Zusammenfassung
Die seit einigen Jahrzehnten beobachtbare Renaissance des Körperlichen in den Gegenwartsgesellschaften lässt sich in mehrfacher Hinsicht mit dem Begriff des Körperwissens fassen. Aus ihrer unmittelbaren biographischen Erfahrung des gelebten Lebens gewinnen Individuen ein privates und intimes Wissen über ihren eigenen Körper, seine inneren oder äußeren Zustände und Prozesse, Veränderungen im Lebenslauf, Leistungsfähigkeiten und -grenzen, seine Verletzungen und potenziellen Stigmata, seine Schmerz- und Lustempfi ndungen, ihren situier ten und situativen Umgang mit Tabus und Anforderungen der menschlichen Körperlichkeit, den körperlichen ‚Neigungen zur Eigensinnigkeit‘ und den mehr oder weniger erfolgreichen Strategien zur Überlistung der eigenen Körperlichkeit. Dieses gelebt-erfahrene Körperwissen greift zurück auf bzw. ist eingebettet in das in Sozialisationsprozessen und in der Lebenswelt des Alltags tradierte Wissen über Körperlichkeit und ihre Performanz einschließlich der darin verwickelten normativen Folien und Normalisierungen (kulturelles Körperwissen z. B. über den Geschlechtskörper; Disziplinierungen des Körperlichen ‚in Gesellschaft‘ u. a. m.). Immer schon verfügen auch spezialisierte Personen und Institutionen über ein besonderes, verallgemeinertes, objektiviertes Körperwissen. Dies gilt für traditionale oder moderne Heilerinnen und Medizinmänner ebenso wie für diejenigen gesellschaftlichen Institutionen, die, wie etwa Militär, Schule und Ballett, in spezifi scher Weise auf Körper zugreifen. In modernen Gesellschaften konstruieren die wissenschaftliche Medizin bzw. die verschiedenen Naturwissenschaften, aber auch unterschiedlich interessierte Organisationen, ein umfangreiches, permanent in Veränderung begriffenes Wissen über menschliche Körperlichkeit, zu unterschiedlichsten Zwecken: Erkenntnis, Fürsorge, Heilung, Therapie, Enhance ment (weit über Sport-Doping hinaus) oder einfach nur: Gewinn. Im letzten Jahrzehnt ist vor allem das sich diskursiv und dispositiv entfaltende Wissen über ‚wünschbare‘ Körperzustände und methodische Körperführungen (allseitige Fitness, ‚gesunde‘ Lebensweise, lebenslange Körpersorge) einschließlich des naturwissenschaftlich- medizinischen Wissens über Körper und ihre technische Gestaltbarkeit in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten. Hier hat gerade in jüngerer Zeit eine kleine Revolution durch die ‚Selbstermächtigung‘ der Laien stattgefunden, die sich von den klassischen Expertenhierarchien abkoppeln und über das Web neue Erzeugungs- und Zirkulationsweisen von Körperwissen geschaffen haben. Eine vergleichsweise geringere Rolle spielt wohl das geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Wissen über die sozialen Differenzierungen und Transformationen menschlicher Körperlichkeit (z. B. unterschiedliche Lebenserwartungen, sozialstrukturell verteilte Krankheitsmuster, alternde Gesellschaft).
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Keller, R., Meuser, M. (2011). Wissen des Körpers – Wissen vom Körper. In: Keller, R., Meuser, M. (eds) Körperwissen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92719-0_1
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