Zusammenfassung
Evolutionistische Argumentationen außerhalb der Biologie sind weit verbreitet. Wenn sie vertreten werden, heißt das mitnichten, dass sie notwendigerweise von darwinischen Argumenten geprägt sind. Wenn man Evolution und Kultur aus explizit darwinischer Perspektive zusammen bringt, bedeutet das noch lange nicht unbedingt Soziobiologie. Und es bedeutet sicherlich nicht Sozialdarwinismus. Dieser Beitrag soll einen Überblick der so genannten evolutionären Ansätze bzw. evolutionistischen Ansätze zu menschlichen Gesellschaften bzw. Kulturen geben. Es soll gezeigt werden, was in den Ansätzen analytisch zu trennen ist und was synthetisch zusammen gehört. Mein Beitrag ist nicht wissenschaftsgeschichtlich angelegt, sondern systematisch ausgerichtet und hat zwei Schwerpunkte (Antweiler 2008; Antweiler 2009b). Zum einen geht es um kausale Zusammenhänge von organischer Evolution und gesellschaftlichem Wandel. Auf der anderen Seite werden Analogien zwischen biotischer und kultureller Evolution erläutert, die als spezifische Ähnlichkeiten dieser beiden als grundsätzlich verschieden gesehenen Prozesse aufgefasst werden. Dadurch wird die Frage aufgeworfen, ob die Evolution von Organismen einerseits und die Transformation von Gesellschaften bzw. Kulturen andererseits, spezielle Fälle eines allgemeinen Modells von Evolution darstellen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Ich verwende dem englischen Sprachgebrauch entsprechend das Wort darwinisch (darwinian), statt darwinistisch, um den wissenschaftlichen Ansatz von volkstümlichen und ideologischen, rechten wie linken, Darwinismen (z. B. Ernst Haeckel) abzugrenzen.
- 2.
Ich spreche von biotisch, wenn es um die Phänomene selbst geht und von biologisch wenn die wissenschaftliche Beschäftigung damit gemeint ist.
- 3.
Dies gilt noch mehr im angloamerikanischen Sprachraum, wo evolution in der Alltagssprache oft einfach für Wandel, Veränderung bzw. Prozess, insbesondere für gleichmäßigen Wandel steht (langsame evolution vs. abrupte revolution). Ich könnte z. B. von „the evolution of my interest in anthropology“ sprechen.
- 4.
Der Kreationismus tritt in vielen Varianten auf, worunter besonders die unter dem Titel Intelligent Design (ID) firmierenden als vermeintlich biologische Theorie auftreten. Die Beiträge in Antweiler 2008 zeigen, dass das Phänomen mittlerweile auch im deutschen Sprachraum virulent ist.
- 5.
Vgl. Pluciennik 2005 als kurzen Überblick, Rambo 1991 als hervorragenden und immer noch sehr nützlichen Übersichtsaufsatz sowie Trigger 1998, Claessen 2000, Carneiro 2003 und Sanderson 2007 als m. E. beste Monographien zur Geschichte und Systematik der Ansätze; vgl. auch die Beiträge in Meleghy u. Niedenzu 2003 und für neue Ansätze Beiträge in Niedenzu et al. 2008.
- 6.
Vgl. Corning 1983 und 2003 als einer der wenigen unter den neueren evolutionistischen Ansätzen, die explizit Richtungen, Trends und Fortschritt in den Mittelpunkt stellen; Rousseau 2006 verbindet Theorien sozialen Wandels mit Evolutionstheorie für die Erklärung des gerichteten Wandels von mittelkomplexen Gesellschaften; Einige der Theoretiker des klassischen Evolutionismus befassten sich nicht mit Fortschritt, sondern mit vermeintlichem Rückschritt. Schon seit der Antike standen Degenerations-Modelle den Fortschrittsmodellen als Komplement gegenüber.
- 7.
Die hier dargelegte Grundstruktur von Analogien folgt Einsichten meines kürzlich verstorbenen akademischen Lehrers Peter Tschohl (Tschohl 1984).
- 8.
- 9.
Die m. E. mit Abstand beste vergleichende Übersicht biokultureller Ansätze zur Deutung menschlichen Verhaltens bietet Fuentes 2009. Vgl. daneben als Übersichten: Flinn u. Alexander 1983 und Durham 1990. Der ausgearbeitetste Koevolutionsansatz ist Durham 1991. Für anwendungsorientierte Nutzung solcher Modelle für kulturelle Entwicklung vgl. Norgaard 1994. Zu evolutionistischer Theoriebildung in den Kultur- und Sozialwissenschaften siehe Lenzen 2003:120–144 als Kurzüberblick und zum Forschungsstand das von Wuketits u. Antweiler 2004 hrsg. Handbuch.
Literatur
Antweiler C (2008) Evolutionstheorien in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Zusammenhangs- und Analogiemodelle. In: Antweiler C, Thies N, Lammers C (Hrsg) Die unerschöpfte Theorie: Evolution und Kreationismus in den Wissenschaften. Alibri, Aschaffenburg, S 115–141
Antweiler C (2009a) Was ist den Menschen gemeinsam?: Über Kultur und Kulturen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
Antweiler C (2009b) Evolutionistische Kulturtheorie. Darwin und der Wandel von Gesellschaften. In: Wuketits FM (Hrsg) Wohin brachte uns Charles Darwin? Freie Akademie, Berlin, S 127–145
Antweiler C, Adams RN (Hrsg) (1991) Social reproduction, cultural selection, and the evolution of social evolution. Cult Dynamics 4(2):107–238
Baudy D (2001) Biologie oder Religion? Ritenbildung zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘. In: Kleeberg B, Metzger S, Rapp W, Walter T (Hrsg) Die List der Gene. Strategeme eines neuen Menschen. Günter Narr, Tübingen
Bierstedt A (1997) Darwins Erben und die Vielfalt der Kultur. Zur Kausalität kulturellen Wandels aus darwinistischer Sicht. Europäische Hochschulschriften, Reihe XIX, Abt. B. Ethnologie, 48, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main
Blackmore S (2003) Evolution und Meme. Das menschliche Gehirn als Imitationsapparat. In: Becker A, Mehr C, Nau HH, Reuter G, Stegmüller G (Hrsg) Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 49–89
Bowler PJ (2003) Evolution: the history of an idea. University of California Press, Berkeley
Boyd R, Richerson PJ (2005) The origin and evolution of cultures. Oxford University Press, Oxford
Campbell DT (1965) Variation and selective retention in socio-cultural evolution. In: Berringer HR, Blancksten GI, Mack RW (Hrsg) Social change in developing areas: a reinterpretation of evolutionary theory. Schenkman, Cambridge Mass., S 19–49
Carneiro RL (2003) Evolutionism in cultural anthropology: a critical history. Westview, Boulder Col.
Claessen HJM (2000) Structural change. Evolution and evolutionism in cultural anthropology. Onderzoekschool voor Aziatische, Afrikaanse, en Amerindische Studies, Leiden
Corning P (2003) Nature’s magic: synergy in evolution and the fate of humankind. Cambridge University Press, Cambridge
Corning PA (1983) The synergism hypothesis: a theory of progressive evolution. McGraw-Hill Book, New York
Cziko G (1995) Without miracles. Universal selection theory and the second Darwinian revolution. The MIT Press, Cambridge, Mass. and London (A Bradford Book)
DeWinter KW (1984) Biological and cultural evolution: different manifestations of the same principle. A systems-theoretical approach. J Hum Evol 13:61–70
Dickens P (2000) Social darwinism: linking evolutionary thought to social theory. Concepts in the Social Sciences. Open University Press, Philadelphia
Durham WH (1990) Advances in evolutionary culture theory. Ann Rev Anthropol 19:187–210
Durham WH (1991) Coevolution: genes, culture and human diversity. Stanford University Press, Stanford
Flinn MV, Alexander RD (1983) Culture theory: the developing theory from biology. Hum Ecol 10:383–400
Fuentes A (2009) Evolution of human behavior. Oxford University Press, Oxford
Gerard RW, Kluckhohn CM, Rapoport A (1956) Biological and cultural evolution some analogies and explorations. Behav Sci 1:6–32
Godfrey L, Cole JR (1979) Biological analogy, diffusionism and archaeology. Am Anthropol 81:37–45
Gould SJ (1986) Evolution and the triumph of homology, or why history matters. Am Sci 74:60–69
Greenwood DJ (1984) The taming of evolution: the persistence of nonevolutionary views in the study of humans. Cornell University Press, Ithaca
Hallpike CR (1996) The principles of social evolution. Oxford University Press, Oxford
Illies C (2006) Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter. Studien zur Bedeutung der Evolutionstheorie und Soziobiologie . Suhrkamp, Frankfurt am Main
Johnson A W, Earle T (2000) The evolution of human societies: from forager group to Agrarian state. Stanford University Press, Stanford
Laland K, Odling-Smee J, Feldman M (2000) Niche construction, biological evolution, and cultural change. Behav Brain Sci 23:131–175
Latour B (2002) Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie . Fischer, Frankfurt am Main
Lenzen M (2003) Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften. Campus Verlag, Frankfurt & New York (Campus Einführungen)
Masters RD (1973) Functional approaches to analogical comparison between species. Soc Sci Inf 12:7–26
Mayr E (2003) Das ist Evolution. Goldmann, München
Meleghy T, Niedenzu HJ (Hrsg) (2003) Soziale Evolution Die Evolutionstheorie und die Sozialwissenschaften. Westdeutscher, Wiesbaden
Müller HP, Schmid M (Hrsg) (1995) Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Niedenzu HJ, Meleghy T, Meyer P (Hrsg) (2008) The new evolutionary social science: human nature, social behaviour, and social change. Paradigm Publishers, Boulder London
Norgaard B (1994) Development betrayed: the end of progress and a coevolutionary revisioning of the future. Routledge, London
Pluciennik M (2005) Social evolution. Gerald Duckworth, London
Rambo AT (1991) The study of cultural evolution. In: Rambo AT, Gillogly K (Hrsg) Profiles in cultural evolution. Papers from a Conference in Honor of Elman R. Service. University of Michigan, Ann Arbor, S 23–109
Richerson PJ, Boyd R (2000) Evolution: the darwinian theory of social change, an hommage to Donald T. Campbell. In: Schelkle et al. (Hrsg) Paradigms of social change. Frankfurt, Campus Verlagm, S 257–282
Richerson PJ, Boyd R (2005) Not by genes alone: how culture transformed human evolution. University of Chicago Press, Chicago
Rolston III H (1999) Genes, genesis and god: values and their origins in natural and human history. Cambridge University Press, Cambridge
Rose MR (2004) Darwins Welt. Von Forschern, Finken und der Evolution. Piper, München
Rousseau J (2006) Rethinking social Evolution. The perspective from Middle-Range Societies. McGill Queen Univ. Press, Montreal
Sanderson SK (2007) Evolutionism and its critics: deconstructing and reconstructing an evolutionary interpretation of human society. Paradigm Publishers, Boulder London
Schelkle W, Krauth WH, Kohli M, Elwert G (Hrsg) (2000) Paradigms of social change: modernization, development, transformation, evolution. Campus, St. Martin’s, Frankfurt
Stegmüller W (21986) Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Philipp Reclam, Jun., Stuttgart
Stephan B (2005) Übereinstimmungen und Analogien zwischen der Evolution biotischer Systeme und der Entwicklung gesellschaftlicher Systeme. Erwägen, Wissen, Ethik, Deliberation, Knowledge. Ethics 16(3):357–369
Steward JH (1949) The theory of culture change. University of Illinois Press, Minneapolis
Trigger BG (1998) Sociocultural evolution: calculation and contingency. Blackwell Publishers, Oxford
Tschohl P (1984) Lösungsformen der Analogie. Köln Institut für Völkerkunde; unv. Mskr.
Vogt M (1997) Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie. Herder, Freiburg
Weingart P, Mitchell SD, Richerson PJ, Maasen S (Hrsg) (1997) Human by nature: between biology and the social sciences. Lawrence Earlbaum Asociates, Mahwah
Wheeler M, Ziman J, Boden MA (Hrsg) (2002) The evolution of cultural entities. Oxford University Press for the British Academy, Oxford
Wuketits FM, Antweiler C (Hrsg) (2004) Handbook of evolution: the evolution of cultures and societies, vol 1. VCH-Wiley, New York
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2010 Springer-Verlag Berlin Heidelberg
About this chapter
Cite this chapter
Antweiler, C. (2010). Darwinische Kulturtheorie – Evolutionistische und „evolutionistische“ Theorien sozialen Wandels. In: Graf, D. (eds) Evolutionstheorie - Akzeptanz und Vermittlung im europäischen Vergleich. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-02228-9_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-642-02228-9_3
Published:
Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-642-02227-2
Online ISBN: 978-3-642-02228-9
eBook Packages: Life Science and Basic Disciplines (German Language)