Zusammenfassung
Angesichts kultureller oder zivilisatorischer Umbruchsituationen, in denen etablierte Orientierungssysteme fraglich werden, erheben sich Ansprüche an eine Orientierungsleistung der Ethik, denen diese in der Regel nicht gerecht werden kann. Neue moralische Dilemmata, Interpretationsdissense bezüglich bisheriger „Prinzipien“ und neue Bezugsbereiche der Prinzipien erfordern einen Umgang mit Prinzipien (Abwägen, Zuordnen, Hierarchisieren etc.), für den Regeln ausstehen. Ein sogenannter ethischer Pluralismus, welcher in solchen Situationen einer praktischen Herausforderung besonders augenfällig wird, verschärft eher die Problemlage, als daß er die nötigen Orientierungsleistungen erbringen könnte. Mangels analytischer Arbeit erscheint aber zunächst ein solcher ethischer Pluralismus überkonturiert: Denn zum einen wäre festzustellen, daß die unterschiedlichsten Rechtfertigungsstrategien oftmals in erstaunlicher Weise konvergieren, wenn die einzelnen Ansätze nur hinreichend „ausgereizt“ und auf ihre Ermöglichungsbedingungen befragt werden, so daß sich der Pluralismus als Perspektivenpluralismus erweist, und eine Analyse der unterschiedlichen Perspektiven zu basalen Voraussetzungen führt, deren Aufweis die Generierung „starker“ Argumente ermöglicht; zum anderen lassen sich vielmals Komplementaritäten ermitteln, so daß hinter dem Pluralismus eine quasi arbeitsteilige Problembehandlung ersichtlich wird, vermöge derer ein pluralistisches Vorgehen die Unterschiedlichkeit von Bezugsbereichen, möglichen Verantwortlichkeiten, differierenden Verantwortbarkeiten und regional eingrenzbaren Rechtfertigungsinstanzen erkennen läßt, somit aus dem Pluralismus eine Bereicherung resultiert, welche freilich durchaus desorientierend, weil komplexitätserhöhend, wirken kann. Ein naiver ethischer Nonkognitivismus, der nach der Devise „hier stehe ich, ich kann nicht anders“ unter Verweis auf sein jeweils für ihn letztbegründendes Prinzip sich vor der geforderten analytischen Arbeit drückt, wird durch einen solchermaßen verstandenen Pluralismus eher herausgefordert und entscheidend relativiert, denn bestätigt.
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Hubig, C. (1999). Pragmatische Entscheidungslegitimation angesichts von Expertendilemmata. In: Grunwald, A., Saupe, S. (eds) Ethik in der Technikgestaltung. Wissenschaftsethik und Technikfolgenbeurteilung, vol 2. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-60033-3_9
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