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1 Einleitung: Die Nutzer:innen der Digitalisierung

Personalisierung ist zu einer verbreiteten Strategie in der digitalen Welt geworden. Auf der einen Seite sammeln und verteilen Nutzer:innen mithilfe digitaler Netzwerke persönliche Fragmente aus ihrem Leben, auf der anderen verwenden Plattform-Unternehmen diese Fragmente als Ressource, um ihre Angebote personenbezogen anzupassen. Diese doppelte Personalisierung erweist sich als höchst ambivalent: Für Datenökonomien ist Personalisierung ein Mittel der Manipulation [60, S. 293–334], für Nutzer:innen ist sie die Grundlage für persönliche Beziehungen der Freundschaft oder Liebe [31, S. 13–19]. In dieser Situation gilt es nicht nur die datenökonomischen Mechanismen manipulativer Personalisierung kritisch im Blick zu behalten [23; 59; 60], sondern auch die Personalisierungsanstrengungen der Nutzer:innen als eigenständige Größe in Rechnung zu stellen. Mit dem vorliegenden Text will ich insbesondere letzteres verfolgen und die These plausibilisieren, dass es eine Personalisierung aufseiten der Nutzer:innen gibt, die eigenen Methoden und Zielen folgt. Vor dem Hintergrund dieser Arbeitshypothese stellen sich dann Fragen nach den Schutz- und Privatheitsbedürfnissen der Nutzer:innen anders: Im Zentrum eines solchen Vorgehens steht nicht die – weiterhin relevante – Frage, wie Plattformen Nutzer:innen manipulieren, sondern die komplementäre Frage, welche Weisen der Personalisierung vor einer möglichen Manipulation durch Plattformen geschützt werden sollten und welche Privatheit dabei helfen kann.

Um also die Personalisierung aufseiten der Nutzer:innen als eigenständige Größe zu untersuchen, gehe ich im Folgenden in vier Schritten vor. Zunächst möchte ich hier im ersten Teil des Textes zwei Grundbegriffe klären: Ich werde einen soziologischen Begriff der Digitalisierung vorstellen, um deren Wirkungsweise und Reichweite abzustecken, sowie einen programmatischen Nutzer:innen-Begriff einführen. Anschließend werde ich im zweiten Teil die Bedeutung der Personalisierung über die Digitalisierung hinaus verständlich machen, indem ich sie mithilfe soziologischer Theorien als eine allgemeine Form der Identifikation menschlicher Wesen beschreibe. Im dritten Teil werde ich dann Ergebnisse einer autoethnografischen Studie zur Herstellung von Selfie-Fotografien vorstellen, um Einblicke in eine Form der Personalisierung unter postdigitalen Bedingungen zu geben. Im vierten Teil werde ich schließlich ausloten, welche spezifischen Schutzbedürfnisse sich aus diesen Analysen ergeben und was diese wiederum für die Zukunft des Privaten bedeuten.

Auf der Suche nach einer soziologischen Fassung der Digitalisierung stellt Noortje Marres die instruktive Frage, wie digitale Technologien sozial werden [35, S. 45]. Digitale Technologien sind sozial – so ihre Antwort –, insofern sie Interventionen in Sozialität ermöglichen [35, S. 61]. Digitalisierung meint dann nicht bloß die Intensivierung ansonsten stabiler Formen des Sozialen, sondern die Transformation sozialer Kategorien und Praktiken. Wer als „Freund:in“ gilt und was als „privat“ interpretiert wird, wird im Zuge der Digitalisierung verändert – in Auseinandersetzung mit digitalen Technologien und letztendlich auch über technische Situationen hinaus. Digitalisierung lässt sich so als allgemeiner Sammelbegriff für heterogene Interventionen digitaler Technologien in die soziale Welt verstehen. Diese Annäherung macht deutlich, dass konkrete Formen der Digitalisierung immer ein Stück weit empirisch bestimmt werden müssen. Digitalisierung als eine Menge von Interventionen zu verstehen, impliziert die Aufforderung, konkrete Einmischungen zu untersuchen und jeweils am Fall zu bestimmen, wie Digitalisierung wirkt.

Gleichzeitig lässt sich aber auch eine zusammenhängende Kultur der Digitalisierung identifizieren [1, S. 69; 54, S. 18].Footnote 1 Diese Kulturform folgt aus dem Umstand, dass der soziale Austausch heute dauerhaft und in erheblichem Ausmaß mit digitalen Technologien durchsetzt ist; viele Aspekte zeitgenössischer Sozialität bedienen sich digitaler Mittel oder haben digitale Komponenten. Digitale Technologien sind dabei in einem Ausmaß sozial geworden, das übergreifende Muster nach sich zieht, die sich zu einer postdigitalen Kultur verdichten. Das Präfix „post-“ meint in diesem Zusammenhang nicht das Ende oder die Abgeschlossenheit der digitalen Transformation, sondern soll deutlich machen, dass die entsprechende Kulturform auch über digitale Technologien hinaus ihre Wirkung entfaltet [9, S. 21; 54, S. 20].Footnote 2 Digitalisierung ist also sowohl ein Haufen heterogener Interventionen digitaler Technologien als auch eine Kulturform mit wiederkehrenden Mustern. Dieser Digitalisierungsbegriff schließt dann kulturelle Reflexionen und Einhegungen der Intervention digitaler Technologien in und durch das Soziale ein, denn auch scheinbar anti-digitale Techniken wie „Digital Detox“ sind erst in Auseinandersetzung mit Digitalisierung sinnvoll und als solche Teil postdigitaler Kultur [29, S. 42].

Digitalisierung in diesem Sinn betrifft schließlich nicht zuletzt die Arten und Weisen der Personalisierung. Generell ist Personalisierung kein digitales Phänomen, sondern eine allgemeine Form der Identifizierung menschlicher (und nicht-menschlicher) Wesen mit historisch und kulturell unterschiedlicher Gestalt [11, S. 181–189]. Eine Person zu sein bedeutet, als etwas erreichbar zu sein, das ein Selbstverhältnis unterhält und über eine Innenwelt verfügt [18; 33]. Personalisierung bezeichnet entsprechend den Aufbau dieser Erreichbarkeit. Ich werde die sozialtheoretische Fassung von Personalisierung im zweiten Kapitel genauer ausführen. An dieser Stelle sei festgehalten, dass der Modus der Personalisierung historisch variiert und deshalb vermutet werden darf, dass die Digitalisierung und ihre Kultur die Weisen der Personalisierung nicht unberührt lassen. Freundschaft beispielsweise – eine typische Beziehung der Personalisierung – ist heute im oben genannten Sinne postdigital, insofern sie auch mit digitalen Mitteln gepflegt wird [5, S. 16–25] und durch digitale Interventionen Wandel erfährt [4, S. 63–65]. Neben solchen Transformationen etablierter Personalisierungsweisen finden sich dann aber auch neue Formate, wie etwa jene Selfie-Fotografien, die ich im vorliegenden Text noch eingehender bespreche. Solche Mittel der Personalisierung sind – je nach sozialer und kultureller Position mehr oder weniger – essenziell, um für sich selbst und andere als Person und für persönliche Beziehungen erreichbar zu sein.

Im Folgenden werde ich insbesondere der Nutzer:innen-Seite der Personalisierung Beachtung schenken, weshalb ich an dieser Stelle kurz die Position der Nutzer:innen in der Digitalisierung besprechen will. Nutzer:innen verstehe ich nach einem Vorschlag der Medienwissenschaftlerin Olia Lialina (2012) [28] als Turing Complete Users.Footnote 3 Dieser Begriff markiert vor allem die kreativen Kompetenzen der Nutzer:innen, die grundsätzlich fähig seien, Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen – wenn nötig auch gegen die Architektur und Gestaltung der genutzten Systeme und Infrastrukturen. Aus diesem positiven Nutzer:innen-Konzept folgen dann nicht zuletzt Annahmen über jene Situation, die ich in Kontrast zu den Personalisierungsanstrengungen der Plattformen als die Nutzer:innen-Seite der Personalisierung untersuche. Diese lässt sich mit Lialina als Liaison zwischen Mensch und Maschine verstehen; nicht notwendigerweise eine Beziehung wechselseitiger Kontrolle, sondern eine dynamische Situation der Aushandlung, in der Leerstellen als Spielräume genutzt werden können. Lialina spricht von Situationen, in denen „the work flow of an application has gaps that can be filled by users, where smoothness and seamlessness are broken“ [28].Footnote 4 Ich stelle den folgenden Überlegungen dieses programmatische Nutzungskonzept voran, um die grundsätzliche Eigenständigkeit der Nutzer:innen-Position gegenüber infrastrukturellen Regulierungsanstrengungen zu markieren.Footnote 5

2 Elemente einer Soziologie der Personalisierung

Personalisierung ist kein neues Phänomen, nimmt aber im Zuge der Digitalisierung neue Formen an. Mit Blick auf soziologische Theorien zeigt sich Personalisierung nicht nur als Mittel der Manipulation, sondern als grundlegende soziale Form der Identifikation und Grundlage unterschiedlicher persönlicher Beziehungsformen.Footnote 6 So kann ich im Folgenden skizzieren, inwiefern Personalisierung als sozio-materieller Modus der Erreichbarkeit zu verstehen ist. Ein solcher Personalisierungsbegriff erfasst dann sowohl plattformökonomische Weisen der Identifikation und Prädiktion von Personen als auch Formen der persönlichen und intimen Selbstgestaltung. Denn Personalisierung kommt nicht nur zum Einsatz, wenn Plattformen ihre Angebote anpassen und Nutzer:innen zu kategorisieren suchen, sondern eben auch in den persönlichen Beziehungen der Liebe oder Freundschaft. Unter Bedingungen der Digitalisierung werden Nutzer:innen deshalb durch Plattformen personalisiert, nutzen diese aber zugleich, um sich selbst und andere zu personalisieren. Diese unterschiedlichen Situationen sollen im Rahmen einer Soziologie der Personalisierung nicht gleich, sondern vergleichbar gemacht werden. Mein Vorschlag eines sozialtheoretischen Konzepts von Personalisierung speist sich aus zwei Theorietraditionen; zum einen aus der soziologischen Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann, zum anderen aus Subjektivierungsforschungen ausgehend von Michel Foucault.

Der ersten Theorietradition – der soziologischen Systemtheorie – entnehme ich die Einsicht, dass Personalisierung soziale Erreichbarkeit zum Ziel hat. Person zu sein bedeutet, wiederholt als dieselbe adressiert werden zu können und über unterschiedliche Situationen hinweg erreichbar zu bleiben – nicht unverändert, aber wiedererkennbar als diese oder jene Person. Personen können in diesem Sinne auch als soziale Adressen verstanden werden – als Identifikationspunkte für „persönlich adressierte Erwartungen“ [18; 30, S. 431]. Eine paradigmatische Form dieser Erreichbarkeit sind persönliche Beziehungen wie Freundschaft oder Liebe. Hier sind Menschen füreinander in besonders intensiver Weise zugänglich, hier ist das Netz persönlich adressierter Erwartungen besonders dicht [31, S. 14; 56, S. 447; 55, S. 73]. Personen werden aber beispielsweise auch – weniger persönlich zwar, aber ebenso wenig austauschbar – in bürokratischen Kontexten durch Steuernummern und Ausweisdokumente als bestimmte Einzelne adressiert. Mit Blick auf die postdigitale Welt sind schließlich auch die Nutzer:innen von Plattformen persönlich erreichbar; für andere Nutzer:innen – für fans, friends und followers – und ebenso für das jeweilige Plattform-Unternehmen und deren personalisierte Ansprachen in Form von Empfehlungen, Werbung und anderen Beeinflussungsanstrengungen. In all diesen Fällen geht es darum, menschliche Wesen mit persönlich zugeschriebenen Erwartungen zu belegen und so wiederholt adressierbar zu machen. Den Aufbau dieser Form von Erreichbarkeit nenne ich Personalisierung.

Was durch Personalisierung erreichbar gemacht wird, darf nicht mit einem festen Kern des adressierten Menschen verwechselt werden, sondern ist ein soziales Artefakt [30, S. 430]. Systemtheoretisch gesprochen bedeutet das, Personen sind rein kommunikative Phänomene; genauer ein „Wiedereintritt der Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein auf der Seite der Kommunikation“ [18, S. 62]. Das heißt, Personalisierung erzeugt soziale Adressen, denen Selbstbezug und Bewusstsein unterstellt werden kann. Personalisierung geht in diesem Sinn immer mit der Zuschreibung einer Innenwelt einher [18, S. 62 f.]. Die Systemtheorie verortet diese Innerlichkeit und ihre Organisation in der Umwelt des Sozialen – die Person ist sozial, die Psyche individuell, und beide sind strikt voneinander getrennt, insofern sie sich durch unterschiedliche Systemoperationen organisieren. Bei der Beschreibung des Sozialen belässt es die Systemtheorie deshalb bei der Diagnose, dass Personen Selbstbezug unterstellt wird, ohne weiter zu fragen, inwiefern diese Innenwelt sozial mit konstituiert wird.

Ich möchte deshalb die systemtheoretische Theorie der Person an diesem Punkt durch Ansätze der Subjektivierungsforschung ergänzen. Letztere klammern die Selbstreferenz von Personen nicht aus, sondern untersuchen diese als Prozesse der Subjektivierung, in denen das Subjekt als „sozial-kulturelle Form“ [47, S. 47] gestaltet wird. Selbstreferenz wird so als soziale Genese von Innerlichkeit zum Thema der Analyse. Subjektivierungsforschung bedeutet dann zu untersuchen, „welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt“ [15, S. 12]. Personalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Subjektivierung und der Konstitution von Innerlichkeit, aber jede Personalisierung hat subjektivierende Effekte, insofern die Adressierung von Innerlichkeit zu ihrer Genese beiträgt – nicht jede Subjektivierung ist persönlich, aber jede Personalisierung ist subjektivierend. Die Subjektivierungsforschung liefert der Soziologie der Personalisierung so einen wertvollen Beitrag, weil sie die im Prozess der Personalisierung referenzierte Innerlichkeit und ihre soziale Konstitution in die Analyse einbezieht.

Geht man in dieser Weise vor, stoppt die Analyse also nicht an den Grenzen von Kommunikation und Semantik, sondern geht über diese hinaus, indem man die soziale Konstitution von Innerlichkeit mithilfe der Subjektivierungsforschung zum Thema macht, bringt dies einen weiteren wichtigen Aspekt der Personalisierung aufs Tableau; ihre Materialität. Generell befasst sich die Subjektivierungsforschung mit der Konstitution von Subjekten und versteht diese ausgehend von Michel Foucault als synchron und diachron kontingente Formen menschlicher Existenz [16, S. 265]. Menschen werden zu Subjekten im Rahmen von Prozessen der Subjektivierung, in denen Selbst- und Fremdformung in kulturellen und materiellen Praktiken zusammenwirken. Subjektivität ist hier keine natürliche Form des Menschen oder Grundlage der Erkenntnis, sondern – wie es Ulrich Bröckling kompakt zusammenfasst – ein „Produktionsverhältnis“ [7, S. 22].

Analysen dieses Produktionsverhältnisses – von Michel Foucault über Gilles Deleuze bis hin zu Bruno Latour – haben durchweg die Beteiligung der materiellen Welt stark gemacht [10, S. 134 f.; 14, S. 119 f.; 27, S. 269–296]. Materialität in dieser Weise einzubeziehen, bedeutet nicht, die Sozialität der Personalisierung aufzugeben, sondern diese im Gegenteil durch eine Ausweitung des Sozialen zu radikalisieren. Eine solche Ausweitung haben wenige so vehement vertreten wie Bruno Latour mit seiner „Soziologie der Assoziationen“ [26, S. 19–32]. Das Soziale ist hier nicht – wie aus Sicht der Systemtheorie – auf Kommunikationen beschränkt, sondern ein Modus der Assoziation und Verbindung, der ganz unterschiedliche Register der Realität verknüpft.Footnote 7 Entsprechend sind dann auch am Aufbau von Personen verschiedene, sowohl semantische als auch materielle Komponenten beteiligt, um Erreichbarkeit herzustellen und aufrechtzuerhalten.

In welcher Weise heterogene Komponenten für eine Personalisierung zusammenkommen, hat Bruno Latour mit dem Begriff der Plug-ins plastisch gemacht [26, S. 352–368]. Diese aus der Digitaltechnologie entlehnte Metapher referenziert die Möglichkeit, Software durch das Hinzufügen von Modulen in ihrem Funktionsumfang zu erweitern. Analog dazu markiert der Begriff im Kontext von Personalisierung, dass auch menschliche Wesen nicht schon von vornherein mit einer vollständigen Innenwelt ausgestattet sind. Stattdessen gebe es, so Latour, zahlreiche vermittelnde Komponenten, „die Individualität, Subjektivität, Persönlichkeit und Innerlichkeit befördern“ [26, S. 357]. Eben diese Mittler lassen sich mit Latour als Plug-ins bezeichnen und meinen damit all jene Elemente, die es Menschen ermöglichen, sich selbst und anderen Innerlichkeit und Intentionalität zuzurechnen. Analytisch bedeutet das, Innerlichkeit nicht vorauszusetzen, sondern nachzuvollziehen, „wie ein anonymer und generischer Körper dazu gebracht wird, eine Person zu werden: Je intensiver der Schauer angebotener Subjektivitäten, desto mehr Innerlichkeit erhält man“ [26, S. 359 f.].

Dieser knappe Durchgang einiger Elemente meines Vorschlags einer Soziologie der Personalisierung sollte verständlich gemacht haben, was es bedeutet, Personalisierung als sozio-materiellen Modus von Erreichbarkeit zu fassen. Personen sind dann aus Sinn und Materie zusammengesetzte soziale Adressen, die so stabil sind, dass sie wiederholt als solche referenziert werden können. Wie Personalisierung schließlich unter postdigitalen Bedingungen vonstattengehen kann, will ich im nächsten Teil am Fall von Selfie-Fotografien erörtern.

3 Selfies als Mittel postdigitaler Personalisierung

Selfies sind zunächst Fotografien, die Personen von sich selbst machen, um sie anschließend über Plattform-Dienste zu verbreiten [13]. Als Abbildungen von Personen – häufig persönlich erstellt und mithilfe unterschiedlicher Technologien – sind sie ein prägnanter Fall postdigitaler Personalisierung. Weil Selfies in mehrerlei Hinsicht von digitalen Infrastrukturen abhängen, sind sie in der Regel sogar in einem doppelten Sinn Mittel der Personalisierung; einerseits für Plattform-Unternehmen, die ihre Nutzer:innen zum Zwecke der Verhaltensprädiktion personalisieren, andererseits für Nutzer:innen, die mit ihrer Hilfe versuchen, für sich selbst und andere persönlich erreichbar zu sein. Im Folgenden will ich Ergebnisse einer von mir durchgeführten Studie vorstellen, die insbesondere die Nutzer:innen-Seite der Herstellung von Selfies im Blick hatte. Ziel dieser Besprechung ist es, den spezifischen Gestaltungsweisen dieser Personalisierung aufseiten der Nutzer:innen sowie ihren besonderen Schutzbedürfnissen näher zu kommen.

Ich habe oben mit Referenz auf die Subjektivierungsforschung und Latours Konzept der Plug-ins schon vorgeschlagen, Personalisierung generell als eine Versammlung heterogener Elemente zu untersuchen. Aus dieser sozialtheoretischen Perspektive sind dann auch Selfies nicht als isolierte Objekte relevant, sondern als Effekte einer sozio-materiellen Komposition, die persönliche Erreichbarkeit etabliert. Meine Annahme ist, dass sich an der Genese von Selfies nachvollziehen lässt, wie Nutzer:innen in diesem Fall versuchen, ihre Erreichbarkeit unter postdigitalen Bedingungen zu gestalten. Dieses Vorgehen erlaubt zwar keine generellen Aussagen über postdigitale Personalisierung, verspricht aber Thesen über mögliche Gestaltungsweisen, die weiter beforscht werden können.

Entscheidend für diese Herangehensweise ist nicht so sehr das fertige Foto als vielmehr die Situationen seiner Erstellung und Verbreitung, in denen die vielen beteiligten Elemente verschiedentlich in Beziehung gesetzt werden. Es gilt also auch in diesem Fall zu rekonstruieren, wie ein menschliches Wesen „durch einen Schwarm anderer Existenzformen“ [26, S. 367] dazu gebracht wird, als Person erreichbar zu sein. Dieser Ansatz erweist sich auch mit Blick auf die Forschung zum Thema als anschlussfähig; in der Literatur werden Selfies häufig nicht (ausschließlich) als fotografische Einzelobjekte untersucht, sondern als Phänomene, die mal als Objekte, mal als Praktiken wirken [13, S. 8; 34, S. 6; 48, S. 142; 52, S. 1589].

Methodisch habe ich eine autoethnografische Beobachtung der Produktion von Selfies aufseiten der Nutzer:innen durchgeführt und deren Ergebnisse mit theoretischen und empirischen Positionen aus der Literatur abgeglichen. Das heißt, ich habe selbst Selfies aufgenommen, veröffentlicht und den Prozess detailliert in einem Feldtagebuch dokumentiert. Generell ist das Ziel ethnografischer Forschung eine narrative Datenproduktion auf Basis persönlicher Erfahrungen, die anschließend systematisch reflektiert wird [20, S. 31]. Eine autoethnografische Forschungsstrategie bietet sich in diesem Fall aus zwei Gründen an [20, S. 81–85]; zum einen verspricht der ethnografische Zugriff in Form teilnehmender Beobachtung ein hochaufgelöstes und situiertes Bild der beteiligten Elemente sowie der Praktiken, die diese Elemente verknüpfen. Zum anderen ermöglicht ein autoethnografischer Ansatz die Teilnahme an den häufig stark individualisierten Situationen postdigitaler Personalisierung, die sich etwa zwischen Nutzer:innen und Smartphone abspielen und entsprechend schwer durch Dritte beobachtbar sind.Footnote 8

Die Analyse der so entstandenen Dokumentation zeigt schließlich, dass die Herstellung von Selfies nicht nur als momenthafte Versammlung heterogener Komponenten, sondern auch als verkettete Sequenz unterschiedlicher Situationen verstanden werden muss. Besonders prägnant tritt diese Verkettung in einem Eintrag des Feldtagebuchs aus dem Januar 2019 zutage: Den Anstoß, ein Selfie aufzunehmen, gibt in dieser Episode die Rezeption anderer Selfies, die einen spezifischen Filtereffekt nutzen. Um diesen an der eigenen Person zu testen, also ein Foto mit einer spezifischen App aufzunehmen, müssen Körper, Smartphone und Raum auf besondere Weise arrangiert werden. Unter diesen Bedingungen entsteht eine Reihe von Aufnahmen, die vom Interface der verwendeten Software zur sofortigen Veröffentlichung gedrängt werden. Entgegen diesem Sog speichert sie der NutzerFootnote 9 ab, um sie in einer nächsten Situation – an einem anderen Ort, in einer anderen Körperhaltung, mit anderer Software – zu sortieren, zu bearbeiten und mit Metadaten anzureichern, um die Aufnahme anschließend – in diesem Fall sogar erst am nächsten Tag – zu veröffentlichen. So eingespeist in die Plattform und somit anderen Nutzer:innen zugänglich gemacht, zieht das Selfie schließlich Feedback an, das dem Produzenten und Objekt des Selfies zurückgespielt wird.

Über jede dieser Stationen ließe sich vieles sagen, aber an dieser Stelle geht es mir vor allem um Folgendes: Das hier verfolgte Selfie durchschreitet heterogene Situationen und jede dieser Situationen trägt dazu bei, dass es zu dem wird, was es ist. Dabei ist unklar, ob die ausgewählte Episode in ihrer spezifischen Sequenz typisch für Selfie-Produktionen ist. Darüber hinaus handelt es sich um einen spezifischen Ausschnitt der Existenz des verfolgten Selfies, da die Perspektive des beobachtenden Nutzers zeitlich und räumlich limitiert ist. Notwendigerweise unbehandelt bleibt etwa, wie das Selfie durch Rechenzentren zieht oder in den Timelines anderer Nutzer:innen landet. Nichtsdestotrotz zeigt die geschilderte Episode – ebenso wie meine autoethnografische Dokumentation insgesamt –, dass die Herstellung eines Selfies viele verkettete Situationen kennt, um zu seiner Existenz zu kommen und persönliche Erreichbarkeit aufzubauen.

Ähnliche Überlegungen zur prozesshaften Existenz von Selfies finden sich in der Literatur. So argumentiert etwa Daniel Rubinstein, Selfies zeichneten sich durch ihre Verteilbarkeit (shareability) aus und seien deshalb zugleich Produkt ihrer Aufnahme sowie ihrer Veröffentlichung [51, S. 173]. Das Selfie existiert nicht nur an einem Punkt, sondern durchläuft notwendigerweise mehrere Situationen. „The right question to ask is not ‚what the selfie represents’ but ‚where it is‘“ [51, S. 175]. Ein Konzept dieser prozesshaft verteilten Existenzweise liefert Annemarie Mol mit ihrer praxeografischen Arbeit zur Untersuchung der Krankheit Atherosklerose. Auch diese durchlaufe unterschiedliche Situationen, so Mol, in denen sie auf verschiedene Weise praktisch ausgeführt (enacted) und erst so zur Existenz gebracht werde [38, S. 32 f.]. Die Krankheit und die von ihr befallenen Körper existierten damit ausschließlich im Prozess sozio-materieller Praktiken [38, S. 6]. Analog dazu lassen sich auch Selfies als Sequenzen unterschiedlicher Situationen und Praktiken fassen; Selfies werden im Zusammenspiel von Nutzer:in und Smartphone aufgenommen, durch Filter modifiziert, von App zu App geschoben und bearbeitet, an Plattformen übergeben, in Timelines eingeordnet und von anderen Nutzer:innen gesehen, gemocht oder kommentiert – und alle diese Situationen tragen zur Existenz eines Selfies bei.

Nachdem so hoffentlich ein Eindruck der verteilten Existenz von Selfies als Mittel der Personalisierung entstanden ist, möchte ich nun genauer bestimmen, auf welche Weise das Selfie im hier untersuchten Fall zur Personalisierung beiträgt. Noch einmal kurz zur Erinnerung: Personalisierung habe ich im zweiten Kapitel generell als den Aufbau der Erreichbarkeit einer persönlichen Innenwelt beschrieben. Eine Person zu sein bedeutet, als etwas erreichbar zu sein, das ein Selbstverhältnis unterhält. Die Analyse meiner ethnografischen Dokumentation liefert schließlich Hinweise auf eine Charakteristik der Selfie-Produktion, die in dieser Hinsicht aufschlussreich ist. Identifizierbar sind nämlich eine Reihe von Techniken in der Herstellung der beobachteten Selfies, die ich mit dem Begriff der Artifizialisierung zusammenfassen möchte. Das heißt, in der Genese der Selfies finden sich zahlreiche Momente der Vermittlung und Modifizierung, die die Direktheit der Fotografie überschreiben und Künstlichkeit an deren Stelle setzten. Diese Artifizialisierung in der Selfie-Produktion wirkt schließlich – so meine These – als ein Mittel der Personalisierung, weil sie den Gestaltungsprozess unter aktiver Beteiligung der abgebildeten Person transportiert.

Welche Rolle Artifizialisierung bei der Personalisierung durch Selfies spielt, zeigt sich in meiner ethnografischen Dokumentation an einer Episode aus dem Mai 2019. Motiviert durch ein im Auge des Nutzers gelungenes Outfit, kommt die Intention zu einem Selfie auf. Um das Outfit einzufangen, werden unterschiedliche Aufnahme-Situationen erprobt und mehrere Versionen des zukünftigen Selfies angefertigt. Hierfür werden eine Reihe kleinerer Teilpraktiken ausgeführt, um etwa die Position des Smartphones und des Körpers zu variieren oder wiederholt den Selbstauslöser der aufnehmenden Software zu aktivieren. Nach der Erstellung einer zweistelligen Anzahl an Fotos, werden diese in verschiedenen Apps weiterverarbeitet; das Selfie ist hier kein einziges Bild, sondern ein Bilderhaufen, aus dem durch Sortierung, Bearbeitung und Filterung wenige weitere Bilder raffiniert werden. Veröffentlicht werden schließlich zwei Fotos; zum einen das vom Nutzer als besonders gelungen bewertete Bild, zum anderen eine missglückte Aufnahme, auf der nur unscharf die Schulter des Nutzers zu sehen ist. Im Feedback durch andere Nutzer:innen nach der Veröffentlichung wird die Kombination positiv zur Kenntnis genommen. Das feinteilig komponierte erste Bild wird also von einem (ebenfalls manipulierten) Fehlschuss begleitet, der die Künstlichkeit der Produktion transparent macht. In dieser Episode – ebenso wie an anderen Stellen in meinen Daten – zeigt sich Artifizialisierung nicht nur als Technik der Gestaltung, sondern auch als sichtbare Komponente des Selfies. Artifizialisierung macht das Selfie als Ergebnis kontingenter Selektionen sichtbar und markiert so die Beteiligung des Nutzers an der Gestaltung.

Die Künstlichkeit der Selfies ist auch in der Forschungsliteratur präsent. Ramón Reichert etwa bezeichnet Selfies als zeitgenössische Form der prosopopeia, d. h. als eine Technik der Personalisierung von Dingen, durch die dem Selfie die „individuelle Ausdrucksweise des Persönlichen verliehen wird“ [48, S. 141]. Diese These markiert ein weiteres Mal, dass das Selfie aktiv ausgerüstet werden muss, um seine personalisierende Wirkung zu entfalten. Dass diese Ausrüstung scheinbar widerstreitenden Anforderungen folgt, erscheint in der Selfie-Forschung teils als Irritation. So diagnostiziert Laura Maleyka, Selfies würden einerseits die Künstlichkeit der Modell- und Star-Society imitieren und andererseits versuchen, ein authentisches Bild der Person zu erzeugen [34, S. 9]. Stellt man jedoch die Artifizialisierung von vornherein als konstitutive Technik in Rechnung, erscheint es wenig widersprüchlich oder problematisch, dass sich die Personalisierung über Selfies heterogener Ressourcen bedient. Schließlich identifizieren sowohl Brooke Wendt als auch Jill Rettberg die Filterfunktion einschlägiger Software als eine zentrale Komponente der Selfie-Produktion. Die bis zum heutigen Tag populären Filter zeigten, dass sich die Attraktivität von Selfies mithin aus der Möglichkeit speist, Versionen der eigenen Person zu erzeugen, um diese in neuer Weise zu erleben [6, S. 8]. Dabei sei es gerade die offensichtliche Künstlichkeit des Filters, die diese Distanzierung ermöglicht [49, S. 26].

Zusammenfassend möchte ich noch einmal die beiden Thesen nennen, die ich im Zuge der hier skizzierten Analyse der Personalisierung mittels Selfies aufseiten der Nutzer:innen zu entfalten versucht habe. Erstens handelt es sich bei dieser Form der Personalisierung um eine mehrfach verteilte Angelegenheit; für die Selfie-Produktion ist nicht nur ein Zusammenspiel heterogener Komponenten erforderlich, sondern auch eine Verkettung unterschiedlicher Situationen. Zweitens erweist sich Artifizialisierung als eine mögliche Technik, um Selfies zur Personalisierung zu nutzen. Künstlichkeit ergibt sich einerseits aus der verteilten Existenz der Selfies, weil die Verkettung unterschiedlicher Situationen Vermittlungen, Übersetzungen und Modifikationen notwendig macht. Anderseits befördert die Künstlichkeit des Selfies seine personalisierende Wirkung, insofern sie die Gestaltung unter aktiver Beteiligung der abgebildeten Person zugänglich macht. Die Person der Nutzer:in muss dafür nicht als kontrollierendes Zentrum aufscheinen, sondern als eine intentionale Instanz in einem Gemisch aus Effekten.

4 Schluss: Die Gestaltung persönlicher Erreichbarkeit und ihre Privatheit

Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, inwiefern die Personalisierung aufseiten der Nutzer:innen grundsätzlich eigenen Methoden und Zielen folgt. Basis dieser These ist die sozialtheoretische Einsicht, dass Personalisierung als notwendige Bedingung persönlicher Beziehungen aller Art zu verstehen ist. Als solche ist sie kein Effekt postdigitaler Kultur oder affektives Artefakt datenökonomischer Plattformen, sondern ein darüber hinausgehender Modus der Identifikation menschlicher Wesen, der schon vor der Digitalisierung wirksam war, aber auch für das Leben in einer postdigitalen Welt bedeutsam ist. Von daher darf ich annehmen, dass Nutzer:innen digitaler Technologien im Stande sind – sowohl mit als auch ohne Plattformen –, sich selbst und andere zu personalisieren. Oder mit Olia Lialina gesprochen: „General Purpose Users can […] find a way to publish photos online without flickr, tweet without twitter, like without facebook, make a black frame around pictures without instagram, remove a black frame from an instagram picture and even wake up at 7:00 without a ‚wake up at 7:00‘ app“ [28].

Zusätzlich zur grundsätzlichen Rolle persönlicher Erreichbarkeit konnte ich im untersuchten Fall einer postdigitalen Personalisierung mittels Selfies zwei Charakteristiken dieses Geschehens identifizieren: Verteiltheit und Artifizialität. Diese vermitteln einen Eindruck davon, in welcher Weise Nutzer:innen-Personalisierung vonstattengehen kann und sich von den Personalisierungsanstrengungen der Plattformen unterscheidet. Dies liefert keine vollständige Beschreibung postdigitaler Personalisierung, zeigt aber, dass aufseiten der Nutzer:innen eigene Methoden und Ziele verfolgt werden. Darüber hinaus dienen mir die zwei Charakteristiken im Folgenden als Anhaltspunkte, um den spezifischen Schutzbedürfnissen der Nutzer:innen-Personalisierung sowie einer dazu passenden Formen des Privaten nachzugehen.

Dabei ist keineswegs irrelevant, dass den Personalisierungsanstrengungen der Nutzer:innen häufig datenökonomische Strategien der Plattformen gegenüberstehen, die ihrerseits Personalisierung als Mittel einzusetzen versuchen. Mit Blick auf die lebhafte Debatte um solche Strategien der Manipulation steht eine Vereinnahmung der personalisierenden Praktiken der Nutzer:innen im Sinne der ökonomischen Interessen der Plattformen zu befürchten [60, S. 278–292]. Problematisch ist dies vor allem vor dem Hintergrund des weitreichenden Einflusses der größeren Plattformen, die nicht bloß spezifische Dienste anbieten, sondern ganze Märkte oder bestimmte Aspekte zeitgenössischer Sozialität regulieren [12; 53]. Diesen Einfluss nutzten die Plattformen schließlich dazu, die Personalisierung der Nutzer:innen ökonomischen Funktionen unterzuordnen; etwa mittels einer personalisierten Modulationen von Entscheidungssituationen [59] oder einer intimen Ansprache [45]. Auf diesem Weg werden Nutzer:innen für Werbende erreichbar gemacht [40], zu mehr Aktivitäten und Veröffentlichungen verleitet [23, S. 52] oder umgekehrt in ihrer Reichweite limitiert [22]. Hier zeigt sich eindrücklich, wie Plattform-Unternehmen versuchen, Personalisierungsanstrengungen der Nutzer:innen anzuziehen, zu kanalisieren und auszubeuten.

In dieser Situation stellt sich dann um so mehr die Frage, welche Weisen postdigitaler Personalisierung jenseits der Verwertung durch Plattformen möglich und gegebenenfalls schutzbedürftig sind. Es wäre ein Fehler, an dieser Stelle wahrhaftige Formen der Personalisierung zu unterstellen, die im Umgang mit den Plattformen verfälscht würden. Die oben aufgerufene Soziologie der Personalisierung macht unmissverständlich deutlich, dass es sich bei der Erreichbarkeit einer persönlichen Innenwelt nie um einen direkten Draht zum Kern der Person handelt, sondern stets um einen kontingenten Kompositionsprozess [17, S. 210; 30, S. 430; 26, S. 360]. Es kann deshalb nicht um eine Gegenüberstellung von authentischen und verfälschten Personalisierungsweisen gehen, sehr wohl aber um unterschiedliche, möglicherweise gegenläufige Weisen der Gestaltung persönlicher Erreichbarkeit. Es ist eben dieser Hintergrund, vor dem ich vorschlage, der Debatte um datenökonomische Personalisierung als Mittel der Manipulation eine komplementäre Position hinzuzufügen, die von der Nutzer:innen-Seite ausgeht und die Frage stellt, welche Formen der Personalisierung vor einer Manipulation durch Plattformen geschützt werden können und sollen.

Wenn die Personalisierung aufseiten der Nutzer:innen als eigenständige Weise der Gestaltung in Rechnung gestellt wird, darf dabei nicht unter den Tisch fallen, dass die entsprechenden Prozesse hochgradig verteilt ablaufen können. So sind mindestens in meinem Fall der Selfie-Produktion zahlreiche Elemente jenseits der Nutzer:innen wie etwa unterschiedliche Hard- und Software-Komponenten konstitutiv am Aufbau persönlicher Erreichbarkeit beteiligt. Solche Settings als eigenständige Größe zu behandeln, kann deshalb nicht bedeuten, sie auf isolierte Intentionen individueller Nutzer:innen zuzurechnen. Stattdessen dient mir die verteilte Genese als Anhaltspunkt für die Schutzbedarfe dieser postdigitalen Personalisierung. Schutzstrategien wie klassische Formen des Datenschutzes, die eine auf das Individuum zentrierte Kontrolle anpeilen, erweisen sich in derart dezentrierten Situationen jedenfalls schnell als unrealistisch oder gar kontraproduktiv [21; 57].Footnote 10

Geschützt werden sollte in solchen Fällen deshalb weniger der teils hohle Anspruch auf individuelle Kontrolle, sondern viel mehr die Möglichkeit, die beteiligten Komponenten im Sinne einer bestimmten Gestaltungsweise zu mobilisieren. Letztere geht nicht in individueller Kontrolle auf, sondern umfasst wechselhaftere Beziehungen zwischen Menschen und Maschine. Diese werden in der Literatur mit Metaphern wie Liaison [28] oder Tanz [24, S. 3] umschrieben, um zu markieren, dass sich Kontroll- und Handlungspotenziale im Prozess der Nutzung dynamisch verändern können. In meinem Fall liefert die beobachtete Technik der Artifizialisierung Hinweise darauf, in welcher Weise persönliche Erreichbarkeit gestaltet wird. Ziel ist hier nicht der möglichst unverstellte Zugang zur Person, sondern eine Verkettung von Vermittlungen und Modifikationen, die am Ende den Gestaltungsprozess selbst sowie die aktive Beteiligung der Nutzer:in transportiert. Der Schutzbedarf äußert sich deshalb weniger als Beschränkung des Zugangs zur Person und mehr als Regulierung möglicher Einflüsse auf die Gestaltung der persönlichen Erreichbarkeit.

Vor diesem Hintergrund will ich abschließend fragen, welche Rolle das Private in dieser Situation spielen kann. Verstanden als Sammelbegriff heterogener Praktiken der Beschränkung von Teilhabe, erweist sich Privatheit als historisch plastische Institution [43, S. 22–24]. Welche Praktiken der Teilhabebeschränkung jeweils als Privatheit formatiert werden, fällt abhängig von Zeit und Kultur verschieden aus. Von dieser Warte aus stellt sich dann nicht zwingend die Frage, wie Privatheit geschützt werden kann, sondern welche Privatheit einen passenden Schutz verspricht. Ohne diese Frage hier erschöpfend klären zu können, will ich auf weiterführende Ansätze verwiesen. Etablierte Prinzipien des Privaten wie individuelle Informationskontrolle [50, S. 201–215] oder Konzepte der kontextuellen Integrität [41, S. 127–148] scheinen jedenfalls mit verteilten und artifiziellen Weisen persönlicher Erreichbarkeit nur begrenzt kompatibel zu sein.

Demgegenüber lohnen sich empirische Bestandsaufnahmen der pluralen Privatheitspraktiken aufseiten der Nutzer:innen [3; 36; 42; 44]. Diese offenbaren pragmatischen Erfindungsreichtum, wenn Alternativen zu individueller Kontrolle gefragt sind. Allerdings sind viele der beobachtbaren Praktiken gegenüber mächtigen Plattformen nur beschränkt wirksam. Die institutionellen Grundlagen dafür zu schaffen, dass Nutzer:innen solche Probleme weniger individuell lösen müssen und stattdessen gerechtfertigt delegieren können, erweist sich als ebenso anspruchsvoll wie wünschenswert [57]. Insgesamt scheint hier eine Privatheit angebracht, die Möglichkeiten und Einflüsse auf die Gestaltung persönlicher Erreichbarkeit reguliert. Diese Privatheit müsste keine individuell autonome Gestaltung garantieren, sondern vielmehr unterschiedliche Personalisierungsanstrengungen so voneinander abschirmen, dass verschiedene Formen der Erreichbarkeit gelten können, ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen [37, S. 70].