Ende 2015 lerne ich Familie A. auf dem Gelände des Landesamtes kennen. Nachdem ich Herrn und Frau A. beim Ausfüllen eines Formulars geholfen habe, folgt Herr A. einer Mitarbeiterin der Behörde, um einen Antrag auf Unterkunftswechsel zu stellen. Mit seiner Erlaubnis warte ich in den Gängen des Landesamts und unterhalte mich mit Frau A., bis ihr Ehemann zurückkehrt. Als er wieder bei uns ist, reden wir beim Verlassen des Landesamts ein wenig über das komplizierte Asylverfahren und die unzumutbaren Zustände ihres Heims. Vor dem Gebäude berichte ich Familie A. von meinem Forschungsprojekt und bitte um Erlaubnis, mehrere Gespräche mit Frau A. zu führen, da ich bis jetzt noch nicht die Gelegenheit hatte, eine afghanische Frau zu interviewen. Die Eheleute A. sind einverstanden, und wir vereinbaren zeitnah einen Termin. Zum Zeitpunkt der Interviewphase Anfang 2016 ist Zara A. 41 Jahre alt. Während ihr Mann regelmäßig die Termine in der Behörde wahrnimmt, haben wir genügend Zeit, miteinander zu sprechen. Wir treffen uns aber auch einmal an ihrem Heim in Berlin Charlottenburg und in einem Café gleich am Landesamt. Insgesamt kommen bei vier Treffen knapp fünf Stunden Interviewzeit zusammen. Bei den Treffen befindet sich ihre Tochter (19) in der unmittelbaren Nähe von Zara A. Sie hat sich bei Zara eingehakt und befindet sich permanent neben ihr. Beide sind sehr mager und blass. Selbst ihre Mimik ähnelt sich. Sie schauen meistens auf den Fußboden. Nur wenn ich (als Mann) eine von ihnen anspreche, schauen sie auf. Die asymmetrische Beziehung zwischen uns ist mir von Beginn an unangenehm bewusst. Durch die quasi normalen Gespräche (siehe Abschn. 2.4) kann jedoch den Umständen entsprechend Vertrauen aufgebaut werden, so dass diese Kluft in den folgenden Wochen etwas reduziert wird.

Das erste Treffen findet Anfang Januar im Landesamt statt. An diesem Tag möchte Herr A. bei seiner Sachbearbeiterin in Erfahrung bringen, weshalb seine Tochter nicht die Schule besuchen darf. Bei dieser Zusammenkunft berichtet sie mir von ihrem Leben und ihren bisherigen Erfahrungen im Heim. Zara ist in der Nähe von Herat in Westafghanistan aufgewachsen und darf nur drei Jahre die Schule besuchen. Mit knapp 14 Jahren wird sie bereits mit ihrem Mann verheiratet, weil ihre Familie sich nicht mehr um sie kümmern kann.

„Ich musste mich dann um den Haushalt meines Mannes kümmern. Zur Schule durfte ich nicht mehr. Der Krieg hat getobt. Die Sowjets zuerst, dann der Bürgerkrieg, die verfluchten Taliban. Mein ganzes Leben bestand aus Krieg und badbakhti. Wenn mal kein Krieg herrschte, wurde ich unterdrückt oder (…)Footnote 1 ach, diese badbakhti in meinem Leben. Nur die Kindheit war schön. Mein Vater musste dann in den Krieg ziehen, meine Brüder auch. Dann bin ich mit meinem Ehemann in den Iran geflüchtet. Damals war ich 14, glaub ich. Ja, genau, 13 bis 14. Das weiß ich alles gar nicht mehr genau. Seitdem ich hier bin, erhalte ich ganz viele Medikamente und seit einiger Zeit auch Antidepressiva. Die meisten nehmen das. Im Heim gehen die Medikamente herum (…). Aber ich bin nun noch orientierungsloser und vergesslicher als vorher. An unserer Lage hat sich nichts verändert.“

In den biografischen Erzählungen kommt Zara immer wieder auf aktuelle Probleme zu sprechen. Sie springt von schweren Ereignissen der Vergangenheit häufig in die Gegenwart und beschreibt besorgniserregende Verhältnisse in Berlin. Zara flüchtete zunächst mit ihrem Mann nach Maschad in den Osten Irans. Nach über zehn Jahren kehrte sie mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan, um sich von der sterbenden Schwiegermutter zu verabschieden.

„Mein Mann ist immer zum Mullah in die Moschee, weil er keine Arbeit bekommen hat. Nur Gelegenheitsarbeiten. Drei meiner fünf Kinder sind im Iran geboren. Dort haben wir dennoch keine Dokumente bekommen. Das ist immer so mit den Afghanen im Iran. Neuerdings benutzen sie uns als Kanonenfutter im Syrienkrieg. Afghanischen Männern wird ein hohes Gehalt versprochen, dafür müssen sie in den Krieg ziehen. Außerdem versprechen sie uns dann einen dauerhaften Aufenthaltsstatus mit offiziellen Dokumenten. Das ist unser Schicksal. Was soll ich sagen? Nach fast zehn Jahren sind wir wieder zurück nach Afghanistan. Da wollte mein Ehemann seine sterbende Mutter sehen. Von meiner Familie war nur noch ein Bruder am Leben geblieben. Im Iran sind wir Fremde gewesen, und als wir wieder in Afghanistan waren, haben sie uns wie Verräter behandelt. Ich habe keine Lust mehr. Wirklich. Seitdem wir hier sind, ist alles schlimmer geworden. Wenn wir abgeschoben werden, ist unser Leben vorbei. Wir haben alle so Angst, abgeschoben zu werden.“

In der Stegreiferzählung thematisiert Zara die schweren Diskriminierungen, die sie als Minderheit sowohl in Afghanistan als auch im Iran erfahren hat. Sie gehört zu den Hazara, einer Ethnie, die sich zum Schiitentum bekennt.Footnote 2 Auf meine Frage, wie sie sich in Berlin fühle, erwähnt Zara sehr häufig ihr hartes und leidvolles „Schicksal“Footnote 3 und lächelt dabei.

„Als Schiiten wurden wir immer diskriminiert in Afghanistan. Im Iran sind wir diskriminiert worden, weil wir aus Afghanistan kommen. Wir sind weder Afghanen noch Iraner, und hier hausen wir wie die Tiere. Unser Schicksal. […] Nichts dürfen wir machen. Meine Tochter darf auch nicht zur Schule. Nur so seltsame Kurse im Heim mit wechselnden Lehrern. Die anderenFootnote 4 dürfen aber ihre Kinder zur Schule schicken.“

Dann zeigt sie mir ein Schreiben der Behörden, in dem steht, dass ihre Tochter keinen Schulplatz bekommt. Auf die Frage, was ihr noch Freude mache, antwortet sie:

„In Afghanistan habe ich mich wie im Käfig gefühlt. Die einzige Freude ist das Lachen meiner Kinder. Mit meinem Mann war auch nicht immer alles toll. Aber darüber will ich nicht reden. Das war auch gar nicht so schlimm, wie die ganzen Diskriminierungen von den anderen. Wir mussten uns immer nur mit Hazara treffen. Auf Hochzeitsfeiern oder bei anderen Festlichkeiten. Unsereins wird dort von den meisten anderen gehasst. ‚Schlitzaugen, die Dreck fressen und daran ersticken sollen‘, das hörte ich immer und immer wieder. Das ist normal in Afghanistan. In Afghanistan kommen einfach alle und bewerfen dich und deine Kinder mit Dreck. Wenn du Hazara bist oder zu einer anderen Minderheit gehörst, wirst du von der sunnitischen Mehrheit fertiggemacht. […] Ich hatte immer Angst, wenn wir draußen waren. Für die bist du immer nur Dreck.“

Beim nächsten Treffen vor ihrer Unterkunft sitzen wir gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Ehepartner auf einer Bank und unterhalten uns über die neusten Nachrichten aus Afghanistan. Ich frage sie nach ihrem Leben in Afghanistan und sie berichtet mir von zahllosen Diskriminierungen: In Afghanistan gilt sie als „Verräterin“ und zählt zur ethnischen (Hazara) und religiösen (Schiitin) Minderheit, während sie im Iran als Geflüchtete leben muss und von der persischen Mehrheitsbevölkerung gemieden und abgewertet wird. Die daraus resultierende fehlende Verankerung hinsichtlich ihrer Identität beschreibt sie häufig als frustrierend. Im Rückblick schildert sie ihr Leben „wie im Käfig“ und betont damit ihre Unfreiheit. Obwohl die Umstände sich änderten, beispielsweise durch die Flucht in die Islamische Republik Iran, blieb das Gefühl, eingesperrt zu sein. Auf meine Frage, was sie genau meine, wenn sie von ihrem harten Schicksal spreche, verweist sie mehrfach auf die Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Nation. Der Ehemann nickt unentwegt und lächelt freundlich, während ihre Tochter nichts sagt. Bei der nächsten Begegnung mit Zara warten wir erneut im Landesamt darauf, dass ihr Mann von einem Termin zurückkommt. Ich frage nach ihren Gefühlen und ihren konkret Wünschen für die Zukunft. Mutter und Tochter lächeln auf diese Frage, und erst nach mehreren Versuchen meinerseits antwortet Zara:

„Ich hätte mir gewünscht, zur Schule zu gehen, Bildung zu bekommen. Ich wünsche meinen Enkeln, dass sie hier aufwachsen und zur Schule gehen können. […] Ich bin ungebildet und dumm. […] Alles, was ich möchte, ist, dass meine Kinder glücklich werden (…) Wenn ich für meine Familie kochen dürfte, würde ich mich viel besser fühlen. Aber wir dürfen ja nichts. […] Ich war Hausfrau. Ich habe mich um meine Kinder gekümmert. Ein paar entfernte Verwandte waren auch da. Als Frau können Sie nicht einfach auf den Markt, um Sachen zu kaufen. Sie müssen ständig in Begleitung sein. Einmal ist eine Freundin allein auf den Markt gegangen, ohne ihren Sohn, die wurde dann geschlagen. Das ist immer so. Die Taliban machen alle Gegenden unsicher. Aber nicht nur die. Eigentlich sind das kriminelle Banden auf der Suche nach Opfern. Ihnen geht es nicht um Islam oder Gott. Hätten nicht ein paar starke Männer direkt geholfen, wäre sie mit Sicherheit verschleppt und vergewaltigt worden. Wie die Tiere. Ich hab die Nase voll. Wirklich. Ich dachte, hier wird alles besser. […] Vieles ist so schmerzhaft in meinem Leben, dass ich gar nicht alles erzählen kann. Ich will gar nicht an alles erinnert werden. […] Wir wollen wirklich nicht wieder zurück.“

Das nächste Treffen findet im Café gleich am Landesamt statt. Dort warten wir wieder auf ihren Ehemann und trinken Tee. Ich frage sie nach den ethnischen Diskriminierungen, von denen sie mir lebhaft berichtet:

„Wir sind die Armseligen, die hier seit Ewigkeiten warten müssen. Die Araber hassen uns hier. Das ist klar, jeder weiß es. Schauen Sie doch, die Araber warten höchstens drei Monate, dann sind sie weg. Sie beleidigen uns in den Warteschlangen für die Essensausgabe, in den Warteschlangen beim Sozialamt. Dann sind die Afghanen selbst genauso zu uns, sobald sie merken, dass wir Hazara sind. Schiiten werden von Sunniten gehasst. Muss man das noch schönreden? […] Wir werden hier wirklich verrückt. Wir hausen wie die Tiere, wir haben keine Würde mehr hier. Und das in Deutschland. Das hätten wir nie gedacht. Wir dachten, wir würden eine angemessene Wohnung bekommen und ein neues glückliches Leben beginnen können. […] Es schmerzt zu sehen, wie andere das bekommen, weshalb wir hergekommen sind. (…) Die Araber dürfen auch kochen und Besuch bekommen. Wir nicht.

[…] Alle sagen, dass Afghanen keine Chance haben, hier zu bleiben. Und wir kriegen das ja mit. Immer wenn Post kommt, sterbe ich tausend Tode. Ich krieg Atemnot und kippe beinahe um. Wir hatten unser Interview gerade erst. Wenn andere Afghanen ihre Ablehnung per Post bekommen, ist das sehr schlimm. Die Familie weint dann und die Araber lachen die aus. Im Camp ist es fürchterlich. Dieser ganze Lärm, dieser Gestank, alles macht mich krank. Im Heim ist es so überfüllt. (…) Die Araber hassen uns.“

Kurz nachdem Zara bemerkt, dass Gott und ihre Kinder die einzigen Faktoren in ihrem Leben seien, die sie am Leben erhalten, platzt ihre Tochter unvermittelt damit heraus:

„Sie wollte sich schon mal das Leben nehmen, mit Tabletten. Im Iran. Und hier auch wieder.“

Auf meine Nachfrage führt sie ihren versuchten Suizid nach kurzem Zögern aus:

„Ich konnte einfach nicht mehr. Ich fühlte mich gefangen und wollte nicht mehr. Hier war das genauso. Die haben mir den Magen ausgepumpt und ein paar Tage später war ich wieder im Heim. Das war’s. Ich lebe noch. Naja, wir gehörten nie dazu. Im Iran auch nicht. Und jetzt hier. Ts. (…) Hier hassen uns alle. Die Deutschen, die Araber. Ich verstehe das, so wie die sich hier benehmen. Kein Wunder, dass die Nazis uns hassen. In Afghanistan ist es normal, Menschen abzuschlachten wie Tiere. Hier machen sie einen Aufstand, wenn Männer mal Frauen schlagen. (lacht) Das ist so witzigFootnote 5. Ich meine, das ist gut. Die Deutschen sind sehr nett, all diejenigen jungen Menschen, die uns immer helfen. Aber ich brauche doch nur eine Wohnung mit einer Küche, damit ich meinen Kindern Essen kochen kann, das sie mögen. Was ich nicht verstehe, ist, warum Deutschland so viele Geflüchtete aufnimmt, wenn kein Platz vorhanden ist. Wir leben hier wie die Tiere. Zusammengepfercht, wie die Tiere. Was soll das? Wir warten so lange hier und nichts passiert. Jeden Tag müssen wir warten. Wir sind zu totalen PsychosFootnote 6 geworden. Was noch? Immer und immer wieder laufen wir zum verfluchten Sozialamt, warten den ganzen Tag vor der Tür, dann kommt jemand und sagt, wir sollten morgen wiederkommen. Nur um unser Geld abzuholen. Sie wissen das doch! Ist das gerecht? Ist das menschlich? Ich hätte das niemals gedacht. Wir sind nur hergekommen, weil wir dachten, wir könnten ein freies und sicheres Leben anfangen. […] Ich wollte einfach nicht mehr leben und mir war alles gleichgültig geworden.“

Im Ankunftskontext spürt Zara, so meine Interpretation, wie sich alles für sie verändert. Die langen ergebnislosen Wartezeiten bei den Ämtern, die ständige Benachteiligung in Sachen Integration und letztlich die Androhung einer Abschiebung nach Afghanistan bringen sie an ihre Grenzen. All diese Faktoren machen sie zunehmend handlungsunfähig, und das vor dem Hintergrund einer beschwerlichen und gefährlichen Flucht. Dabei hatte sie angenommen, alles werde besser, wenn sie einmal in Deutschland sei. In den ersten Gesprächen scheint Zara die Ambivalenzen im Ankunftskontext recht einseitig aufzulösen. Sie gibt unverkennbar zu verstehen, dass sie sich als „Opfer“Footnote 7 versteht und dem emotionalen Stress deshalb nur mit Resignation begegnen kann. Zara begreift den Ankunftskontext in Berlin als ironischen Höhepunkt ihres traurigen Schicksals. Dabei erlebt sie sich selbst aufgrund der vielen Schwierigkeiten in der Institution Asyl als unfähig, effektiv gegen die Restriktionen vorzugehen und wertet sich darüber hinaus unentwegt ab. Sie vergleicht ihre Position sehr oft mit der eines Tieres und verweist auf ihr „armseliges Schicksal“, wobei die Position des Tieres sich zumeist auf die Unterbringungssituation bezieht. Die Selbstabwertung ist in ihrer Art, zu sprechen und sich zu bewegen, deutlich zu spüren. Sie nuschelt z. B. häufig, nimmt eine gebückte Haltung ein und schaut nur sporadisch hoch. Dabei ist sie, wie ihre Tochter, ganz verschleiert; nur das Gesicht ist sichtbar. Zaras geringes Selbstwertgefühl wurde ihr gesamtes Leben hindurch in den Interaktionen mit dem jeweiligen Umfeld bestätigt, das ihre Tendenz zur Selbstabwertung weiter verstärkte und sie zu einem festen Charakterzug ausprägte. Der Ankunftskontext nach einer Flucht ist zwar generell schwierig und führt bei zahlreichen Geflüchteten zu psychischen Krankheiten; die strikteren Gesetze des Asylpakets IIFootnote 8 und die selektive Haltung des BAMF gegenüber Geflüchteten aus bestimmten Gebieten erschweren den Ankunftskontext jedoch deutlich, so dass die Wahrscheinlichkeit einer emotionalen Krise für Asylbewerber*innen aus solchen Regionen steigt. Für den Großteil der afghanischen Asylbewerber*innen bedeutet die selektive Haltung der deutschen Flüchtlingspolitik eine Spielart der Hierarchisierung von Asylbewerber*innen. Die bevorzugten Asylbewerber*innen – in diesem Fall diejenigen aus Syrien – stehen dabei ganz oben. Das Phänomen der „ethnischen Hierarchisierung“Footnote 9 durch das Aufnahmeland ist eines der Hauptgesprächsthemen unter Afghan*innen, da sie größtenteils von ihr betroffen sind. Dabei geht es nicht um die tatsächliche Abschiebung von Asylbewerber*innen aus Gebieten mit geringer Anerkennungsquote, sondern vielmehr um die steigende Produktion prekärer Lebensverhältnisse im Aufnahmeland Deutschland. Die allermeisten afghanischen Asylbewerber*innen werden nicht abgeschoben, lediglich Straftäter*innen werden zurückgeflogen. Man kann davon ausgehen, dass beinahe alle Asylbewerber*innen aus Afghanistan weiterhin in der Bundesrepublik bleiben dürfen, allerdings mit erheblichen Einschränkungen in den ersten fünf bis sechs Jahren. Zara spricht oft wesentliche Aspekte der Unterbringungsproblematik an und bringt dies mit der Hierarchisierung in Zusammenhang. Allerdings wirft sie vieles durcheinander und unterstellt eine grundsätzliche Verschwörung gegenüber Afghan*innen, insbesondere der hazarischen Minderheit. Die Lage abgelehnter Asylbewerber*innen in Berlin scheint ohnehin ein guter Nährboden für Verschwörungstheorien und extreme Befindlichkeiten jeglicher Art zu sein. Besonders bei jungen Personen beobachte ich dies während meiner Feldstudie: Vulnerable junge Männer berufen sich meist auf längst vergangene oder nie dagewesene „gute Zeiten“ in der Heimat und vermischen ihre Wut und Frustration mit konfusen Ideen, die den westlichen Imperialismus als Hauptgrund für ihr Elend begreifen. Durch die Ungleichheitserfahrungen vergrößert sich das Gefühl der Minderwertigkeit bei diesen Personen. Sie sind besonders anfällig für Halbwahrheiten populärer Verschwörungstheorien – gerade dies auch dürfte Radikalisierungstendenzen mitten in Deutschlands Hauptstadt Tür und Tor öffnen. Nicht selten wird hierbei an die selektive Flüchtlingspolitik und die daraus entstehende „ethnische Hierarchisierung“ der unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen angeknüpft, wobei gerade Letztere als Bestätigung für die menschenrechtswidrige Flüchtlingspolitik gesehen wird. Für unseren Kontext ist der Bezug auf die ethnischen Hierarchisierungen insofern von Belang, als sie bei meinen Interviewpartner*innen mit starken Affekten verbunden sind und diese die fehlenden Zugehörigkeitsgefühle verstärkt mit Narrativen und entsprechenden Affekten belegen. In unseren Gesprächen wiederholt Zara viel, dabei lässt sie aber beiläufig neue Informationen einfließen, wie zum Beispiel die Uneinigkeiten mit ihrem Ehemann, von denen sie nicht reden möchte. Im Ankunftskontext entsteht extremer Druck für Zara. Insgeheim hoffte sie auf ein besseres, leichteres Leben. Sie wünschte sich vor der Flucht nach Deutschland, dass ihre Kinder möglichst rasch zur Schule können, ihr Mann eine Arbeit findet und sie in Ruhe ein sicheres Leben verbringen kann. Die Desorganisation der Behörden, die Inkompetenz zahlreicher Sachbearbeiter*innen sowie überzogene, teils völlig unrealistische Erwartungen seitens der Asylbewerber*innen sorgen für eine äußerst unharmonische Atmosphäre im Alltag des Asylprozesses für alle Beteiligten. Zahlreiche afghanische Asylbewerber*innen fragen mich besonders in der Anfangszeit ihrer Ankunft in Deutschland danach, wann sie denn endlich ihr „Haus“ und ihr „Auto“ bekommen würden. Diese falschen Erwartungen hängen damit zusammen, dass afghanische Asylbewerber*innen ihren Familien und Freunden aus der Heimat nicht die Wahrheit über die widrigen Umstände im Ankunftskontext berichten. Sie erzählen vielmehr von schlaraffenlandartigen Zuständen, die wiederum in anderen Personen aus Afghanistan den Wunsch aufkeimen lässt, ebenfalls an diesem Reichtum teilzuhaben. Der Ankunftskontext zwingt Zara somit zur Modifikation ihres Umgangs mit ihren Gefühlen. Der Schmerz enttäuschter Erwartungen im tatsächlichen Ankunftskontext geht mit dem ständigen Gefühl der Angst und Verunsicherung einher. Seitdem Zara von der Ablehnung ihres Asylantrages weiß, ist sie in eine schwere Depression geschlittert. Die fehlende Privatsphäre ist ein entscheidender Faktor in Zaras Lebenswelt. Die Institution Asyl bringt es mit sich, dass für Asylbewerber*innen kaum privater Raum existiert. Wie mir zwei Kontakte, Hamida R. (27) und ihr Ehemann Abdul R. (35) Mitte 2016 in einem spontan stattfindenden Gespräch am Landesamt mitteilen, werden die Briefe etwa beim Essen verteilt; durch die Beschriftung der Briefkuverts lässt sich in diesen Situationen mühelos erkennen, ob es sich um einen Brief des BAMF handelt. Welchen Schutzstatus sie erhalten, können sie, wie in den allermeisten anderen Flüchtlingsunterkünften, nicht geheim halten. So wird der alles entscheidende Asylbescheid zu einem halböffentlichen Ereignis während der Essensausgabe. Nicht selten mischen sich Sicherheitsbedienstete in solchen Situationen ein, jedoch mit der Folge, dass die Situation aufgeheizt wird. Auch Hamida und Abdul müssen sich anschließend vor den Sicherheitskräften für ihre emotionale Reaktion auf den Ablehnungsbescheid rechtfertigen. In etlichen Gesprächen mit anderen Afghan*innen wird mir dies bestätigt. Unnötige Beleidigungen oder machthaberische Verhaltensweisen seitens der Securities werden von einigen Asylbewerber*innen als Provokation gedeutet. Andere werten diese Verhaltensweise als Aufforderung, ihre mitgefangenen „Konkurrenten“ zu verspotten. Die fehlende Privatheit Zaras ist integraler Teil ihres neuen Lebens, in dem alle „Schicksalsgenossen“ (Goffman 1973: 17) ihre täglichen Aktivitäten gemeinsam verrichten. Zara erwähnt sogar, dass sie und ihre Kinder angesichts der dünnen Wände im Heim den Geschlechtsverkehr ihrer Nachbarn allzu deutlich mitbekommen. Zudem stören brüllende Kinder, die jederzeit ins Zimmer hereinplatzen. Ob in dieser Situation ein Integrationsprozess stattfinden kann, ist fraglich. Um die Lage, der sich Zara ausgesetzt sieht, zu verstehen, ist es wichtig, die Verschärfung tiefsitzender Feindseligkeiten zwischen den Flüchtlingsgruppen durch den totalitären Charakter der Institution Asyl zu erkennen. Asylbewerber*innen sind in diesem System gezwungen, um die grundlegenden Ressourcen der Integration zu kämpfen. Die Verteilung wesentlicher Faktoren der Integration – Sprache, Schule, Arbeit etc. – hängt mit der Stärke des Schutzes durch den Aufenthaltstitel zusammen. Das Stichwort ist hier „Bleibeperspektive“ und steht in Zusammenhang mit der ethnischen Hierarchisierung im Asylprozess. Besonders in puncto Sprachkurse für Kinder – einem der Hauptanliegen Zaras für ihre Kinder – gibt es im Feld häufig emotionale Ausnahmesituationen – etwa dann, wenn Eltern vor der Tür des Sprachkurses erleben, wie beim Einlass nach Herkunftsstaaten selektiert wird und am Ende die „Verlierer“ draußen bleiben müssen. Einmal, im Spätsommer 2016, bin ich Zeuge einer solchen Situation, die ich in meinem Tagebuch wie folgt festgehalten habe:

„Einige afghanische, pakistanische und ganz viele schwarze Asylbewerber*innen stehen vor der Tür eines ‚guten Sprachkurses‘. Ich bin mitten unter ihnen. Die ‚guten Sprachkurse‘ werden von kompetenten Lehrer*innen abgehalten und arbeiten mit verständlichen Büchern und Arbeitsheften. Die ‚schlechten‘ sind diejenigen Kurse, die von ständig wechselnden Ehrenamtler*innen realisiert werden und recht unstrukturiert sind. In der Regel bringen diese auch nichts, weil keine Qualifikation für ein Sprachniveau (A1, A2 etc.) erreicht wird. Eine Lehrerin kommt vor die Tür und beginnt auszusortieren, indem sie mit der einen Hand mit einem Blatt herumwedelt und „Syrien, Irak, Eritrea“ schreit (auf dem Blatt sind die Flaggen dieser Länder gedruckt, damit die entsprechenden Personen sie gleich erkennen und hereintreten), und mit der anderen eine Liste der angemeldeten Teilnehmer*innen festhält. Während die anerkannten Asylbewerber*innen lauthals miteinander scherzen und freudig in den Kursraum laufen, stehen ‚wir‘ anderen im äußeren Kreis. Die meisten wissen bereits, was gleich passieren wird, doch einige versuchen trotzdem die Lehrerin zu überzeugen, dass das unfair sei und sie den Kurs unbedingt bräuchten. Sie scheint bestens darauf vorbereitet und bringt gleich den nächsten Zettel hervor, auf dem die neusten Gesetzesregelungen bezüglich der Sprachkursteilnahme draufstehen. Eine Mutter verliert schließlich völlig die Beherrschung und beschimpft die junge Lehrerin als Nazi, und dies, während ihre Kinder regungslos und entsetzt die Szene beobachten. Als die Tür schließlich zugeknallt wird, nachdem das Wort ‚Nazi‘ vernommen wurde, stehen wir alle schockiert vor der Klassentür. Gleich danach versuche ich der Mutter Trost zu spenden. Auf ihre Frage, weshalb das demokratische Deutschland sowas praktiziert, kann ich beim besten Willen keine angemessene Antwort geben, obwohl mir die offizielle Erklärung (un)sicherer Bleibeperspektiven‘ bekannt ist. Beim Übersetzen der offiziellen Erklärung merke ich, wie absurd diese Regelung ist, und breche meine gutgemeinten Bemühungen ab. Ich spüre in dem Augenblick, wie sehr ich mich angesichts dieser unangemessenen Regelung schäme. Die unterschiedlichen ‚Verlierergruppen‘ schauen sich kaum gegenseitig an und verlassen das Gebäude.“

Etliche Informant*innen bestätigen mir durch ähnliche Schilderungen, zu welchen Ausschreitungen und Kämpfen es kommt, wenn Eltern ihren Kindern die wenigen Plätze in Schulen und Sprachkursen sichern möchten. Die daraus resultierenden Ungleichheitserfahrungen und –gefühle treffen auf Unverständnis bei Zara, deren Kinder noch keinen festen Schulplatz haben, und drängen sie noch weiter in die Resignation. Insbesondere die Missgunst unter verschiedenen ethnischen Gruppen ist immer wieder spürbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Feindseligkeit im Feld täglich auf vielen Ebenen kommuniziert wird, etwa auch bei Sprachmittler*innen und Sicherheitsbediensteten.Footnote 10 Diese sollten im Idealfall neutral und behilflich sein, in Wirklichkeit bilden sie Probleme erst heran, weil sie selber rassistische Denk- und Verhaltensweisen aufweisen und aufgrund dessen bereits bestehende Feindseligkeiten unter Flüchtlingsgruppen ankurbeln. Zudem stellt die fehlende Privatheit und die willkürliche Einmischung der Securities eine grundlegende Verletzung der Kernelemente einer adäquaten Unterbringung gemäß der UN (UN Habitat o. J.: 3 f.) dar. Die für die totale Institution Asyl typische fehlende Trennung zwischen Schlaf, Arbeit und Freizeit (Täubig 2009: 46) bildet so einen Nährboden für zahllose Verletzungen international gültiger Menschenrechtsnormen.Footnote 11 Zara befindet sich inmitten der Totalität, indem sie mit ihrer Familie über Jahre hinweg in einer kleinen gefängnisähnlichen Zelle „hausen“ muss, um ihre Anerkennung zu erhalten. Der ständige Vergleich mit Tieren, den Zara anstellt, erinnert an die Würde des Menschen. Eine langfristig handelnde Flüchtlingspolitik muss in diesem Punkt einsehen, dass Art. 1 GG nicht relativierbar ist.Footnote 12 Die Demütigung, die Zara erfährt, wenn sie am helllichten Tag aufgrund obszöner Geräusche gezwungen ist, mit den Kindern nach draußen zu gehen, mag für Außenstehende schwer nachvollziehbar sein, doch prägen solche Augenblicke ihre Lebenswelt entscheidend mit. Die fehlende Privatsphäre wird als totalitäre Dynamik gedeutet. Zara klammert sich infolgedessen an die Idee des Schicksals. Diese verschiedenen Faktoren tragen zur emotionalen Krise Zaras bei. Als zusätzliche Stressfaktoren werden die totalitären Facetten der Institution Asyl verstanden, die sich im Phänomen der ethnischen Hierarchisierung mit all seinen sichtbaren und (noch) nicht sichtbaren Folgen manifestieren.

Die Totalität wurzelt im vorliegenden Fall in der sozialen Ungleichbehandlung, die sich im Entzug der Zugänge zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen äußert (Unterkunft, Bildung, Hygiene). Diese Stressoren verstärken die Krise im Ankunftskontext und sind für die vorliegende Untersuchung der emotionalen Krise selbst und von Zaras individuellem Umgang mit dieser zu unterscheiden. Dieser Umgang wird stark von Zaras soziokultureller und biografischer Prägung beeinflusst. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist ihre selbsterniedrigende Tendenz, die für die generelle Einschätzung (Emotionsbaustein I) als resignierende Einstellung in Bezug auf die Qualität der Bewältigungsstrategien maßgeblich ist. Die soziokulturelle Prägung Zaras erfolgte im westlichen Afghanistan und in der Hochburg des schiitischen Islam Irans, Maschad. Aufgrund der systematischen Abwertung des weiblichen Geschlechts sowohl im Iran als auch in Afghanistan hat Zara eine selbsterniedrigende Grundhaltung entwickelt, die darüber hinaus durch individuelle Faktoren verstärkt worden ist. Noch stärker als im iranischen Kontext ist die Abwertung der Frau in Afghanistan ausgeprägt, was sich unter anderem darin widerspiegelt, dass Frauen noch weniger Rechte zugestanden werden. Die Emanzipation von Frauen, ganz gleich, wie gering und unbedeutend sie auch sein mag – etwa das Einkaufen ohne männliche Begleiter –, wird als Bedrohung wahrgenommen, selbst wenn sie sich als Vertriebene im iranischen Exil befinden. Ein anderer Kontakt, Shakila M. (33), hat mir ihre Sicht auf die Problematik hinsichtlich der Stellung von Frauen Afghanistans kurz vor ihrer Abschiebung aufgrund des Dublin-Verfahrens im Sommer 2016 so geschildert:

„Frauen müssen sich den Wünschen der Männer fügen. Entweder du bist verheiratet oder du musst damit rechnen, jederzeit entführt und vergewaltigt zu werden. Männer sind die GebieterFootnote 13 und wir ihre DienerinnenFootnote 14. So wird es in den Schulen gelehrt. Sobald Frauen selbstständig werden wollen, fügt man ihnen Schaden zu. Entweder die eigene Familie, oder die Nachbarn oder die Taliban oder irgendwelche anderen, die mitkriegen, dass man sich gegen die Regel verhält.“

Von Bedeutung ist in diesem Kontext der Umstand, dass es sich bei den von Shakila erwähnten „Grundschulen“ (مدرسه) Afghanistans generell um Koranschulen handelt. Zwar wird Lesen und Schreiben gelehrt, aber nur anhand von Koranversen und gespickt mit ideologischen Inhalten eines radikalen, wahabitischen Islam. Die Finanzierung radikaler Schulen und die Verbreitung radikalislamischer Ideologien laufen über Saudi-Arabien, meistens unter dem Deckmantel karitativer Einrichtungen (vgl. Baraki 2002). Viele afghanische Muslime betrachten allerdings die Etablierung eines wahabitisch geprägten Islam als eine Intervention machthungriger Akteure, die vom traditionell sunnitischen Islam zu unterscheiden sei. Die problematische Stellung von Frauen ist Gegenstand zahlloser Gespräche während meines Feldaufenthaltes und wichtig für die Perspektive des Opferseins, die den einseitigen Bewältigungsstrategien des Subjekts zugrunde liegt. Relevant ist also die Haltung, die Mädchen bzw. Frauen in der Heimat einzunehmen gezwungen sind. Sie fügen sich den Wünschen der Männer und opfern dabei ihre eigenen Wünsche und Intentionen, um die traditionelle dienende Rolle einzunehmen. Die „sich aufopfernde Frau“Footnote 15 wird im afghanischen bzw. iranischen Kontext sozial belohnt und ermöglicht es Frauen, dort zu „funktionieren“. Durch die Verknüpfung von Emotionen während der Kindheit und Jugend mit dem dominierenden Norm- und Wertesystem bilden sich spezifische Einschätzungsmuster heraus. Konstitutives Element hierbei ist die ständige Sanktionierung von Mädchen, die die gesellschaftlichen Normen hinsichtlich der Art, wie Emotionen ausgedrückt werden dürfen, nicht einhalten. Im Zuge der Sozialisation internalisiert das Subjekt mittels Beobachtung, Imitation und Wiederholung sozialisierende Emotionen, kulturelle Modelle und soziale Wertvorstellungen (Röttger-Rössler et al. 2013: 260). Zara betont, dass „Frauen ohnehin nichts dürfen“, und meint damit die für westliche Verhältnisse undenkbare Stellung von Frauen. Sicherlich fügen sich zahlreiche andere Faktoren zu dem Empfinden, hinter Schloss und Riegel zu sein, insbesondere diejenigen, die mehrdimensionale und vernetzte (intersektionelle) Diskriminierungsformen begünstigen. In Gesprächen mit anderen afghanischen Geflüchteten erfahre ich, wie – besonders in ländlichen Regionen Afghanistans – Mädchen bzw. Frauen durch die Ganzkörperverschleierung für männliche Gesellschaftsmitglieder geradezu unsichtbar werden. Die Überschneidung der Diskriminierungsformen, denen Zara sich ausgesetzt sieht, erwähnt sie bei jedem unserer Treffen. Dies verbindet sie mit erlebten Ausgrenzungen und der Nichtanerkennung ihrer Person im iranischen und afghanischen Kontext. Der Blick auf Handlungsstrategien, die im Ankunftskontext Berlins von Asylbewerber*innen entwickelt bzw. nicht entwickelt werden können, darf diesen Aspekt nicht ausklammern.

Zara steht der emotionalen Krise, die sie durchlebt, und den damit einhergehenden Gefühlen extrem passiv gegenüber. Die bereits erwähnte mehrfache Erwähnung ihres Schicksals rechtfertigt gewissermaßen ihr Unglück und entzieht auf den ersten Blick aktiven Bewältigungsstrategien den Boden. Seit der asylrechtlichen Ablehnung ist die Ordnung ihrer Lebenswelt völlig zerrüttet und sie fühlt sich in ihrer relationalen Selbstwahrnehmung in höchstem Maße verunsichert. Wiederholt auftretende Affekte veranlassen eine körperliche Veränderung und aktivieren zum Handeln (Emotionsbaustein IV). Affekte sind in diesem Prozess im Wesen und Körper Zaras verankert (vgl. Scheve 2017: 50 f.). Die Herausforderung scheint darin zu bestehen, dass sie zwar die Wucht der Affekte in aller Deutlichkeit wahrnimmt, es ihr aber nicht gelingt, sie bewusst auf ein bestimmtes Objekt zu richten. Anhaltende und sich verstärkende Formen von Affekterleben haben deshalb das Potenzial, Vertrauen und Routinen anzugreifen, die zum fundamentalen Selbstverständnis des emotionenerlebenden Menschen gehören (Slaby/Röttger-Rössler 2018: 3). Hier verschmelzen die erwähnten individuellen Sozialisationsaspekte des Heimatkontextes und die damit verbundenen habitualisierten Verhaltensmuster sowie die Totalität der sozialen Welt in Deutschland auf der somatischen Ebene. Entlang der soziokulturellen Prädisposition und Reflexion entfaltet sich infolge der ständig auftretenden Affekte Zaras badbakhti. Ihr Körper fungiert bei diesem Vorgang als individueller Akteur und als gesellschaftliches Objekt (Röttger-Rössler 2016: 5). Anteile von Minderwertigkeit, ängstlicher Verunsicherung, Hoffnungslosigkeit, Elend, Wut und Enttäuschung modellieren ihre existenziellen Gefühle, die sich im Konzept der badbakhti verdichten. Die badbakhti prägt fortan ihre sozialen Interaktionen und Beziehungen (Katz II). Die im Vordergrund stehende badbakhti bildet sich relational in unmittelbaren und erinnerten Beziehungen. Die unmittelbare Dimension meint im vorliegenden Fall die Totalität der Dynamiken und Angriffe der Institution Asyl, während die erinnerten Beziehungen aus der Heimat immer noch verarbeitet werden müssen. Wie der häufig verwendete Begriff سرنوشت („Schicksal“) bereits erahnen lässt, scheint Zara hinsichtlich der eigenen Handlungsmacht und Emotionen nicht sonderlich flexibel zu sein. Die Einstellung zu ihrer badbakhti und diese selbst scheinen zunächst wie in Stein gemeißelt. Ihre körperliche Haltung, ihre Mimik und im Speziellen ihr augenscheinliches Untergewicht verkörpern ihre passive oder vielmehr negierende Haltung. Doch trotz dieser Passivität legt sie einen ungewöhnlich kreativen Umgang mit den dominierenden negativen Emotionen an den Tag, der weitaus mehr bewirkt, als ein stimmiges Narrativ für ihre Lage zu liefern. Nur in Momenten, in denen sie von ihrem Unglück spricht, erscheint sie überzeugt und geradezu selbstsicher, ansonsten schaut sie stets zu Boden und wirkt äußerst schwach; ihre Stimme ist zudem sehr leise.

Ratcliffes Ansatz des Möglichkeitsbezugs durch existenzielle Gefühle (vgl. Abschn. 4.2.4) spiegelt sich in der badbakhti Zaras wider. Denn nur in der Resignation, in der Niedergeschlagenheit und letztlich im Tod erkennt sie einen Möglichkeitsraum für sich. Die schrankenlose Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit als prä-reflexive existenzielle Orientierung (Ratcliffe 2008: 4) Zaras formen spezifische Möglichkeiten ihres Handelns und Verhaltens insofern, als entsprechende, mit diesen Gefühlen korrelierende Widerfahrnisse in ihrem Leben vorherrschen. Ihr Weltzugriff wird auf ganzer Linie durch ihre badbakhti geformt. Besonders anschaulich spiegelt sich das in ihrer körperlichen Haltung wider; ihr Körper wird somit zu einem den Weltbezug strukturierenden Erfahrungsmedium. Das affektive Arrangement der Institution Asyl lässt Zaras Möglichkeitsspektrum so weit schrumpfen, dass ihr Blick buchstäblich im Boden zu versinken scheint. Ihr Weltzugriff evoziert und rahmt gleichzeitig ihr Fühlen, Denken und Handeln. In ihrer badbakhti zeigt sich, dass ihr individueller Weltbezug (Intentionalität) und ihr Empfinden an sich (Gefühle) nicht getrennt verstanden werden können, das heißt, die gefühlte Bewusstseinsqualität kann nicht vom kognitiven Gehalt gelöst werden. Welterfahrung und Selbsterfahrung verschmelzen in der badbakhti Zaras. Die badbakhti erscheint gleichzeitig als „bodily affection“ (Thonhauser 2019: 57) und bedeutungsstiftende Weltorientierung (ebd.).

Verknüpft man Ratcliffes Ansatz mit Jack Katz‘ Emotionsverständnis, wird nachvollziehbar, dass der fühlenden Person nicht bloß eine emotionale Krise „widerfährt“, sondern dass sie diese auf eine kunstvolle Art und Weise aus sich hervorbringt und dies als Ausdruck ihrer Individualität empfindet. Ich interpretiere den scheinbaren Genuss, den Zara aus dem Sprechen über den Tod zieht, als eine Facette dieser Individualität. Der Tod bringt sie gewissermaßen wieder ins Leben zurück, zum Beispiel als ihre Tochter unerlaubt erwähnt, dass sie sich das Leben nehmen wollte. In diesem Moment strahlt und lacht sie, scheint total erleichtert und verändert. Sie lächelt gutmütig und sitzt aufrecht. Die gekrampfte, gebuckelte Haltung und die tief hängenden Mundwinkel – Facetten ihrer Metamorphose – sind plötzlich verschwunden. Stattdessen nehme ich eine Frau wahr, die selbstbewusst und eloquent zu sein scheint. Sie redet in diesen Augenblicken auch nicht mehr so leise. Die „Subalterne“ spricht mit einem Schlag meisterhaft. Die Aussicht auf den eigenen Tod fungiert zusätzlich als eine Art Selbstheilungsversuch. Dies offenbart, dass sie nicht einfach zu dumm oder zu schwach ist, um sich zur Wehr zu setzen, sondern dass sie im soziolinguistischen Sinne nicht sprachmächtig ist (vgl. Abschn. 4.4). In dieser Dimension spiegelt sich Spivaks Hauptanliegen ihrer Reflexionen zur Sprachgewalt subalterner Frauen. Zara kann den Sprechakt nicht vollständig vollziehen, da man ihr im Asylprozess ohnehin kein Gehör schenkt. Sie wundert sich etwa, dass sie eine Ablehnung erhält, obwohl sie ihre gesamte Fluchtgeschichte bei der Anhörung dargelegt hat. Es gibt für sie keinen rhetorischen Raum, in dem sie ihre Gedanken und Gefühle angemessen äußern könnte, nicht einmal in einer Demokratie wie Deutschland. Sie kennt, im Unterschied zu Foucaults und Deleuzes Argumentation (Foucault 1977a; siehe Abschn. 4.4), schlichtweg die Lebensbedingungen in Berlin nicht gut genug, um für sich selbst sprechen zu können (vgl. Spivak 1994: 75). Die Sprachlosigkeit Zaras ergibt sich mitunter aus der Architektur und Anlage des deutschen Asylprozesses, insbesondere vor dem Hintergrund der regelmäßig stattfindenden Verschärfungen des Asylrechts. Zaras Persönlichkeit darf daher nicht als Stereotyp der „passiven, schweigenden Subalternen“ missverstanden werden: Sich selbst im Inneren dieser totalen Architektur als Autorin eigener Repräsentation zu beteiligen, ist jedoch im Anschluss an Spivak kaum oder nur sehr schwer möglich. Die „Sprachlosigkeit“ Zaras hängt mit hegemonialen Strukturen des HörensFootnote 16 zusammen und meint nicht eine grundsätzliche Unfähigkeit nicht westlicher Menschen, für sich zu sprechen. Es wirkt, als stünde ihr bis jetzt nicht der richtige Kanal für die „Verwirklichung ihres Sprechens“ zur Verfügung, weshalb sie schweigen muss. Das Kommunizieren über den Tod veranlasst Personen ihres unmittelbaren Umfelds dazu, Mitleid und Anteilnahme zu empfinden. Man kann gar nicht anders, als erstaunt innezuhalten, wenn jemand derart lebendig über den Tod spricht. In Situationen, in denen sie selbstbewusst über ihr Leid als „Expertin“ sprechen und hierdurch die Anerkennung der Person(en) ihres Umfelds zu erlangen in der Lage ist, ermöglicht sie sich, ihre tiefliegenden negativen Emotionen mittels eines „narrativen Projekts“ (vgl. Abschn. 4.2.3) gemäß Katz zu modifizieren. Darüber hinaus kann ihr dieser Aspekt ihrer individuellen Form von Stressbewältigung eine neue Plattform bieten, um ihre Identität (neu) zu konstruieren und Anerkennung zu erhalten (dazu weiter unten). Sie betont häufig, dass sie als Hazara weder in Afghanistan noch im Iran „dazugehörte“, doch kann ihre spezielle Art der Emotionsregulation dazu beitragen, ab sofort individuelle Züge und Aspekte einer neuen Identität zu konstruieren, um das permanente Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ zu kompensieren. Ähnlich reagiert sie ein anderes Mal, als ich sie wegen der suizidalen Stimmung anspreche. Ihre körperliche Reaktion (gerade Haltung, Anheben des Kopfes und direkter Blickkontakt mit mir) wiederholt sich, und sie beginnt eine Unterhaltung mit mir, in der ich das Gefühl bekomme, ich sei gänzlich ahnungslos und sie eine dozierende Expertin für Suizid, Tod, Elend und leidvolle Schicksale.

Mit dem Katz’schen Ansatz gelingt es, die Prozesshaftigkeit, den Erfindungsreichtum und die Körperlichkeit in Zaras emotionaler Krise adäquat zu reflektieren. Insbesondere das gleichzeitige Passiv- und Aktivsein Zaras im Kontext ihrer Emotionsarbeit, ist mit Katz sehr gut nachvollziehbar, da Emotionen als selbstreflexive Handlungen und Erfahrungen begriffen werden. Zweifellos ist sie für die Erfahrungen der totalen Institution Asyl, die ihr widerfahren, nicht verantwortlich zu machen, und doch besteht ihre badbakhti teils aus Elementen, die an dieser Stelle als „selbstreflexive Handlungen“ interpretiert werden. Dazu gehören etwa der extreme Sarkasmus und die Tendenz zur Selbstzerstörung, die als letzter Anker des Lebens zelebriert wird. Damit wirkt Zara aktiv und gestaltend auf ihre Emotionen ein. Die übertriebene Nähe zur „Lieblingstochter“ ist aus diesem Licht betrachtet ebenfalls eine kunstvoll eingesetzte transformatorische Facette einer selbstreflexiven Handlung. Dadurch kann sie – beinahe jederzeit – in sozialen Interaktionen auf eine wertvolle Ressource zugreifen, nämlich eine ganz nahestehende Person, die sie unentwegt spiegelt und somit in allem, was sie tut, bestätigt. Der Körper Zaras ist zunächst als Träger und Mittel des Ausdrucks von Emotionen zu verstehen, welcher – angesichts ihrer Einschätzung (Emotionsbaustein I) – eine sinnliche Metamorphose durchläuft (Katz I). Der Körper und die Psyche Zaras durchlaufen etliche tiefgreifende Prozesse, weil sie der Ankunftskontext zwingt, sich als Opfer zu betrachten. Sie fühlt sich extrem niedergeschlagen. Scham, Angst und Selbsterniedrigung bilden die Grundsäulen ihrer Lebenswelt. Emotionen besitzen laut Neckel eine Signalfunktion für den Menschen; durch sie kann er Informationen über eigene unbewusste Strukturen und Wünsche erlangen (Neckel 2006a: 16). Für Zara kann die badbakhti demzufolge eine Warnung ihres Unterbewusstseins sein und gleichsam die Initialzündung für das „soziale Drama“, welches sie im letzten Schritt aufführen wird. Sie inszeniert und bezeichnet sich in unseren sozialen Interaktionen als قربانی (Opfer). Sie kann schnell und intensiv die Opferrolle annehmen, da sie vor dem Hintergrund des afghanischen bzw. iranischen Kontextes bereits die Rolle des Opfers spielen musste, um zu „funktionieren“. Ihre unrealistischen Erwartungen bezüglich der Integration im Aufnahmeland bestärken nur diese Inszenierung, da moralische Aspekte mit in die Debatte einbezogen werden. So zum Beispiel dann, wenn im Feld die Rede von „den Deutschen“ ist, die den Geflüchteten fälschlicherweise Anerkennung versprochen haben sollen. Viele meiner Kontakte nehmen Bezug auf die Worte der deutschen Kanzlerin im Jahr 2015, die Geflüchteten in Deutschland Schutz geboten hat. Asylbewerber*innen, die nun in der Institution Asyl gefangen sind, fühlen sich verraten und bewerten die deutsche Politik als menschenverachtend und höchst unmoralisch. Aus dieser Perspektive wiederum gelangt Zara sehr leicht in die Opferposition. Zara betrachtet und inszeniert sich demnach als قربانی (Opfer). Dies ist ein wesentliches Moment in dieser Fallstudie, denn sie erkennt die Macht des „Herrn“ prototypisch an. Sie übernimmt die Identität als „Knecht“ (Opfer), was zur Folge hat, dass die Spaltung zwischen dem Selbstverständnis, das die Gefangene von sich hat, und dem Selbstverständnis, das sie durch die Verkennung des „Herrn“ erhält, sich allmählich schließt. Weil sie über weniger Möglichkeiten der Anerkennung verfügt, die das ehemalige Selbstverständnis bestätigen, beginnt sie („Knecht“) sich immer mehr mit der ihr zugeteilten unterlegenen Rolle zu identifizieren und damit die Verkennung ihrerseits anzuerkennen. In dieser Identifikation besteht die badbakhti Zaras, denn sie entwirft sich auf die Begriffe und Ideen hin, die sie unterwerfen. Die Begierde nach Anerkennung wandelt sich in Begierde nach Selbsterniedrigung bzw. –zerstörung und manifestiert sich zum Teil in der badbakhti. Folglich etabliert Zara eine Bühne, um ihr soziales Drama in der Tonart badbakhti zu entfalten. Hierbei werden während der selbstreflexiven Interaktion die Interpretationen und Erwartungen des Umfelds berücksichtigt (Katz II). Das heißt, sie muss eine Interaktion mit dem neuen Umfeld beginnen, um ein Feedback zu bekommen. Auf der Basis dieser Resonanz erhält Zara eine Rechtfertigung für ihre negativen Emotionen sowie den Wunsch, einen Ausweg aus ihnen zu finden. Simplifizierende Denkmuster, die sich in diskriminierenden AussprüchenFootnote 17 äußern, erleichtern das Erlangen eines Feedbacks, das dringend benötigte Rechtfertigungsnarrative liefert – etwa durch die besorgniserregenden Manifestationen eines totalitär anmutenden Asylsystems oder durch die Bestätigung vieler Ärzt*innen, die ihr bescheinigen, dass sie ernsthaft psychisch erkrankt ist. Ausgestattet mit ein paar Dutzend Attesten Berliner Psychiater*innen, die sie fortwährend in ihrer Handtasche mit sich trägt, kann sie nun jeder Person, die an ihrem Drama teilnimmt, den Beweis für ihre badbakhti demonstrieren. Schließlich sollen im narrativen Projekt (Katz III) situationsspezifische und situationstranszendierende Herausforderungen in ihre Narration eingeflochten werden (Katz 1999: 5–7). Die sich heranbildende Narration ermöglicht ihr, sich innerhalb ihres Dramas an denjenigen zu rächen, die sie zum „Knecht“ machen, selbst wenn sie diese Personen nicht physisch trifft. In diesem Stadium führt Zara unmissverständlich vor, dass sie sich in einer asymmetrischen sozialen Situation befindet, in der sie das unschuldige Opfer ist. Dies wird unübersehbar bis an die Grenzen des Möglichen inszeniert. Die Identifikation seitens des „Knechts“ mit der Missachtung des „Herrn“ in Form des badbakhti-Narrativs und der unablässige Drang, dies noch stärker in Szene zu setzen, deute ich als eine Spielart der „subjektischen Begierde“ (siehe Abschn. 4.6 und 4.7). Die Subjektivierung des „Knechts“ geht hier Hand in Hand mit Selbsterniedrigung und dem Gefühl der falschen, deformierten Existenz des betroffenen Menschen. Dieser Prozess gleicht einer Selbstunterwerfungsgeste. Zara unternimmt nichts gegen die etablierte Machtstruktur, denn das würde bedeuten, die eigene Identität als „armseliges Opfer“ infrage zu stellen. Durch den Suizidversuch erfährt Zara schließlich paradoxerweise die stärkste Form der Anerkennung. Bereits Hegel bezeichnet in seinen Jenaer Systementwürfen Anfang des 19. Jahrhunderts das betroffene knechtische Subjekt als „stumm“ (zit. in Herrmann 2013: 111). Die sprachliche Handlungs(un)fähigkeit ist der Schlüssel zum sozialen Tod. Zara passt sich an. Und doch lässt sie durch die vorliegende Studie indirekt über sich schreiben und sprechen. Entscheidend bleibt die Tatsache, dass sie sich mittels ihrer affektiven Bezugnahmen zur neuen Identität positioniert. Zaras Einschätzung (Emotionsbaustein I) sowie die Resonanz aus den sozialen Interaktionen (Katz II) kurbeln ihre Depression und Appetitlosigkeit, und damit ihre sinnliche Metamorphose (Katz I) an. Ihre Physiognomie bildet das Bild eines „Opfers“ ab, das nicht für sich sprechen kann. Sie internalisiert durch ihre affektiven Bezugnahmen die Kränkung, die gleichzeitig zur verzerrten Form der Anerkennung verwandelt wird. Die individuellen Dimensionen ihrer Gefühle ergeben sich aus der situationstranszendierenden Bedeutung, die dem Auslöser der badbakhti zugeschrieben wird. In der Folge wird sie zur Zuschauerin und Akteurin ihres eigenen Dramas: Zara widerfahren die Emotionen, und zur selben Zeit gestaltet sie sie aktiv mit. Untergrabene Gefühle werden hierbei nicht „aufgedeckt“, sondern erst durch die Narration produziert (Dietz 2012: 41). Im Zuge des narrativen Projekts (Katz III), des Höhepunkts ihres Dramas, können sich Konflikte zwischen persönlichen Wünschen und gesellschaftlichen Anforderungen entfalten. Unterdrückte Wünsche können an diesem Punkt durch Emotionsmodifikationsversuche auf andere Ebenen verlagert werden (Albrecht 2010: 86). Sicherlich lässt sich hier die Begierde nach Zugehörigkeit als unterdrückter Wunsch auffassen. Ihre badbakhti ist so weniger als Ergebnis unbewusster, sondern vielmehr vorbewusster Prozesse zu verstehen (ebd.: 87). Zara ist in besonderer Weise in Anspruch genommen, weshalb sie viel Energie aufwenden muss, um die negativen Affekte, die ihre badbakhti konstituieren, zu verdrängen. Zaras Energiemangel – magersüchtig wirkender Körper, Müdigkeit, Melancholie und Depressivität – sind in dieser Lesart Symptome, die ihre knechtische Hemmung kennzeichnen. Das Chaos im Heim, die unwürdige Art zu leben, die ethnische Hierarchisierung, die fehlende Privatsphäre und vor allem die systematische Verwehrung des Zugangs zu Schlüsselstellen des sozialen Lebens sind die totalitären Merkmale der Institution in der Lebenswelt des postkolonialen Subjekts dieser Fallstudie. Als Narration wird nicht bloß das Erzählte verstanden, sondern alles, was sie mit ihrem Verhalten an den Tag legt. In Zaras Narration werden ehemals unzusammenhängende und zuvor unzugängliche Bestandteile zusammengeführt, so dass eine geordnete und sinnvolle Kontingenz entsteht. Gemeint ist hier die Synthese von heterogenen narrativen Strukturen: Die Dimension körperlicher Veränderung ist vor dem Hintergrund sozialer Interaktionen zu verstehen, die ihre Erfahrungen in der Institution Asyl derart in die badbakhti-Narration einbetten, dass sie eine sinnvolle Geschichte ergibt. Zaras badbakhti ist ihrem Denken nicht entgegengestellt, sondern ein selbstreflexiver Vorgang. Sie ist selbstständig in der Lage, aus ihrer badbakhti Sinn zu machen; sie modelliert sie quasi selbst. In diesem Sinne produziert Zara mit all ihren Worten, Gesten, Verhaltensweisen und Eigenarten ein soziales Drama, das ihr selbst diskursiv unzugänglich ist. Für andere Interaktionsteilnehmer*innen ist es jedoch möglich, einen Zugang zu finden:

„As opposed to Freudian and other psychological theories which rely on repression at Time One shaping limitations on awareness at Time Two, the dualism of awareness and unconscious being is being constituted constantly, and through processes which, if they must be outside of the actor’s awareness in the moment of action, are not invisible to research“ (Katz 2002: 267).

Auf diese Weise werden die inhärenten Widersprüche zwischen einer Suche nach „verdeckten“ Herausforderungen an das Selbst sowie dem durch phänomenologische Überlegungen sensibilisierten interaktionistischen Forschungsprogramm deutlich reduziert (Dietz 2012: 40). Emotionen bilden sich in irritierenden Interaktionssituationen, ähnlich wie der Symbolische Interaktionismus davon ausgeht, dass das Denken gleichfalls in irritierenden Interaktionssituationen in Erscheinung tritt. Durch einen Quasi-Dialog mit der Umwelt ist das „sinnliche Ich“ (Joas/Knöbl 2004: 188) – im Unterschied zum rational denkenden Ich der rationalistischen Handlungstheorie – innerhalb von konkreten Interaktionssituationen in der Lage, Handlungsalternativen zu erschließen. Weder kognitive Deutungen (appraisal) noch spontane Ausbrüche (arousal) erlauben eine solche Perspektive auf die emotionale Krise Zaras und ihren Umgang mit dieser. Die Verflechtung der unterschiedlichen Ansätze mit Spivaks Gedanken zur Sprachlosigkeit führen zu einer Variante der Selbstunterwerfung, bei der Zara durch die Missachtung und Inferiorisierung ein Selbstverständnis – und damit einhergehend, ein stimmige Narration – etabliert, das seitens der „Herrn“ Anerkennung findet, nämlich badbakhti. Die schier unfassbare Asymmetrie in der Realität zwischen „Knecht“ und „Herrn“ trägt zur Sprachlosigkeit insofern bei, als Anerkennung bloß für das schwache, suizidale Opfer zu haben ist. Zara soll ja gerade nicht sprechen, um Stabilität in ihrer neuen Identität zu finden.

Abschließend sei auf meine eigene Rolle in Zaras Drama hingewiesen. Die Asymmetrie, die sich aus der Tatsache ergibt, dass ich der Interaktionspartner jenes Individuums bin, dessen soziale Interaktionen ich gleichzeitig beobachte und im Nachhinein analysiere, soll nicht unerwähnt bleiben. Die Asymmetrie wird durch meine soziale Position als Forscher und Dolmetscher sowie durch mein Geschlecht als Mann verschärft. Sie ist körperlich klein und schmächtig und bildet damit ebenfalls einen Gegenpol zu mir. Diese Asymmetrie bietet ihrem spezifischen Drama eine passende Bühne. Indem sie es vor mir spielt, lässt sie mir folglich keine andere Wahl, als ihre Unterlegenheit und damit ihre Resignation und badbakhti zu akzeptieren. Denn die spezielle Konstellation, in der eine afghanische Hazare (Geflüchtete) mit einem persischen Mann (Forscher) im Ankunftskontext Berlin interagiert, fördert die Anerkennung ihrer Opferrolle, so paradox es auch sein mag, dass sich ausgerechnet ein Forscher mit persischem Hintergrund für ihre Gefühle interessiert. Die soziale Interaktion (Katz II) zwischen uns führt demnach zu einer Resonanz meinerseits, die sich durch Mitleid und damit Anerkennung ihrer negativen Emotionen und ihres Opferstatus kennzeichnet. Meine Haltung liefert ihr das erforderliche Rechtfertigungsnarrativ, um im nächsten Schritt (Katz III) verdrängte Triebimpulse sowie Emotionen in ihrer individuellen Narration zu modifizieren und neu zu gestalten. Ohne mein Feedback, das durch persönliche Interpretationen geprägt ist, fehlte eine kompatible Rechtfertigung für ihr Drama. In der Konsequenz stellt Zaras Teilnahme an meiner Forschung eine unbewusste Handlung dar, dessen Ziel die Inszenierung eines Dramas ist, in dem sich ihre psychischen Konflikte narrativ entfalten können.

FormalPara 6.1 Intermezzo: „Die lügen doch eh alle.“

In einer wichtigen deutschen Bundesbehörde, in der es um das Herzstück des Asylverfahrens geht,Footnote 18 sitzt Herr Starck, der verantwortliche Beamte, mit mir in seinem Büro und bereitet das Gespräch mit einer Afghanin (22) vor, die gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Asyl beantragt hat. Ich spiele mit meinem Yogi-Tee herum, der den hellen, eintönigen, typischen Behördenraum mit Zimt und Kardamomdüften füllt. Herr Starck tippt ausschließlich mit seinen Zeigefingern; die deutlich reduzierte Tippgeschwindigkeit lässt die Zeit ewig erscheinen. Er ist etwa sechzig Jahre alt, kugelrund und hat ein knallrotes Gesicht. Auf seinem Schreibtisch liegen die Bild-Zeitung und zwei Packungen Zigaretten. In der Zimmerecke steht eine riesige Pflanze in einem winzigen Topf. Während Herr Starck die Grunddaten der Asylbewerberin in den Rechner gibt, bevor das Gespräch beginnt, schaue ich unentwegt auf diese Pflanze und frage mich, wie dieser Moloch von Grünzeug in solch einen kleinen Blumenkübel hineinpasst. Wahrscheinlich halte ich es einfach nicht mehr aus, Herrn Starck beim Arbeiten zuzuschauen. Zwischenzeitlich verlässt er den Raum, um die Kollegin nebenan zu fragen „wie dat mit den Afghanen nochma war“. Während er sich noch rasch den Sachverhalt erklären lässt und anschließend nebenbei auf Wikipedia den Afghanistankrieg recherchiert, starre ich einfach beharrlich die Pflanze an. Ich muss daran denken, dass ich als „Flüchtlingsbaby“ auch mal die Ehre hatte, in den Gängen dieser Behörde zu verweilen. Erfreulicherweise erinnere ich mich nicht mehr an diese Zeit. Als die Asylbewerberin schließlich eintritt und ihre Fluchtgeschichte darlegt, unterbricht Herr Starck sie durchgehend, indem er mich anschaut, die Augenbrauen hochzieht und herausposaunt: „Die lügt doch! Die lügt hundertpro ey! Oder?!“ Die Asylbewerberin gibt als Fluchtgrund an, die Taliban habe ihrer Familie aufgelauert. Aus Angst seien sie schließlich geflohen. „Die labert doch nur Blödsinn!“ Während Herr Starck sein Taktgefühl demonstriert, fragt mich die Antragstellerin, warum er glaube, dass sie lüge. Sie versteht natürlich, was vor sich geht. Leider hilft der Spruch an dem Etikett des Teebeutels „Bewahre Gleichmut“ nicht, und ich muss Herrn Starck beherrscht klarmachen, dass ich bloß übersetze und über Inhalte nicht urteilen soll. Er schaut mich verdutzt an und tippt mit zwei Fingern weiter, als wäre nichts geschehen. „Ach, is doch eh egal. Die lügen doch eh alle.“ Nach einer dreiviertel Stunde ist die Anhörung beendet.