Zusammenfassung
Michel Foucaults philosophisch- historische Untersuchungen konzentrieren sich auf die Frage, wie in Diskursen und Dispositiven Kernelemente eines historisch situierten modernen Subjektverständnisses entfaltet und wirksam werden. Er richtet diese Forderungen gegen bewusstseinsphilosophische Positionen und geht davon aus, dass moderne Subjekte historisch hervorgebracht werden, aber gleichwohl über Freiheitsgrade des Handelns verfügen. Verschiedene Positionen des philosophischen Poststrukturalismus (Laclau, Mouffe, Butler) zielen darauf, diese bei Foucault unbestimmt gebliebenen Freiheitsgrade in ihrer Konstitution zu analysieren. Dazu entwerfen sie ihrerseits Beschreibungen der ‚Wirklichkeit des Subjekts‘ , die aus Foucaultscher Perspektive eher als Analysematerial denn als Theoriegrundlagen zu betrachten wären. Die sozialkonstruktivistische Tradition des Interpretativen Paradigmas hat demgegenüber eine mit Foucault affin gehende Theorie der gesellschaftlich konstituierten und situiert handelnden Individuen entwickelt, die im Rahmen der (wissenssoziologischen) Diskursforschung genutzt werden kann, um die Rolle des ‚menschlichen Faktors‘ in diskursiven und dispositiven Prozessen zu analysieren.
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Notes
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Dosse (1995) spricht an anderer Stelle von der in Frankreich an die Phase des Strukturalismus anschließenden „Humanisierung der Humanwissenschaften“, also der Wiederkehr der menschlichen Akteure.
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Es gab für ihn sicherlich viele gute Gründe, sich nicht auf Durkheim zu beziehen (etwa dessen Vorstellungen von Solidaritäten, Integration, Anomie und gesellschaftlichen ‚Normalzuständen‘).
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Der Begriff „sujet“ kann eine Handlungsinstanz, das Thema einer Abhandlung oder als „assujettissement“ eben Unterwerfung bedeuten.
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Ähnlich schreibt später Urs Stäheli, es gehe „keineswegs um eine völlige Aufgabe des Subjekts [....], sondern um die Dekonstruktion der Annahme eines autonom handelnden und selbstidentischen Subjekts“ (Stäheli 2000, S. 48).
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Oder existiert es vor- und nachgängig, ist damit also zu einem nicht durch den Ruf determinierten Handeln fähig? Tatsächlich betont Althusser im genannten Text die transsituative Produktion der Angerufenen durch die sich wiederholenden Anrufungen, d. h. die Sozialisationsprozesse, die von den „ideologischen Staatsapparaten“ ausgehen. Und sehr wohl räumt er die Möglichkeit der „Missachtung der Anrufung“ ein, für die es ganz unterschiedliche Gründe geben kann, und die er wesentlich in den Möglichkeiten des „Imaginären“, in der menschlichen Vorstellungskraft situiert. Doch bleibt reichlich unklar, wie das Zusammenspiel von Anrufung, Subjektwerdung und Missachtung plausibel sein kann, wenn keine existierende ‚Handlungsträgerschaft‘ gedacht wird, die sich eben zur Situation verhält.
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„Das Subjekt wird von den Regeln, durch die es erzeugt wird, nicht determiniert, weil die Bezeichung kein fundierender Akt, sondern eher ein regulierter Wiederholungsprozeß ist, der sich gerade durch die Produktion substantialisierter Effekte verschleiert und zugleich seine Regeln aufzwingt. In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die ‚Handlungsmöglichkeit‘ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren“ (Butler 1991, S. 213). Bzw.: „Ich würde in der Tat noch hinzufügen, daß ein Subjekt nur durch eine Wiederholung oder Reartikulation seiner selbst als Subjekt Subjekt bleibt, und diese Abhängigkeit des Subjekts und seiner Kohärenz von der Wiederholung macht vielleicht genau die Inkohärenz des Subjekts aus, seine Unvollständigkeit. Diese Wiederholung oder besser Iterabilität wird so zum Nicht-Ort der Subversion, zur Möglichkeit einer Neuverkörperung der Subjektivationsnorm, die die Richtung ihrer Normativität ändern kann“ (Butler 2001, S. 95).
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Andeuten kann ich an dieser Stelle nur, dass die poststrukturalistischen Hinweise auf die Dezentrierung des Subjekts dort hilfreich für soziologische Reflexion ist, wo sie als Kritik an essentialisierenden Vorgehensweisen einer soziologischen Forschung fungiert, die spezifische Merkmale von Individuen (etwa Geschlechterattribute) unreflektiert zur Grundlage ihrer Analyse und Auswertung macht, etwa dann, wenn sie ‚Einstellungen der Männer‘ oder ‚der Frauen‘ erhebt.
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Keller, R. (2014). Assoziationen. Über Subjektprobleme des Poststrukturalismus und die Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. In: Poferl, A., Schröer, N. (eds) Wer oder was handelt?. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02521-2_5
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