Zusammenfassung
Die Frage, warum es psychische Krankheit gibt, lässt sich mit Verweis auf biologische, psychologische oder soziale Bedingungen, Faktoren und Zusammenhänge beantworten. Die psychiatrische Anthropologie fragt hingegen grundlegender nach den Voraussetzungen dafür, dass Menschen überhaupt psychisch erkranken können. Nicht zuletzt die Tatsache, dass bei frei lebenden Tieren anhaltende psychische Störungen nicht vorkommen, spricht für eine anthropologische Vulnerabilität, also eine spezifische psychische Gefährdung des Menschen. Der Beitrag untersucht mögliche Gründe dieser Vulnerabilität und verortet sie vor allem in der besonderen Offenheit, Variabilität, aber auch Widersprüchlichkeit der psychischen Organisation des Menschen. Im zweiten Teil wird diese Disposition zur psychischen Krankheit als eine existenzielle Vulnerabilität interpretiert, nämlich als eine besondere Empfindlichkeit für die Widersprüche und Grenzsituationen der menschlichen Existenz.
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Notes
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Die Annahme eines qualitativ relevanten Unterschiedes zwischen Mensch und Tier hat inzwischen so viele Gegner – ob unter Evolutionsbiologen, Primatenforschern, Vertretern von Tierrechten oder anderen – dass diese Aussage auf Widerspruch treffen wird. Man wird anekdotische Beispiele von Walen, Delphinen, Schimpansen oder Elephanten ins Feld führen, die angeblich aus Hilflosigkeit, Lethargie, Trauer oder ähnlichen Motiven heraus den Tod gesucht oder sich ihm zumindest überlassen haben (vgl. z. B. Peña-Guzmán 2017, oder im Überblick Preti 2007). Eine ausführliche Diskussion dieser Frage würde eine eigene Untersuchung erfordern. Hier sei nur entgegnet, dass alle angeführten Beispiele eben niemals so etwas wie Suizidvorbereitungen und gezielte Suizidhandlungen beinhalten, sondern nur Situationen, in denen der primäre Überlebensimpuls versagt und das Tier dem nahenden Tod keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Abgesehen davon, dass dies keineswegs auch die Vorstellung des bevorstehenden Todes impliziert, stellen solche Situationen sicher keine Selbsttötungen im Sinne des Wortes dar. Die immer wieder angeführten todbringenden Wanderungen der Lemminge beruhen auf einem Migrationsinstinkt, der bei Übervölkerung zu blindlings geradeaus gerichteten Herdenbewegungen der Tiere führt, auch wenn Flüsse und Seen vor ihnen liegen. Schließlich geht das nicht selten beobachtete Stranden und Verenden von Walen wahrscheinlich auf eine Störung des Richtungssinnes zurück.
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Dieser Ausdruck wurde zum ersten Mal von Buffon in seinem Discours sur la nature des animaux – homo duplex (1753) gebraucht und führte zu einer längeren Debatte über das Verhältnis zwischen dem „homme physique“ und dem „homme moral“. Später wurde er von Emile Durkheim (1914/1981) wieder aufgenommen, um die ambivalente Natur des Individuums zwischen privater und öffenticher Existenz zu kennzeichnen.
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„Homo sum, humani nihil a me alienum puto“ (Terenz).
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Fuchs, T. (2022). Warum gibt es psychische Krankheit?. In: Reuster, T., Schönknecht, P. (eds) Brücken zwischen Psychiatrie und Philosophie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64295-5_6
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