„Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht“ (Freud, 1915).

Seit Freud hat die empirische vergleichende Kognitions- und Verhaltensforschung der Menschheit noch einige weitere Kränkungen hinzugefügt: Der Mensch ist nicht allein des intelligenten Werkzeuggebrauchs mächtig [35]; er ist nicht allein fähig, abstrakte Symbole sinnvoll einzusetzen [45]; er ist nicht allein in der Lage, sich selbst (im Spiegel) zu erkennen [21] und nicht einmal die einzige Spezies, die Kriege führt und Genozid verübt [57]. Ist die „Fähigkeit“ psychisch zu erkranken etwa eine weitere Domäne, die der Mensch nicht für sich allein beanspruchen kann?

Sich dieser Frage zu nähern, ist nicht allein philosophisch oder rein akademisch interessant. Der Versuch eine Antwort zu finden, wirft weitere Fragen auf, etwa seit wann es denn überhaupt psychische Störungen gibt, sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch betrachtet. Ist es überhaupt gestattet, Tieren ein „Seelenleben“ zuzugestehen (vgl. [8, 11, 40])? Was kann daraus gelernt werden, dass es (vielleicht) psychische Störungen bei nichtmenschlichen Individuen gibt? Wird – angesichts immer besser werdender Tiermodelle für die unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen – die Erforschung menschlichen Erlebens und Verhaltens im Rahmen psychischer Störungen entbehrlich? Können wir bald auf eine differenzierte Psychopathologie verzichten, weil wir sowieso nur noch „Serotoninmangelsyndrome“ behandeln, wie van Praag [56] es einmal provokativ hinterfragt hat, oder bestimmte Allelvarianten des Dopamin- oder Serotonintransporters auszuschalten versuchen?

Es kann natürlich nicht in einem einzigen Artikel gelingen, diese Fragen umfassend zu beantworten. Es soll auch explizit darauf hingewiesen werden, dass die Frage, ob Tiere denn an psychischen Störungen leiden können, hier nicht behandelt werden soll (vgl. [49]). Vielmehr soll an dieser Stelle versucht werden, die Grundzüge derjenigen Vorgänge aufzuzeigen, die Vulnerabilität für psychische Störungen bei Mensch und Tier – oder allgemeiner gesagt für abnormes Verhalten – erzeugen können. Das Verständnis dieser Grundmuster ist deshalb wichtig, weil es dazu beitragen kann, die Notwendigkeit von Präventivmaßnahmen zu untermauern und ein integratives metatheoretisches Konzept für die diversen Strömungen innerhalb der psychiatrischen Forschung zu formulieren.

Phylogenetische Aspekte

„Ich glaube, es ist nun gezeigt worden, daß der Mensch und die höheren Thiere, besonders die Primaten, einige wenige Instincte gemeinsam haben. Alle haben dieselben Sinneseindrücke und Empfindungen, ähnliche Leidenschaften, Affecte und Erregungen, selbst die complexeren, wie Eifersucht, Verdacht, Ehrgeiz, Dankbarkeit und Großherzigkeit; sie üben Betrug und rächen sich; sie sind empfindlich für das Lächerliche und haben selbst einen Sinn für Humor. Sie fühlen Verwunderung und Neugierde, sie besitzen dieselben Kräfte der Nachahmung, Aufmerksamkeit, Überlegung, Wahl, Gedächtnis, Einbildung, Ideenassociation, Verstand, wenn auch in sehr verschiedenen Graden. Die Individuen einer und derselben Species zeigen gradweise Verschiedenheit im Intellect von absoluter Schwachsinnigkeit bis zu großer Trefflichkeit. Sie sind auch dem Wahnsinn ausgesetzt (wörtlich: ”liable to insanity“), wenn schon sie weit weniger oft daran leiden als der Mensch“ (Darwin, 1874).

Darwin [14] sah offenbar keine Schwierigkeiten darin, Mensch und Tier ähnliche Seelenvorgänge zu unterstellen. Zumindest für die Ordnung zu der wir Menschen gehören (Primates) bemerkte Darwin beinahe wie selbstverständlich, dass diese hochentwickelten Lebewesen unter bestimmten Umständen abnorme Verhaltensweisen zeigen, die den Rückschluss erlauben, dass sie psychische Störungen entwickeln können.

Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, seit wann es (phylogenetisch) Vulnerabilität für psychische Störungen gibt und mit welchen Anpassungen diese erhöhte Anfälligkeit erkauft wurde. Wenn man die großen stammesgeschichtlichen Entwicklungslinien betrachtet, so wird Einhelligkeit darüber bestehen, dass es bei Einzellern und den ersten mehrzelligen tierischen Organismen keine psychischen Störungen – oder allgemeiner ausgedrückt – abnorme Verhaltensweisen geben kann, weil diese Stämme noch gar nicht über ein Nervensystem verfügen, das Träger psychischer Funktionen sein könnte. Verhaltenssteuerung funktioniert bei diesen Lebewesen ausschließlich über Chemotaxie. Die ersten „Gehirne“ tauchten mit den Weichtieren auf, etwa Quallen und Mollusken [1]. Aber selbst bei viel „höher“ entwickelten Tierstämmen wie den Fischen, Amphibien und Reptilien, die allesamt zweifellos über ein Gehirn von beachtlicher Komplexität verfügen, wird man kaum deviantes Verhalten im Sinne einer Abweichung von der Norm beobachten können, wenngleich interindividuelle Variation besteht, etwa im Explorationsverhalten oder Aggressivität [15]. Pathologische Variationen von Verhalten werden erst bei der Klasse von Tieren klar ersichtlich, zu der wir uns selbst zählen, den Säugetieren (analoge Entwicklungen bei Vögeln sind nicht auszuschließen, aber empirisch nicht gut belegt).

Säugetiere sind deshalb vulnerabel für abnorme Verhaltensweisen, weil ihr Gehirn, im Unterschied zu den Reptilien etwa, über ein gut entwickeltes limbisches System verfügt sowie über neokortikale Strukturen, die eine vergleichsweise lange Reifungszeit erfordern, die wiederum stark von Umwelteinflüssen, insbesondere Lernerfahrungen moduliert wird. MacLean hat den Aufbau des Säugetiergehirns als „triune brain“ beschrieben [32]. Während der phylogenetisch älteste Teil, der sog. R-Komplex oder das Reptiliengehirn, im Wesentlichen dem Hirnstamm und Mittelhirnstrukturen entspricht, die diejenigen Zentren beherbergen, die für die Aufrechterhaltung basaler Lebensfunktionen wie Atmung, Kreislaufregulation, Nahrungsaufnahme zuständig sind, aber auch territoriales Verhalten, Flucht- und Angriffsverhalten sowie Sexualverhalten steuern, sind im limbischen System (der Begriff stammt von MacLean) das Brutpflegeverhalten und andere emotionale Prozesse wie Furchtkonditionierung repräsentiert (vgl. [39]). Neokortikale Strukturen schließlich erlauben eine stärkere Verhaltensflexibilität und tragen u. a. dazu bei, phylogenetisch ältere Verhaltenstendenzen zu supprimieren oder zu überschreiben. Hier sind bereits zwei wesentliche Faktoren genannt, die zu einer erhöhten Vulnerabilität für abweichendes Verhalten oder psychische Störungen disponieren können: Die Evolution des Brutpflegeverhaltens mit seinen zugrunde liegenden emotionalen Systemen und die Evolution stärkerer Verhaltensflexibilität auf Kosten instinktgebundenen Verhaltens.

Säugetiere unterscheiden sich von anderen Tierklassen (eine gewisse Ausnahme bilden Vögel) durch ihre ausgeprägte Fürsorge für ihre Nachkommen. In der Regel sind Tragzeit und das Säugen der Nachkommen energetisch aufwendig und „kostspielig“. Bei vielen Säugetieren vergeht eine recht lange Zeit bis Nachkommen die Geschlechtsreife erlangen. Wie konnte eine derartige reproduktive „Strategie“ entstehen, wenn sie doch offensichtlich mit erheblichen reproduktiven Nachteilen, wie z. B. einer geringeren Nachkommenzahl, verbunden ist? Verhaltensökologen unterscheiden zwei diametral entgegengesetzte Fortpflanzungsstrategien, die als „r-Strategie“ bzw. „K-Strategie“ bezeichnet werden [31]. Arten mit reproduktiver „r-Strategie“ leben unter potenziell sich rasch ändernden Umweltbedingungen, unter denen es sinnvoll ist, möglichst viele Nachkommen in kurzer Zeit zu produzieren. Die Zahl der Nachkommen pro Reproduktionszyklus ist hoch, sie wachsen schnell heran und erlangen rasch die Geschlechtsreife. Allerdings erreicht nur ein Bruchteil der Nachkommen das adulte Stadium. Die elterliche Fürsorge ist gering, oft haben Spezies mit reproduktiver „r-Strategie“ nur einmal in ihrem Leben Nachkommen (z. B. Lachse). Die maximale Lebensspanne ist bei solchen Arten niedrig, die Körpergröße gering. Die Konkurrenz zwischen den adulten Tieren um Nahrung oder Sexualpartner ist relativ gering.

Das Gegenstück dazu verkörpert die „K-Strategie“. Arten mit reproduktiver „K-Strategie“ leben unter relativ stabilen Umweltbedingungen. Die Zahl der Nachkommen pro Reproduktionszyklus ist gering, die Nachkommen wachsen langsam heran und erreichen die Geschlechtsreife spät. Die Sterblichkeitsrate ist bei Arten mit reproduktiver „K-Strategie“ niedrig. Die elterliche Fürsorge ist hoch, und erwachsene Tiere haben in der Regel mehrmals in ihrem Leben Nachkommen. Die maximale Lebensspanne ist bei diesen Arten hoch, die Körpergröße ist bei „K-Strategen“ beträchtlich und die Konkurrenz um Nahrung und Sexualpartner ausgeprägt (vgl. [36]).

Es gibt innerhalb der Tierklassen große Unterschiede im Hinblick auf reproduktive Strategien; bei den Säugetieren ist auf den ersten Blick offensichtlich, dass Nagetiere wie Mäuse und Ratten eher zu den „r-Strategen“ zählen, während Primaten eindeutig zu den Arten mit reproduktiver „K-Strategie“ gehören, wobei der Mensch diese Strategie ins Extrem getrieben hat (der Begriff „Strategie“ hat in diesem Zusammenhang natürlich nichts mit bewusster Steuerung von Verhalten zu tun). Menschen haben in der Regel nur einen Nachkommen pro Reproduktionszyklus; menschliche Säuglinge wachsen extrem langsam heran und Kinder benötigen annähernd 20 Jahre (unter ursprünglichen Jäger- und Sammlerbedingungen), bis sie selbst erstmals Kinder haben. Menschen gehören zu den langlebigsten Säugetieren überhaupt. Die Konkurrenz um Ressourcen ist ausgeprägt (wird aber zum Teil zwischen Gruppen ausgetragen).

Interessanterweise gibt es auch innerhalb von Arten Variationen (in gewissen Grenzen) hinsichtlich der Ausprägung der jeweiligen reproduktiven Strategie. Beim Menschen etwa deuten etliche Befunde darauf hin, dass ungünstige Lebensbedingungen wie Armut oder hohes intrafamiliäres Stressniveau sich insofern auf die Fortpflanzungsstrategie auswirken können, als sie eine (geringe) Verschiebung zum „r-Pol“ hervorrufen können mit einer tendenziell vorverlagerten sexuellen Reifung und sogar auf die interpersonelle Orientierung und das Bindungsverhalten [3].

Ontogenetische Aspekte

„Die affektive Bindung, die sich beinahe immer zwischen Kind und Mutterfigur entwickelt, wird heute aufgefasst als Folge bestimmter vorprogrammierter Verhaltensmuster des Kindes, die sich rasch auf eine Person fokussieren, die sich um es (das Kind) kümmert, in der Regel die leibliche Mutter“ (Bowlby, 1991).

Ontogenetische Prozesse sind in hohem Maße von den lebensgeschichtlichen Entwicklungsmustern einer Art geprägt. Organismen, deren Abhängigkeit von elterlicher Fürsorge hoch ist und die sich über lange Zeiträume erstreckt, sind, im Unterschied zu den Arten mit reproduktiver „r-Strategie“, besonders auf soziale Lernerfahrungen angewiesen. Infolgedessen tritt instinktgebundenes Verhalten in den Hintergrund zugunsten von Exploration und Imitationsverhalten. Fehlen die entsprechenden Lernmodelle und können aufgrund dessen die wichtigen Erfahrungen im Umgang mit Artgenossen oder in Zusammenhang mit dem Auffinden von Nahrungsquellen nicht gemacht werden, können sich vielfältige Verhaltensstörungen entwickeln.

Am bedeutsamsten sind bei den sozial lebenden Primaten (aber auch bei Elefanten und Walen, vgl. [7]) frühe soziale Lernerfahrungen in der Interaktion zwischen Säugling und Mutter. Mit der Ausbildung reproduktiver „K-Strategien“ entwickelten sich bei Säugetieren emotionale Systeme der Bindung zwischen Mutter und Kind, beim Menschen auch in zunehmendem Maße zwischen Vater und Kind (bei den meisten Tierarten „investiert“ der mütterliche Organismus in potenzielle Nachkommen ein Vielfaches dessen, was der väterliche Organismus beisteuert; [54]). Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist potenziell störanfällig, weil sie auf der Fähigkeit zum Senden und Empfangen komplexer Signale beruht, die wiederum von etlichen Faktoren abhängt, wie etwa den eigenen Bindungserfahrungen der Mutter, aber auch kontextuellen Faktoren wie soziale Stellung der Mutter und Unterstützung durch Artgenossen. Mit anderen Worten, während Bindungsverhalten von Seiten des Kindes nach der Auffasung Bowlbys prägungsähnlich verläuft, ist die Zuwendung der Mutter variabler (vgl. [26]).

Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass frühe Bindungserfahrungen (vielleicht sogar schon vorgeburtliche Erfahrungen; [52]) prägend sein können für das Verhalten in späteren Lebensabschnitten. Besonders drastisch haben dies die Experimente der Arbeitsgruppe um Harlow gezeigt [22]. Harlow trennte junge Rhesusaffen kurz nach der Geburt von ihren Müttern, um deren Entwicklung ohne den Einfluss mütterlichen Verhaltens zu beobachten. Bowlby hatte sich ja bereits viel früher in seiner Arbeit mit delinquenten Jugendlichen gefragt, warum diese sozial deviantes Verhalten zeigen, obwohl es ihnen oberflächlich gesehen an nichts mangelte [4]. Die Idee, dass es sich um soziale Deprivation und das Fehlen einer Bindungsfigur handelte, entwickelte Bowlby in den Jahren zusammen mit seiner Mitarbeiterin Mary Ainsworth und anderen [6]. Harlows Experimente zeigten nun eindeutig, dass junge Primaten schwere Verhaltensstörungen entwickeln, in Abhängigkeit vom Zeitpunkt und der Dauer der Trennung des Jungtieres von der Mutter. Bei anhaltender Trennung und sozialer Deprivation traten bei den jungen Rhesusaffen schwerste stereotype Verhaltensstörungen, autistisches Sich-selbst-Umklammern und massive Gedeihstörungen auf, die nicht selten zum Tod führten. Die Psychomotorik und physiologische Veränderungen ließen keinen Zweifel an der Folgerung, dass diese Jungtiere schwerste depressive Zustände durchlebten (ähnlich einer anaklitischen Depression nach Spitz; [50]).

Bekannt sind Harlows Befunde vor allem auch deshalb, weil sie klar die Bedeutung der frühkindlichen Bindung für eine gesunde psychische Entwicklung belegen: Junge Rhesusaffen bevorzugten eindeutig eine mit Fell überzogene „Surrogatmutter“ gegenüber einer nahrungspendenden aus Drahtgeflecht bestehenden „Mutter“. Darüber hinaus kann als nachgewiesen gelten, dass aus sozialer Deprivation Langzeitfolgen für das Verhalten resultieren: Depravierte Rhesusaffen sind als Erwachsene in der sozialen Interaktion mit Artgenossen schwer gestört; sie sind nicht dazu in der Lage, eigene Nachkommen aufzuziehen und zeigen dem eigenen Nachwuchs gegenüber ausgesprochen vernachlässigendes und regelrecht missbräuchliches Verhalten [55]. Ähnliche Zusammenhänge zwischen Störungen der frühkindlichen Bindung und späteren Verhaltensauffälligkeiten sind für Menschenaffen beschrieben worden (Übersicht bei [11, 43]), bei Elefanten [7] und haben wohl auch für den Menschen Gültigkeit [23].

Die Flexibilität menschlichen Verhaltens ermöglicht gar die Orientierung künftigen Verhaltens (als Erwachsener) an gegenwärtigen Umweltbedingungen der frühen Kindheit. Unzureichende finanzielle Ressourcen, angespanntes Familienklima, insbesondere Spannungen zwischen den Elternteilen begünstigen einen harschen Erziehungsstil, der wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kinder einen unsicheren Bindungsstil entwickeln mit opportunistischer interpersoneller Orientierung, früher sexueller Reifung und Aktivität und „Tradierung“ dieses Verhaltens durch das Eingehen instabiler Partnerschaften und ebenfalls eher geringe elterliche Fürsorge für eigenen Nachwuchs. Umgekehrt bedingen ausreichende Ressourcen, ein harmonisches Familienklima eher die Entstehung sicherer Bindungen und vertrauensvoller interpersoneller Orientierungen mit späterer sexueller Reifung und Aktivität sowie größerer emotionaler Zuwendung eigenen Kindern gegenüber [3]. Hier hat die jüngere Forschung zu Gen-Umwelt-Interaktionen wichtige Zusammenhänge zwischen Allelen des Serotonintransporters und der Wahrscheinlichkeit des Auftretens antisozialen Verhaltens unter Einfluss aversiver Erfahrungen in der Kindheit, vor allem emotionalen Missbrauchs oder Vernachlässigung, aufgedeckt [12].

Spezifisch Menschliches (?)

Wenn es nun unstrittig ist, dass es manche psychischen Störungen des Menschen in sehr ähnlicher Weise (vielleicht sogar homolog) bei Tieren gibt, was ist dann noch spezifisch Menschlich? Am Beispiel schizophrener Erkrankungen etwa wird deutlich, welche ätiopathogenetischen Aspekte im Tiermodell rekonstruierbar sind. Psychoseähnliche Zustände können bei Tieren etwa durch die Gabe dopaminerger Substanzen oder chronischer Administration von Glutamatantagonisten wie Phenylcyclohexylpiperidin ausgelöst werden (z. B. [13, 29, 30, 33]). Neurobiologische Entwicklungsmodelle der Schizophrenien sind durch in utero gesetzte Influenzainfektionen trächtiger Mäuse imitierbar [17]. Ausgehend von genetischen Hypothesen können im Rahmen von Knock-out-Modellen oder an transgenen Tieren behavioural, physiologische und anatomische Korrelate von Schizophrenien abgebildet werden [24, 34, 47].

Tab. 1 Tiermodelle (exemplarisch) für verschiedene ätiopathogenetische Modelle der Schizophrenien

Sämtliche dieser Modelle haben Stärken und Schwächen. Immerhin kann eine erstaunliche Vielzahl von Verhaltensabweichungen und pathophysiologischer Parameter im Vergleich zum Wildtyp dargestellt werden. Erst kürzlich ist es beispielsweise in einem transgenen Mausmodell der Schizophrenie(n) gelungen, durch Insertion eines humanen DISC1-Allels („disrupted in schizophrenia“) sowohl auf der Verhaltensebene als auch auf neuroanatomischer und pathophysiologischer Ebene Ähnlichkeiten mit Veränderungen, die bei schizophreniekranken Menschen auftreten können, zu imitieren. Dazu zählten Hyperaktivität, vermindertes Explorationsverhalten, Immobilität (vgl. [38]), Ventrikelerweiterung und neuronale Migrationsstörungen sowie eine verringerte „prepulse inhibition“, die auf eine Filterstörung auf rezeptiver Ebene hindeuten könnte [24]. Im medialen präfrontalen Kortex der Maus – einer anatomischen Region, der auch bei Schizophrenien eine Schlüsselrolle zugeschrieben wird – fand sich eine Reduktion Parvalbumin-reaktiver Zellen, nicht jedoch Calretinin-bindender Zellen. Dieser in einem Nebensatz des Originalartikels erwähnte Befund ist im Hinblick auf die Diskussion des spezifisch Menschlichen hochinteressant. Im anterioren zingulären Kortex des Menschen finden sich Calretinin-anreichernde Zellen, die wegen ihrer Form als Spindelzellen bezeichnet werden [25]. Obwohl die genaue Funktion der Spindelzellen nicht bekannt ist, wird gemutmaßt, dass sie aufgrund ihrer weitreichenden Verbindungen zu anderen präfrontalen Kortexarealen und zum limbischen System an der Kontrolle und Steuerung emotionaler und kognitiver Prozesse beteiligt sind [2]. Interessant ist dies deshalb, weil Spindelzellen nur bei Menschenaffen einschließlich des Menschen nachgewiesen sind, nicht jedoch bei anderen Primaten oder Säugern. Die Dichte der Spindelzellen nimmt proportional mit dem phylogenetischen Abstand der anderen Menschenaffen zum Menschen ab, d. h., sie ist beim Menschen am größten, beim Schimpansen und Bonobo geringer und beim Gorilla und Orang-Utan am geringsten.

Die Grenzen dieser Modelle liegen in erster Linie darin, dass sie nicht spezifisch für Schizophrenien sind. In Bezug auf die Bedeutung einzelner Allelvarianten etwa wird DISC1 auch bei autistischen Störungen und affektiven Erkrankungen pathogenetische Relevanz zugeschrieben [27]. Mütterliche Influenzaerkrankungen während der Schwangerschaft machen nur einen sehr geringen Anteil der Schizophreniefälle in der Folgegeneration aus [51]. Diese kritischen Anmerkungen sollen keinesfalls den enormen Wissenszuwachs, der aus Tiermodellen unterschiedlicher Störungsbilder resultiert, schmälern. Es muss nur deutlich gemacht werden, dass die Übertragbarkeit von Tiermodellen auf den Menschen limitiert ist. Dies gilt möglicherweise im Besonderen für verhaltensorientierte Modelle, bei denen durch Modifikation der Umweltbedingungen (etwa ontogenetisch frühe Deprivation) pathologische Verhaltensweisen induziert werden, so dass die Aussagekraft sinkt, je größer die phylogenetische Distanz zum Menschen ist. Kritisch wird jedoch auch deshalb die Brauchbarkeit von Mausmodellen diskutiert, weil in der Aminosäurensequenzierung lediglich eine etwa 78%ige Übereinstimmung des Mausgenoms mit dem menschlichen Genom besteht, andererseits viele der genetischen Unterschiede mit der Akzeleration der Evolution des Primatengehirns in Verbindung gebracht werden [58].

Eine weitere Frage ist, ob Tiere überhaupt schizophrenieähnliche Störungen haben können, weil ihnen der kognitive Apparat fehlt, der an der Entstehung mancher schizophrener Kernsymptome entscheidend beteiligt ist, wie etwa der Projektion des inneren Dialogs in die Außenwelt in Form kommentierender oder imperativer Stimmen oder dem Wahn als gestörte kognitive Repräsentation möglicher Absichten anderer Personen [20].

Alzheimer-Demenz scheint, soweit bekannt ist, ebenfalls nur beim Menschen vorzukommen, obwohl die Bildung von Plaques bei etlichen Tieren nachgewiesen ist (nicht jedoch die Aggregation neurofibrillärer „tangles“; [18]). Dies liegt aber offenbar nicht nur daran, dass Tiere nicht alt genug werden, um auch entsprechende kognitive Störungen zu entwickeln. Untersuchungen an alt bis sehr alt gewordenen Menschenaffen in Gefangenschaft haben zumindest bislang keinen schlüssigen Beleg für einen kognitiven Abbau geliefert [16], der der Entwicklung einer Alzheimer-Demenz entsprechen könnte. Die Aufzählung menschlicher Spezifika könnte an dieser Stelle noch um zahlreiche Beispiele erweitert werden, soll aber aus Platzgründen hier nicht weiter fortgesetzt werden.

Schlussfolgerungen

Psychische Störungen – ob der Ausdruck nun auch auf Tiere exakt zutrifft oder nicht – sind kein menschliches Spezifikum. Vulnerabilität für psychische Dysfunktion ist inhärent verankert in evolutionär entstandenen lebensgeschichtlichen Mustern, die arttypisch sind und in den damit in direktem Zusammenhang stehenden ontogenetischen Mechanismen der Mutter-Kind-Bindung. Die Entstehung emotionaler Bindungen und die (unter natürlichen Bedingungen seltene) Möglichkeit der Störung der Eltern-Nachkommen-Bindung sowie die zunehmende Flexibilität von Verhalten unter Reduktion instinktgebundener (und daher rigiderer) Verhaltensweisen haben zumindest langlebigen Organismen in Bezug auf die Exploration der Umwelt und Anpassungsfähigkeit große Vorteile gebracht, allerdings auf Kosten erhöhter Anfälligkeit für Funktionsstörungen. Als Faustregel kann vielleicht gelten, dass Vulnerabilität für psychische Störungen mit der phylogenetischen Distanz zum Menschen abnimmt – und umgekehrt. Primaten sind infolgedessen besonders anfällig, abnormes Verhalten zu entwickeln; in ähnlicher Weise trifft dies jedoch auch auf in Bezug auf reproduktive Strategien konvergente Entwicklungen bei anderen sozial lebenden Spezies, etwa Elefanten, zu [7].

Parallelen zwischen psychischen Erkrankungen des Menschen und beim Tier gibt es in erster Linie im Hinblick auf diejenigen Störungsbilder, die im weiteren Sinn emotionaler Natur sind: Depressionen, Angsterkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen, krankhafte Aggressivität [10, 11, 40]. Imitiert werden können darüber hinaus abnorme Verhaltensweisen durch eine breite Palette von Tiermodellen, bei denen pharmakologisch, exzitotoxisch oder genetisch Veränderungen am Gehirn dieser Tiere vorgenommen werden – spontan treten Pathologien dagegen praktisch nicht auf.

Das spezifisch Menschliche an psychischen Störungen steht dagegen in engem Zusammenhang mit den stammesgeschichtlichen Besonderheiten unserer Art: stark vergrößerter Neokortex, Spracherwerb, extrem lange Abhängigkeit von elterlicher Fürsorge und sozialem Lernen, Anpassung an größere Mengen tierischen Proteins in der Nahrung usw.

Die künftige Erforschung psychischer Erkrankungen des Menschen soll keineswegs auf Tiermodelle verzichten, schon deshalb nicht, weil Erkenntnisse aus der vergleichenden Verhaltensforschung zur Prävention psychischer Störungen des Menschen beitragen können, etwa im Hinblick auf die Aufdeckung frühkindlicher Bindungsstörungen und Möglichkeiten der Frühintervention bei ungünstigen elterlichen Erziehungsstilen [46] – Tiermodelle können aber immer nur einen kleinen Ausschnitt der menschlichen Pathologie abbilden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Erforschung der Krankheiten am Menschen unverzichtbar bleibt. Wir können uns mittels funktioneller Bildgebung „beim Denken zuschauen“. Gen-Umwelt-Interaktionen aufzudecken ist ein weiteres faszinierendes und vielversprechendes Gebiet, das zum Verständnis psychischer Erkrankungen beitragen kann [42]. Wir können aber trotz allem nicht auf eine differenzielle Psychopathologie verzichten, die nicht nur subjektives Erleben, sondern auch systematische Verhaltensbeobachtung einschließt [44].

Um diese verschiedenen Ansätze kompatibler zu gestalten, sollte m. E. die psychiatrische Forschung auf Tinbergens Konzept (so genannte vier „W“-Fragen) zum Verständnis von Verhalten zurückgreifen: Analyse von Ontogenese, Funktion, Phylogenese und Anpassungswert [37, 53]. Letzteres ist natürlich schwierig, weil psychische Störungen eben keinen Anpassungswert haben; sie können aber gleichwohl als pathologische Extremvarianten adaptiver Mechanismen verstanden werden [9].