Zusammenfassung
Repräsentative Demokratien, in denen – dem normativen Ideal der Demokratietheorie folgend – Regierungshandeln gegenüber dem Souverän begründungspflichtig ist, bedienen sich des Ausnahmezustandes, um in Krisensituationen Gefahren nachhaltig abwehren zu können – etwa durch die Einschränkung von Grundrechten. Da der Ausnahmezustand fundamentale Habeas-Corpus-Rechte einschränkt, müssen die hierfür erforderlichen Plausibilisierungsstrategien entsprechend leistungsfähig sein, um bei den Bürgern Akzeptanz zu entfalten. Der Beitrag identifiziert auf Grundlage der argumentationstheoretischen Überlegungen Stephen E. Toulmins drei unterschiedliche Elemente plausibilisierend wirkender Erzählungen – Situation der Äußerlichkeit, explizite Freund-Feind-Unterscheidung und Effizienzgebot – die sich unabhängig vom Typus des politischen Systems über die gesamte Historie der repräsentativen Demokratie nachverfolgen lassen. Zusammengenommen können sie als Elemente einer – mit Toulmin gesprochen – Schlussregel für Ausnahmezustände, also als Elemente einer strategischen Erzählung zur Plausibilisierung der Suspendierung fundamentaler Grund- und Freiheitsrechte in der repräsentativen Demokratie gelesen werden.
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Notes
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Hierzu analog die Unruhen in London und anderen englischen Städten im August 2011, vgl. Altenried (2011).
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Die Aussage, wonach politische Entscheidungen in der repräsentativen Demokratie begründungspflichtig sind, koppelt demokratische Entscheidungsprozesse an – erfolgreiches – Argumentieren. Dieser normativen Perspektive muss die realistische Perspektive entgegen gehalten werden, dass in der sprachlich vermittelten politischen Öffentlichkeit – allzumal in Zeiten der Postdemokratie – Begründungsdichte abnimmt und Legitimität für politische Entscheidungen anderweitig generiert wird. Für diese nicht primär argumentative Generierung von Legitimität wird im Folgenden der Begriff Plausibilisierung bzw. plausibilisierendes Erzählen verwendet. Für die Praxis des Politischen kann ein Verschwimmen von Argumentieren und Plausibilisieren angenommen werden.
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Der Text des gesamten Artikels lautet: „Das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kollektive Arbeitskonfliktmaßnahmen wird anerkannt. Das Gesetz zur Regelung der Ausübung dieses Rechtes wird ungeachtet eventueller Beschränkungen die erforderlichen Garantien zur Sicherung der für die Gemeinschaft wesentlichen Dienste vorsehen.“
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Zur Problematik der Wahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte der japanischstämmigen Amerikaner Rossiter (1948, S. 280 ff.); zur Fallgeschichte Takezawa (1995); zum bei Korematsu v. United States angewandten Abwägungsprinzip von Regierungsinteressen gegenüber bürgerlichen Freiheitsrechten („strict scrutiny“) Winkler (2006).
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Vgl. Bush (2001); vgl. ferner Military Commissions Act of 2006 (10 U.S.C. 948a) zur Definition des unlawful enemy combatant.
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Unter anderem einschlägig sind Rasul v. Bush, Hamdi v. Rumsfeld, Hamdan v. Rumsfeld sowie Boumediene v. Bush; vgl. in diesem Zusammenhang – mit besonderem Blick auf Hamdi v. Rumsfeld und die darin vorbereitete argumentative Aufweichung verfassungsrechtlicher Bestimmungen – den Aufsatz von Niday (2008).
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Im Folgenden wird der Name Blackwater verwendet, da die Firma im für diese Analyse einschlägigen Einsatz in New Orleans in 2005 unter eben diesem Namen operierte. Aktuell nennt sich das Unternehmen Academi.
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Federal Emergency Management Agency.
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Neben Blackwater haben im fraglichen Kontext auch DynCorps, American Security Group, Wackenhut, Kroll (alle USA) sowie Instinctive Shooting International (Israel) ihre Dienste angeboten. Vgl. Scahill (2008, S. 256).
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Lemke, M. (2014). Erosion der Rechtstaatlichkeit. Der Ausnahmezustand als strategische Erzählung in der repräsentativen Demokratie. In: Hofmann, W., Renner, J., Teich, K. (eds) Narrative Formen der Politik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02744-5_4
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