Zusammenfassung
Die Evolutionstheorie ist eine der erfolgreichsten wissenschaftlichen Theorien. Sie erlaubt es, unsere Herkunft zu verstehen und riskante Merkmale gerade der menschlichen Spezies zu begreifen. Zugleich ist die Evolutionstheorie eine der umstrittensten Theorien. Das liegt nicht an ihrer empirischen Tragfähigkeit, sondern an ihrem Gegenstand. Sie handelt nämlich nicht nur – wie Hunderte andere wissenschaftliche Theorien – von der „Welt da draußen“, sondern vor allem auch von uns selbst und von unserem Platz in dieser Welt. Den einen gilt sie obendrein als Überwinderin religiösen Aberglaubens, den anderen als neuer Zugang zu Gott und seinem Wirken in der Welt. Ferner sehen die einen in der Evolution eine unbezweifelbare Tatsache gleich der Schwerkraft oder dem Holocaust, die anderen aber eine – noch oder dauerhaft – unbewiesene Hypothese oder gar eine falsche Schöpfungslehre. Und während die meisten Streitfragen solcher Art nach wechselseitig akzeptierten Regeln ‚normaler Wissenschaft‘ geklärt werden, wird bei der Frage nach dem Woher unserer Spezies und Kultur die intellektuelle Zuständigkeit von Wissenschaft mitunter überhaupt bezweifelt. Anscheinend geht es schon um recht tiefe Schichten unserer Kultur und nicht nur der wissenschaftlichen, wenn – wie seit 150 Jahren – um die Evolutionstheorie gestritten wird. Wie sehen diese Schichten aus?
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Notes
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Deren Kernaussagen finden sich, ergänzt um Quellenhinweise, im Anhang dieses Kapitels systematisch ausformuliert.
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Das war jedenfalls die Erfahrung des Verfassers im inzwischen erfolgreich abgeschlossenen Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“, in dessen Rahmen der Evolutorische Institutionalismus entwickelt wurde (Patzelt 2007). Dessen Erkenntniswert wurde tatsächlich mehr als einmal mit dem Argument in Frage gestellt, die Evolutionstheorie könne doch allenfalls die Grundzüge der Kirchengeschichte erklären, bestimmt aber nicht, „warum der Papst nach Avignon gekommen sei“. Allerdings interessiert sich ja auch die biologische Evolutionstheorie keineswegs dafür, warum ausgerechnet Löwe Leo sich mit Löwin Lea paarte, sondern sie erklärt „nur“ jene allgemeinen Verhaltensmuster, die dann unter kontingenten Umständen ganz individuell konkretisiert werden, anschließend pfadabhängige Folgen zeitigen und damit künftige Kontingenz kanalisieren. Genau solche Erklärungen reichen auch aus, um die allgemeinen Wirkkräfte des Geschichtlichen zu verstehen, und eben auf sie, bloß nachrangig aber auf deren individuelle Ausprägungen, blicken Evolutionsforscher.
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Im Schrifttum ist sie viel weniger fassbar als in Tagungsdiskussionen, wo sich auch rein emotionale Vorbehalte gegen die Evolutionstheorie, da ohne wirklich zu tragende Beweislast ins Feld geführt, viel leichter vorbringen lassen – zumal dann, wenn es nicht um die von Intellektuellen selten bestrittene biologische Evolution geht, sondern um die Anwendung der Evolutionstheorie außerhalb der Naturwissenschaften.
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Anhang: Kernaussagen der Allgemeinen Evolutionstheorie
Anhang: Kernaussagen der Allgemeinen Evolutionstheorie
Den Kern der Evolutionstheorie bildet ein ganz allgemeiner Aussagenkomplex über die Bildung, Weitergabe und Veränderung sämtlicher Formen, ganz gleich ob es sich um biologische, kulturelle, institutionelle und wohl auch technische Formen handelt. Alltagssprachlich lässt er sich so umreißen:
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Da ist ein Bauplan, der auf einem dafür geeigneten Träger weitergegeben wird.
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Da sind Bauprozesse, durch welche der Bauplan in Baumaßnahmen anhand gleich welcher Baumaterialien umgesetzt wird.
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Da kommt es zu Veränderungen beim Weitergeben von Bauplänen, etwa zu Rekombinationen einzelner Elemente, desgleichen zu variationen beim Aufbau von Formen anhand korrekt weitergegebener Baupläne.
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Da werden in der Regel aus Bauplänen mehr Formen erzeugt, als in der relevanten Umgebung, aufgrund des dort waltenden Ressourcenmangels, Chancen auf Fortbestand oder gar auf Weitergabe des eigenen Bauplans haben.
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Also werden jene Formen größere Chancen auf Fortbestand oder auf Weitergabe ihres Bauplans haben, die – aus gleich welchen Gründen – besser als ihre Konkurrentinnen in diese Umgebung passen.
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Deshalb werden auch jene Veränderungen beim Weitergeben oder beim Umsetzen eines Bauplans größere Chancen darauf haben, auch ihrerseits weitergegeben zu werden, welche der von solchen Veränderungen geprägten Form merkliche Konkurrenzvorteile eröffnen – sei es beim individuellen Bestehen in ihrer Umwelt, sei es bei der Replikation der Form. So entsteht Vielfalt und diese eröffnet ihrerseits neue Entwicklungspfade.
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Außerdem kann das Zusammentreffen von zufälligen Veränderungen einesteils an der Form, andernteils in der Umwelt der Form ganz unvorhersehbare Veränderungen in der Wahrscheinlichkeitsstruktur für die Weitergabe einer bestimmten, ganz zufälligen Veränderung am Bauplan bzw. an der Form nach sich ziehen. Auf diese Weise wirkt in der Evolution der Zufall nicht länger in Gestalt einer Gleichverteilung von Wahrscheinlichkeiten, sondern über die Ordnungsstrukturen differenzierter Wahrscheinlichkeitsdichten für die Weitergabe selbst rein zufällig aufgetretener Veränderungen.
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Und vorab schon werden solche Veränderungen beim weiterzugebenden Bauplan, oder bei der aus einem korrekt weitergegebenen Bauplan nun verändert aufgebauten Form, viel größere Chancen auf Vollendung des Aufbaus dieser Form eröffnen, die nicht die Grundstruktur oder tragende Teile der Form betreffen, sondern nur nachgeordnete Strukturen, also gleichsam die äußeren Schichten jener „geprägten Form, die lebend sich entwickelt“ (Goethe). Auf genau diese Weise kommt langfristige Konstanz in den Wandlungsprozess jeder Form und wirkt das Gewordene wie gemäß einem „intelligent design“ entstanden.
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Patzelt, W.J. (2010). Wissenschaft, die unsere Kultur verändert. Tiefenschichten des Streits um die Evolutionstheorie. In: Graf, D. (eds) Evolutionstheorie - Akzeptanz und Vermittlung im europäischen Vergleich. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-02228-9_5
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