In der hier diskutierten Studie fanden die Autoren heraus, dass die FA eine mittlere Effektgröße für die Vorhersage des kognitiven Rückgangs sechs Monate nach der Chemotherapie hatte. Die Effektgröße für die Vorhersage des kognitiven Rückgangs drei Jahre nach der Chemotherapie war im Vergleich dazu deutlich größer. Dies könnte darauf hindeuten, dass eine geringe Reserve der weißen Substanz ein besonders starker Risikofaktor für den späten kognitiven Abbau ist. Da jedoch beim 3‑Jahres-FU ein erheblicher Patientenschwund bestand, sollte dieses Ergebnis mit Vorsicht interpretiert werden. Für die vorliegende Studie sind weitere Einschränkungen zu beachten. Obwohl eine niedrige FA zu Beginn der Studie ausschließlich den kognitiven Abbau nach der Chemotherapie vorhersagte, waren die Gruppenunterschiede minimal. Die Autoren konnten bei einer beträchtlichen Anzahl von Teilnehmern, insbesondere BC + CTx-Patienten, nicht eine DTI-Basisuntersuchung durchführen. Chemotherapieexponierte Patientinnen, die nach 6 Monaten einen kognitiven Rückgang zeigten, nahmen mit größerer Wahrscheinlichkeit an den 2‑ und 3‑Jahres-Nachsorgeuntersuchungen teil als diejenigen, die nach 6 Monaten keinen kognitiven Rückgang zeigten. Das könnte zu einer Überschätzung des späten kognitiven Verfalls geführt haben.

Die Studie ist aber auf jeden Fall hypothesengenerierend. Die Vorbeugung und Behandlung von CKB bleibt klinisch nach wie vor eine Herausforderung, da die nichtpharmakologischen Empfehlungen kaum befolgt werden und die pharmakologischen Interventionen weniger wirksam sind [4]. Tierversuche und kleine klinische Studien belegen aber in der allgemeinen Bevölkerung eine Rolle des Darmmikrobioms für die kognitive Leistungsfähigkeit. Die Forscher einer im Februar 2022 publizierten Studie [8] untersuchten die Querschnittsassoziationen zwischen der mikrobiellen Vielfalt und der taxonomischen Zusammensetzung des Darms und dem kognitiven Status in einer großen Studie mit soziodemografisch unterschiedlichen schwarzen und weißen Erwachsenen, die in vier Großstädten lebten und an der Coronary-Artery-Risk-Development-in-Young-Adults(CARDIA)-Studie teilnahmen. In dieser Querschnittsstudie war die Zusammensetzung des Mikrobioms in einer multivariat-bereinigten Analyse mit allen kognitiven Messungen verbunden. Diese Daten gehören zu einer wachsenden Zahl von Veröffentlichungen, die darauf hindeuten, dass generell die Darmmikrobiota Einfluss auf das kognitive Altern haben könnte. Das scheint bei Mammakarzinompatientinnen unter Chemotherapie zunehmend eine Rolle zu spielen. Eine spannende, im Dezember 2021 publizierte Studie bietet für Mammakarzinompatientinnen „eine einfache, kostengünstige und wirksame Strategie zur Vorbeugung von chemotherapiebedingten Nebenwirkungen einschließlich der CKB“ an (so Dr. Jianbin Tong, Seniorautor der Studie). Die doppelblinde und randomisierte Studie wurde im Dezember im European Journal of Cancer veröffentlicht [9]. Sie umfasst 159 Patientinnen aus China mit Mammakarzinom im UICC-Stadium I–III, die zwischen 2018 und 2019 eine adjuvante Chemotherapie erhalten hatten. Diese Patientinnen wurden randomisiert und erhielten während ihrer Chemotherapie zweimal täglich drei Kapseln, die entweder Probiotika (n = 80) oder ein Placebo (n = 79) enthielten. Die probiotischen Kapseln enthielten Bifidobacterium longum, Lactobacillus acidophilus und Enterococcus faecalis (jeweils 210 mg). Die Einnahme von Probiotika während der Chemotherapie reduzierte die Häufigkeit von CKB um 46 % und verbesserte die kognitiven Funktionen der Patientinnen insgesamt. Die CKB-Prävention durch die Probiotikaergänzung wurde von den Chemotherapieschemata oder andere Medikamente nicht beeinflusst.

Fazit

Die Vorbeugung und Behandlung von CKB bleibt klinisch nach wie vor eine Herausforderung. Die hier vorgestellten Studienergebnisse bieten eine Möglichkeit der Früherkennung und Einschätzung des Risikos für eine CKB mithilfe der DTI. Eine andere, vor Kurzem publizierte, Studie bietet eine kostengünstige und einfache Therapiealternative an. Eine Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen wie Ernährungswissenschaftler, Onkologen und Gynäkologen ist wünschenswert, um das Nebenwirkungsspektrum der Patientinnen mit Brustkrebs weiter zu optimieren.

Marciana-Nona Duma, Schwerin