Abstract
Der Beitrag diskutiert, wie die Ökonomisierung gesellschaftlicher Verkehrsformen in den letzten Jahren auch die europäische Lehr- und Forschungslandschaft eingeholt hat. Bildungsprozesse bilden sich immer häufiger monetär ab, so dass vor allem „Eliten“ und „Exzellenzen“ gefördert werden. Daraus resultiert ein Bildungsbegriff, der einem aktivierten und beschleunigten Habitus folgt und den Sandro Bliemetsrieder und Susanne Dungs mit „ungebildete Genialität“ bezeichnen. Die AutorInnen fragen danach, wie sich die Sozialpädagogik als Erfahrungswissenschaft angesichts dieser beschleunigten Forschungskultur dennoch einer reflexiven, demokratischen und partizipativen Hermeneutik erinnern kann, die über quantifizierende Formeln hinausweist. Eine entökonomisierende Alternative wird dabei in der sequenziellen Rekonstruktion von Bildungsprozessen gesehen, die die Urteilskraft der ForscherInnen ins Zentrum rückt. Das Geniale ist dann nicht das von der Geschichte getrennte, sondern es wird in einem lebendigen und kritischen Dialog mit den Vorleistungen der Vorausdenkenden, die sich in das soziale Gedächtnis einer Gesellschaft eingeschrieben haben, ausgebildet.
Das Lamento über das abnehmende Bildungsniveau bei SchülerInnen und StudentInnen, das mit den Pisa- und Timms-Studien einsetzte, scheint seinen Zenit nicht überschritten und seine Berechtigung noch nicht verloren zu haben. Mit diesem Beitrag möchten wir uns diesem Lamentieren nicht nur anschließen, doch aber einige kritische Schneisen in die Auseinandersetzung über den Zustand des deutschen hochschulischen Bildungssystems schlagen. Die Ökonomisierung als Grundtenor gesellschaftlicher Verkehrsformen hat inzwischen auch die deutsche bzw. europäische Lehr- und Forschungslandschaft eingeholt. Georg Simmel hatte den Prozess, in den die europäischen Gesellschaften um die Wende zum 20. Jahrhundert eingetreten seien, als „nachkulturelles Stadium“ beschrieben (vgl. Hetzel 2001: 92). Es ist nach Simmel das Geld, das sämtliche Differenzen nivelliert und Fragen nach Qualität suspendiert. „Indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwiegt, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichlichkeit rettungslos aus“ (Simmel 1995: 121f). Diese Diagnose, dass das Geld auch zunächst außerökonomische Bereiche (wie Bildung und Kultur) unter sich subsumiere, ist mithin nicht neu. Wenn es darum geht, die heutige Bolognareform kritisch unter die Lupe zu nehmen, könnte Simmel mit seiner Philosophie des Geldes (1900) als ein Vordenker gelten. Hochschulen und Universitäten werden inzwischen wie „Unternehmen“ geführt, in denen mittels der Strategien des „New public Management“ das von der Praxis geforderte, marktgängige „Humankapital“ zu produzieren sei (Employability). „Diese Industrialisierung des Wissens“ kann, so Konrad Paul Liessmann, „als Nachziehverfahren eines allgemeinen Prozesses begriffen werden, der nun die letzten gesellschaftlichen Refugien erfasst. Der »Wissensarbeiter« entpuppt sich als Phänotyp eines Wandels, der nicht dem Prinzip des Wissens, sondern dem der industriellen Arbeit gehorcht“ (Liessmann 2012: 42f). In diesem Beitrag wird die Diagnose der Ökonomisierung auch des Bildungssystems, die Liessmann in seiner Theorie der Unbildung (2006) furios zuspitzt, genutzt, um sie auf ihre innere Verfasstheit hin zu untersuchen und um vor ihrem Hintergrund kontrastierende Bilder von Genialität zu gewinnen. Denn die neue Fokussierung auf „Elite“ und „Exzellenz“ signalisiert „weniger einen unbedingten Willen zur Leistungssteigerung als vielmehr eine Tendenz zur Abschottung und Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs“ (ebd.: 140). Der traditionelle Bildungsbegriff, der seit der Aufklärung, in den Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen, kultiviert wurde, scheint sich in dieser Gemengelage zu zersetzen. „»Unbildung« meint […], dass die Idee von Bildung in jeder Hinsicht aufgehört hat, eine normative oder regulative Funktion zu erfüllen. Sie ist schlicht verschwunden. Der entfremdete Geist, der bei Adorno noch in den zu Bildungsgütern herabgesunkenen Versatzstücken einstiger Bildungsansprüche sich umtrieb, ist in akklamierte Geistlosigkeit umgeschlagen“ (ebd.: 70). Bildung ist das Medium, in dem sich der freie „Geist“ bewegt. Das Genie, das wir angelehnt an die Logik der Ansteckung von Gabriel Tarde in diesem Beitrag herausfordern, denkt quer, fügt sich nicht unmittelbar in vorgegebene Ordnungen ein. Ohne diese unangepassten und eigenwilligen „Geister“, diese ungewöhnlichen und schrägen Köpfe, würde es kein echtes Wissen und keine wirklichen Erfindungen geben.
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Bliemetsrieder, S., Dungs, S. (2014). In der Tretmühle der Genialität. In: Mührel, E., Birgmeier, B. (eds) Perspektiven sozialpädagogischer Forschung. Soziale Arbeit in Theorie und Wissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01889-4_6
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