Zusammenfassung
Bereits im Jahr 1945 verabschiedete der Alliierte Kontrollrat das Potsdamer Abkommen, das auch Inhalte zum Erziehungs- und Bildungswesen enthielt: „Das Erziehungswesen in Deutschland muss so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird“ (Potsdamer Abkommen 1945). Seit dieser Zeit wird insbesondere Schule als der Ort angesehen, an dem Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürger*innen heranwachsen und sich Wissen über sowie praktische Kompetenzen für Demokratie aneignen können. Die Kultusministerkonferenz (KMK) stellt den demokratischen Bildungsauftrag als eines der obersten Ziele schulischer Bildung heraus (vgl. KMK 2018, S. 2 ff.). Alle Bundesländer haben diesen Auftrag einerseits in den Schulgesetzen verankert und andererseits über Dokumente zur Steuerung der Demokratiebildung konzeptionell verortet (vgl. IFK 2018, S. 23 f.). Dennoch attestiert nicht nur der 16. Kinder- und Jugendbericht zum Thema ‚Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter‘ der „Schule in allen Bereichen politischer Bildung Defizite“ (BMFSFJ 2020, S. 16), sondern auch andere aktuelle wissenschaftliche Beiträge zeigen deutliche Schwierigkeiten einerseits über die demokratische Verfasstheit von Schule und andererseits über die dort beschreibbaren nicht-demokratischen Verhältnisse (vgl. Abs und Hahn-Laudenberg 2017; Schmid und Watermann 2018). In den Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe findet die Beschäftigung mit demokratischer Bildung überwiegend vor dem Hintergrund von Aushandlung, Mitbestimmung und Partizipation statt und es wird dort der Frage nachgegangen, wie beispielsweise Kindertageseinrichtungen (Hansen et al. 2011; Richter et al. 2017), die Hilfen zur Erziehung (Stork 2006; Pluto 2007) oder besonders die Kinder- und Jugendarbeit (Sturzenhecker 2013, 2020; Schwerthelm 2018) zur demokratischen Subjektbildung beitragen können. Obwohl Sturzenhecker (2020) betont, dass „Demokratiebildung ein unzureichend umgesetzter Anspruch“ (S. 704) der Kinder- und Jugendarbeit geblieben sei, bescheinigt der 16. Kinder- und Jugendbericht diesem Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund der dafür als besonders angesehenen Strukturmerkmale und Möglichkeiten bessere Verwirklichungschancen demokratischer Bildung als der Schule (vgl. BMFSFJ 2020, S. 329 ff.).
Aller politischer Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Das wäre möglich nur, wenn zumal er ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, offen mit diesem Allerwichtigsten sichbeschäftigt. Dazu müßte er in Soziologie sich verwandeln, also über dasgesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischenFormen seinen Ort hat. Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsraison: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt. […] Eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.
(Adorno 1966, zitiert nach Adorno 2015, S. 104, 107)
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Literatur
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Bokelmann, O. (2022). Einleitung. In: Demokratiepädagogik in Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion, vol 25. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36965-1_1
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