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Weites oder enges Prozessverständnis? Konzeptuelle Erörterungen auf der Basis einer kritischen Rekonstruktion des Luhmannschen Prozessbegriffes und unter Bezug auf soziale Mechanismen

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Prozesse

Zusammenfassung

(1) Vor 30 Jahren hat Birgitta Nedelmann festgestellt, dass „sich ein auffallender Mangel an systematischen soziologischen Prozeßanalysen in der modernen Soziologie beobachten“ lässt. Vom Kontext der Aussage her kann man erschließen, dass sie mit ‚systematisch‘ Analysen meint, die grundlegende Formen sozialer Prozesse – etwa solche eigendynamischer Gestalt – zum Gegenstand haben. Ihre Aussage hat meinem Eindruck nach heute immer noch Gültigkeit. Systematische Prozessanalysen derartigen Zuschnitts sind nach wie vor selten in den Sozialwissenschaften. Vor allem solche, die von einem explizierten sozialtheoretischen Prozesskonzept her entwickelt werden. In einer Hinsicht ist das auch nicht verwunderlich. Denn während es zu anderen Konzepten umfängliche Diskussionen in sozialtheoretischer Perspektive gegeben hat – man denke etwa an ‚Handeln‘, ‚Ereignis‘ oder ‚Struktur‘ –, ist ähnliches hinsichtlich ‚Prozess‘ nicht festzustellen. Ein einigermaßen klar konturiertes Verständnisspektrum, was unter ‚sozialer Prozess‘ zu begreifen ist, hat sich in den Sozialwissenschaften bislang nicht herausgebildet. In anderer Hinsicht ist dies aber schon irritierend. Nämlich wenn man sich vergegenwärtigt, welche Relevanz sozialen Prozessen in verschiedenen Kontexten zugemessen wird.

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Notes

  1. 1.

    Für einen umfassenden neueren Versuch siehe Miebach (2009).

  2. 2.

    Vgl. auch Meier (1978, S. 11 f.), Vayda et al. (1991, S. 319). Ein Indikator dafür ist, dass ausführlichere Lexikonartikel zu ‚sozialer Prozess‘ rar sind (eine Ausnahme bildet Elias 2010). Der oben genannte Mangel ist auch für das (vielschichtige) Unternehmen ‚Historische Soziologie‘ zu konstatieren, welches, wie in vielen programmatischen Schriften deutlich wird, explizit das Prozesshafte des Sozialen in den Blick nimmt, um darüber die kausale Genese gegenwärtiger sozialer Entitäten erklären zu können; vgl. Schützeichel (2004, S. 89–101).

  3. 3.

    Wobei man sich klar sein muss, dass diese Forschungsunternehmen sich nicht ausschließen, soziale Mechanismen und Pfadabhängigkeiten auch Gegenstand Historischer Soziologie sind; vgl. etwa Kiser und Hechter (1991), Aminzade (1992).

  4. 4.

    Was unter ‚Selektivitätsverstärkung‘ vorzustellen ist, wird noch zu erläutern sein.

  5. 5.

    Von seinen gewählten Beispielen her wird deutlich, dass er mit ‚Prozess‘ soziale Prozesse meint.

  6. 6.

    Eine in manchen Punkten ähnliche Bestimmung trifft auch Gorski: „A causal process can, at least in principle, always be described as a series of events. But a series of events does not necessarily constitute a causal process. A causal process is distinguished from a mere series of events by its ability to transmit influence.“ (Gorski 2004, S. 16) Was mit der „ability to transmit influence“ von Ereignissen als soziales Geschehen gemeint ist, bleibt sozialtheoretisch dunkel, denn es wird nicht anhand sozialer Geschehnisse erläutert, sondern unter Bezug auf eine Billardkugel, die über einen Billardtisch rollt.

  7. 7.

    Von „structuring causes“ unterscheidet Dretske so genannte „triggering causes“, die Prozesse zu einem bestimmten Zeitpunkt auslösen: „the triggering cause […] causes the process to occur now.“ (Dretske 1988, S. 42)

  8. 8.

    Auch MacIver misst Strukturen eine ähnlich maßgebliche Bedeutung für soziale Prozesse zu: „social structures […] give them (social processes, R.G.) definition and specific quality.“ (MacIver 1942, S. 130) Auch bei ihm hat man den Eindruck, als gehe er davon aus, dass soziale Prozesse eine Art von Eigenständigkeit hätten. „The causation […] of processes of any kind, offers a very different problem from that involved in the causation of events. We saw that the whole causation of the event is operative in the occasion of the event. But a process is continuous. Since therefore it cannot be explained by the conjuncture of forces at any moment we must look for determinants that are themselves persistent, that work more deeply in the soil of society, that are congenial and understandably related to the direction of the process.“ (MacIver 1942, S. 132 f.) Möglicherweise, aber das bleibt unklar, sind die sozialen Strukturen maßgeblich für die „persistent determinants“.

  9. 9.

    Ähnliche Unklarheiten deuten sich auch bei Gorski und MacIver an, auf deren Konzepte ich in den vorstehenden Anmerkungen Bezug genommen habe.

  10. 10.

    ‚Figurationssoziologie‘ ist daneben eine weitere Bezeichnung für seine Soziologie.

  11. 11.

    Damit ist auch klar, dass ich nicht zustimmend an Luhmanns eigentümliche Soziologiekonzeption anknüpfe und von daher auch seinen Prozessbegriff nicht einfach übernehmen kann. Ich lasse mich von den Grundzügen seiner Konzepte anregen, abstrahiere aber von Merkmalen, die spezifisch für seinen Ansatz sind, um die derart modifizierten Konzepte umbauen und in einen anderen Konzeptzusammenhang übertragen zu können, der sich von Luhmanns Konzeption grundlegend unterscheidet (siehe dazu Greshoff 2008 sowie 2011a).

  12. 12.

    ‚Selektion‘ bestimmt Luhmann als ‚Zeitbegriff‘: „sie steht bevor, ist erforderlich, wird dann vollzogen und ist dann geschehen. Selektion nimmt insofern Zeit in Anspruch […] Selektion ist […] die Dynamik der Komplexität.“ (Luhmann 1984, S. 70 f.) Das ist natürlich eine viel zu abstrakte Bestimmung, sagt sie doch nichts darüber aus, was – zumal sinnhafte – Selektionen kennzeichnet, wie sie produziert werden und ablaufen (siehe dazu noch den Verweis in Anm. 17).

  13. 13.

    Bei der Darstellung von Luhmanns Position übernehme ich der Einfachheit halber zunächst seine Kompaktbegrifflichkeit – dass soziale Systeme, Prozesse, Strukturen bzw. Kommunikationen etwas machen, herstellen usw. können –, auch wenn ich sie für irreführend halte.

  14. 14.

    Soziale Systeme sind für Luhmann das zentrale soziale Phänomen. Den Universalitätsanspruch seiner allgemeinen Theorie des Sozialen, also seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme, erläutert er unter Bezug auf solche Systeme: „Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme erhebt, mit anderen Worten, den Anspruch, den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassen und in diesem Sinne universelle soziologische Theorie zu sein.“ (Luhmann 1984, S. 33)

  15. 15.

    Für diese Aufschlüsselungen sind immer wieder kritische Ergänzungen zu Luhmanns Ausführungen vorzunehmen. Anders sind seine Konzepte nicht nachvollziehbar. Basis für die Ergänzungen ist vor allem die Luhmann-Analyse in Greshoff 2008.

  16. 16.

    Luhmann umschreibt diese Reflexivität auch mit „Selektion von Selektion“ (siehe dazu noch Nr. 10).

  17. 17.

    Selegieren verläuft ja differenzorientiert, d. h. Selektionen basieren auf Unterscheidungen (Alternativen), von denen eine bezeichnet sowie umgesetzt werden muss. Ausführlich und kritisch zur Selektionsproduktion bei Luhmann siehe Greshoff (2008, S. 453–456).

  18. 18.

    Mit ‚Einzelselektion‘ sind – erst einmal vorbehaltlich näherer Bestimmungen formuliert – die jeweils durch Alter oder Ego produzierten kommunikativen Selektionen gemeint.

  19. 19.

    Durch diese Perspektiven- /Prämisseneinnahme wird, wie Luhmann es nennt, eine bestimmte „Vor-Auswahl von Wahlmöglichkeiten“ bzw. eine „Vorselektion des Seligierbaren“ ermöglicht (Luhmann 1984, S. 74).

  20. 20.

    Diese Angabe impliziert natürlich eine Abweichung von Luhmanns Konzepten, die ich folgendermaßen ergänze: Die einzige Komponente der verschiedenen kommunikativen Selektionen, die kein gedanklich-vorstellungsmäßiges Geschehen ist, ist das Mitteilungsverhalten. Und: die spezifische intentionale Ausrichtung auf jeweilige Gegenüber macht das hier gemeinte gedanklich-vorstellungsmäßige Geschehen zum Teil sozialen/kommunikativen Geschehens.

  21. 21.

    Und zum besseren Verständnis von ‚Prozess‘ ist zu ergänzen: Von den vergangenen, in bestimmter Weise gedeuteten Selektionen, an die angeschlossen wird, ist ebenfalls anzunehmen, dass sie auf die im Prinzip gleiche Art zustande gekommen sind, wie die kommunikativen Selektionen, deren Produktion ich hier darlege.

  22. 22.

    „Eine Ereignissukzession ist dann und nur dann Prozeß, wenn sie das Merkmal der Selektivitätsverstärkung erfüllt.“ (Luhmann 1984, S. 484)

  23. 23.

    Folglich liest man auch bei Luhmann, dass es in Prozessen zu einer „Übertragung und Verstärkung von Selektivität“ kommt (Luhmann 1981, S. 188 f.).

  24. 24.

    ‚Ereignis‘ steht hier für kommunikative Ereignisse. Diese Zuordnung ist gleich noch zu präzisieren.

  25. 25.

    Prozesse verbinden eben „nicht einfach Fakten, sondern bestimmtes Geschehen/Nichtgeschehen mit anderem Geschehen/Nichtgeschehen.“ (Luhmann 1981, S. 188) Durch Selektivitätsverstärkung kommt es zu einem aneinander anschließen von bestimmten Ereignissen. Aus diesem Grunde, weil auf Grund dieser Verstärkung Bestimmtes miteinander verbunden wird, haben Prozesse „eine immanente Historizität. Diese liegt […] primär in der Bestimmung dessen, was als ausscheidende Möglichkeit dem Geschehen seine Konturen gibt.“ (Luhmann 1981, S. 189) Die Bestimmung hat also so etwas wie eine prägende Wirkung, die nicht Beliebiges, sondern nur Bestimmtes in den Blick nehmen lässt (siehe zum Punkt ‚Historizität‘ bereits oben Nr. 2).

  26. 26.

    Dass dieses Selektivitätsprinzip in einem engen Bezug zur Struktur sozialer Prozesse steht, wird noch darzulegen sein.

  27. 27.

    ‚Reflexive Selektion/reflexiver Selektionsprozess/Reflexivität des Selektionsprozesses‘ sind zu unterscheiden von dem, was Luhmann ‚reflexiver Prozess‘ oder auch einfach ‚Reflexivität‘ nennt (Luhmann 1984, S. 610–612). Mit Letzterem ist immer kollektives soziales Prozessgeschehen, mit reflexiver Selektion (usw.) dagegen ist immer die individuelle Selektionsproduktion gemeint, genauer, die je individuelle Produktion der kommunikativen Selektionen durch Alter, Ego usw. als Teil sozialen Prozessgeschehens. Ich komme auf diese Unterscheidung zurück.

  28. 28.

    Für eine detaillierte Rekonstruktion der Konzepte Luhmanns, auf der ich hier aufbaue, siehe Greshoff 1999 und vor allem 2008.

  29. 29.

    Diese Aussage von Luhmann korrespondiert der, dass „Kommunikation in der Regel Prozeß“ ist (Luhmann 1984, S. 601). ‚In der Regel‘ heißt nicht immer, aber meistens. Explizit schreibt Luhmann denn auch, dass „Kommunikation nur selten als eine einzelne Einheit auftritt… Eine stärkere Ausdifferenzierung kommunikativen Geschehens erfordert die Verknüpfung einer größeren Zahl von Kommunikationseinheiten zu einem Prozeß“ (Luhmann 1984, S. 212 f.). Für diese Verknüpfung gilt dann das oben (Nr. 10) erläuterte Merkmal der ‚Selektivitätsverstärkung‘.

  30. 30.

    Wenn die Selektionen von Alter bzw. Dritten, Vierten usw. Teil eines sozialen Prozesses sind, ist für sie im Prinzip die gleiche Merkmalstypik anzunehmen wie die, die jetzt mit exemplarischen Blick auf Ego entfaltet wird.

  31. 31.

    Auch wenn Ego die Selektionsproduktion so vornimmt, wie gerade beschrieben, muss er durch seine Selektionsproduktion nicht in jedem Fall das Selektivitätsprinzip perpetuieren wollen, auch wenn er es zunächst aufgreifen und daran dann irgendwie – etwa auch negativ – anschließen muss, insofern also Selektivitätsverstärkung praktiziert. Ich spiele mit diesen Überlegungen auf Luhmanns Aussage an, dass es in sozialen Prozessen so etwas wie Verantwortung für Kontinuität oder Diskontinuität geben kann. „Man kann das Entstandene oder Erreichte bejahen oder zu ändern versuchen.“ (Luhmann 1981, S. 189) Je nach dem, was Prozessoren intendieren, müssen sie sich dann so oder so mitteilend verhalten. Strukturwandel kann so etwa – versuchsweise – initiiert werden.

  32. 32.

    Von daher erschließt sich auch Luhmanns Annahme, auf „die klassische Unterscheidung von Prozeß und Struktur verzichten (zu, R.G.) können.“ (Luhmann 1997, S. 74) Beides ist nicht gegeneinander auszuspielen. Strukturen und Prozesse lassen sich zudem nicht einfach konfrontieren als etwas Zeitloses/Statisches versus etwas rein Zeitliches. Denn auch Strukturen haben eine zeitliche Dynamik, sie entstehen eben prozesshaft, können aber verändert werden. Strukturen sind von daher reversibel. Prozesse haben zwar eine (reversible) Struktur, bestehen operativ aber aus irreversiblen Ereignissen: „Sie können nicht rückwärts laufen.“ (Luhmann 1984, S. 74; vgl. auch 71 sowie Miebach 2009, S. 52, 59)

  33. 33.

    Die ja (Struktur und Prozess), das muss man sich an dieser Stelle klar machen, denn darüber ist der Bezug zu ‚andere Selektionen‘ herzustellen, Selektionsprodukte sind.

  34. 34.

    Den Sachverhalt, den ich vorstehend versuche aufzuschlüsseln, bringt Luhmann meiner Deutung nach durch folgende – und gleich noch kommentierend zu erläuternde – Aussage zum Ausdruck: „Ein System, das über eigene Strukturen und Prozesse verfügt, kann alle Elemente, die es produziert und reproduziert, diesen Formen (also ‚Struktur‘ und ‚Prozess‘ als Formen, R.G.) der Selektivitätsverstärkung zuordnen. Dadurch kann es seine eigene Autopoiesis regulieren. Diese Erfassung der Gesamtheit möglicher Elemente durch die Formen der Selektivitätsverstärkung […] fungiert nur als Differenzschema […] Der Ordnungsgewinn liegt darin, daß das System sich an diesen Differenzen (von Struktur und Prozess, die mittels des genannten Differenzschemas gebildet werden, R.G.) orientieren und seine Operationen darauf einstellen kann.“ (Luhmann 1984, S. 74 f.) In dieser Aussage steht ‚Formen/Differenzschema‘ meiner Deutung nach für das, was ich eben mit ‚Vorstellung/Konzept‘ usw. benannt habe. Bei der Deutung dieser Aussage ist auch zu beachten, dass sie ein Beispiel dafür ist, was ich in Anm. 13 mit ‚Luhmanns Kompaktbegrifflichkeit‘ angedeutet habe. Bezogen auf die zitierte Aussage heißt das: Ein soziales System kann als ein solches System nichts machen und tun. Denn es sind – im Kern, um es hier der Einfachheit halber etwas verkürzend darauf zuzuspitzen – allein die Alters und Egos mit jeweiligen operativen und strukturellen Selektionen, die ein soziales System ausmachen (vgl. ausführlicher Greshoff 2011b). ‚Soziales System/dessen Tun usw.‘ muss man also, wie ich es hier ausbuchstabiere, in solche Selektionen und deren Produktionen aufschlüsseln.

  35. 35.

    Luhmann beschreibt Strukturen dahin gehend, dass sie „die offene Komplexität der Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden, in ein engeres Muster ‚geltender‘, üblicher, erwartbarer, wiederholbarer oder wie immer bevorzugter Relationen (fassen, R.G.).“ (Luhmann 1984, S. 74) Strukturen sozialer Systeme bestimmt Luhmann als Erwartungen – „die Strukturen des Systems, […] also Kommunikation steuernde Erwartungen“ (Luhmann 1997, S. 454) –, genauer, als bestimmte Erwartungen, nämlich Erwartungserwartungen. Denn geeignet als Struktur für soziale Systeme sind Erwartungen dann, „wenn sie ihrerseits erwartet werden können. […] Das Erwarten muß reflexiv werden […] so, daß es sich selbst als erwartend erwartet weiß. Nur so kann das Erwarten ein soziales Feld mit mehr als einem Teilnehmer ordnen. Ego muß erwarten können, was Alter von ihm erwartet, um sein eigenes Erwarten und Verhalten mit den Erwartungen des anderen abstimmen zu können.“ (Luhmann 1984, S. 411 f.) Gleiches gilt umgekehrt für Alter (Tertius, usw.). Soziale Strukturen als solche Erwartungen schränken somit ein, um eine andere Beschreibung von Luhmann aufzugreifen, welches operative Geschehen auf welches andere operative Geschehen folgen kann.

  36. 36.

    Luhmann geht in diesem Fall dann von folgendem Sachverhalt aus: „Prozesse kommen dadurch zustande (und der Prozeßbegriff soll hier dadurch definiert sein), daß konkrete selektive Ereignisse zeitlich aufeinander aufbauen, aneinander anschließen, also vorherige Selektionen bzw. zu erwartende Selektionen als Selektionsprämisse in die Einzelselektion einbauen.“ (Luhmann 1984, S. 74) Ich habe diese Aussage ja bereits oben (Nr. 9) aufgeschlüsselt.

  37. 37.

    Siehe nur Luhmann 1981, S. 136; 1984, S. 73, 611 f.

  38. 38.

    Die Aktivierung ist immer ein individueller Vorgang als Teil sozialen Geschehens (vgl. dazu schon Anm. 27).

  39. 39.

    Solange dieser Rahmen bzw. die ihn ausmachenden Erwartungen aktivierbar sind und von daher im Prinzip Selektionsproduktionen orientieren können, dauert der Prozess an, auch wenn zeitweilig keine Operationen erzeugt werden. ‚Prozess‘ heißt also nicht, dass ununterbrochen Operationen produziert werden müssen. Mit Blick auf sein Prozesskonzept formuliert Luhmann diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Dieser Prozeßbegriff gibt Raum für Zeitdistanzen zwischen Ereignissen […] Prozesse pausieren, die Akteure haben zwischendurch etwas anderes zu tun.“ (Luhmann 1981, S. 189) Möglich wird das ‚etwas anderes tun‘ durch die (nicht-ereignishaften) Strukturen sozialer Prozesse. Mit Blick auf solche Strukturen sozialer Prozesse lässt sich auch eine Verknüpfung zwischen den Prozesskonzepten von Luhmann und Dretske herstellen. Dretske misst Strukturen ebenfalls einen zentralen Stellenwert für Prozesse zu; was er meiner Deutung nach mit ‚Zielvorgabe‘ meint (vgl. oben Nr. 3), entspricht möglicherweise dem, was ich hinsichtlich Luhmanns Position eben mit ‚regulative Idee‘ umschrieben habe.

  40. 40.

    Eine solche Zuordnung zu einem Prozessgeschehen ist ebenso für Alter bzw. die anderen Prozessoren anzunehmen, wenn sie in gleicher Weise orientiert operieren. Dass solche Zuordnungen – mit allem, was wie erläutert dazu gehört – iterativ ‚praktiziert‘ werden, macht eben einen Prozess aus.

  41. 41.

    Auf seine (Un-) Wahrscheinlichkeits-Annahmen gehe ich hier nicht ein.

  42. 42.

    Die Vorstellungen sind natürlich immer individuell von Alter, Ego usw. produzierte bzw. aktivierte Vorstellungen. An der individuellen Produktion/Aktivierung ändert sich nichts dadurch, dass diese Vorstellungen kollektive, also sozial gültige Vorstellungen sind, d. h. die Alters und Egos somit irgendwie gegenseitig bestätigt davon ausgehen, dass sie im Prinzip gleiche Vorstellungen zugrunde legen.

  43. 43.

    Die Annahme eines ‚Wiedereintretens‘ ist irreführend, denn es ist ja Merkmal von ‚Prozess‘, dass in ihm von den zugehörigen Prozessoren eine Vorstellung vom Prozess gebildet wird. Diese Vorstellung ist Teil von Prozessen, sobald es Prozesse gibt; sie kommt nicht irgendwie hinzu und tritt auch nicht in den Prozess ein, sondern ist Teil von ihm.

  44. 44.

    Den Sachverhalt ‚schwächer ausgeprägtes Merkmal‘ umschreibt Luhmann auch dahin gehend, dass zu allen Prozessen ‚zumindest ansatzweise‘ ein Moment der Selbstbeobachtung gehört – siehe zum Beleg das jetzt folgende Zitat.

  45. 45.

    Diese Optionen kommen im obigen Zitat in Luhmanns Formulierung „Es müssen aber Einzelereignisse oder Prozesse im Prozeß vorliegen, die es übernehmen, den Prozeß in den Prozeß wiedereinzuführen, und die für diese Funktion ausdifferenziert sind“ zum Ausdruck.

  46. 46.

    Das ‚speziell‘ kommt durch die Formulierungen Luhmanns zum Ausdruck, die ich im längeren Zitat kursiv gesetzt habe (‚nur dann‘, ‚dieses‘). Des Weiteren auch durch seine Beschreibung, dass „Reflexivität nur auf der Grundlage (Hervorh. R.G.) der selbstselektiven, Selektion durch Selektion verstärkenden Struktur von Prozessen entstehen“ kann (Luhmann 1984, S. 610). Denn „auf der Grundlage“ heißt: es kommt noch etwas zur reflexiven Selektion, also zum Vorgang „Selektion durch Selektion“ (vgl. Nr. 10), hinzu.

  47. 47.

    „Zu den Mindestanforderungen zählen nicht: Kontinuierlichkeit und Wiederholbarkeit des Prozesses.“ (Luhmann 1981, S. 188)

  48. 48.

    Explizit heißt es bei Luhmann, dass „teleologische Prozesse ihr eigenes Ende einbeziehen können, morphogenetische Prozesse dagegen nicht.“ (Luhmann 1984, S. 485 f.) An früherer Stelle unterscheidet Luhmann reflexive Prozesse von teleologischen Prozessen. Mit ‚reflexiven Prozessen‘ scheint er dort nicht morphogenetische Prozesse zu meinen, sondern eine übergreifende Sorte von Prozessen. Die Aussagen sind an dieser Stelle aber nicht sonderlich klar. „Analysiert man […] die Struktur der Selbstreferenz im Falle von Prozessen genauer, dann erhellt ihr nicht-teleologischer Charakter. Reflexive Prozesse […] haben die Eigenart, daß sie ihr Ende nicht selbst bestimmen können; sie müssen von außen gestoppt werden. Im Unterschied dazu operieren teleologische Prozesse unter einer Sinnbestimmung, mit der sie sich selbst anhalten können. Sie hören auf, wenn sie ihr Ziel erreichen oder wenn feststeht, daß sie ihr Ziel nicht erreichen können.“ (Luhmann 1981, S. 194) Luhmanns im vorstehenden Zitat benutztes Konzept von teleologischen Prozessen korrespondiert problemlos dem in Soziale Systeme verwendeten; welche Merkmale ‚reflexiver Prozess‘ im Zitatkontext hat, bleibt dagegen unklar.

  49. 49.

    Für diese Einschätzung spricht auch Luhmanns kontrastive Darstellung von teleologischen und morphogenetischen Prozessen. Für erstere nimmt er an, dass „Ereignisse nur deshalb ausgelöst, Handlungen nur deshalb gewählt werden, weil sie Folgen haben werden, die ihrerseits nur eintreten können, wenn die Auslöseereignisse realisiert werden.“ (Luhmann 1984, S. 484 f.) Ein solches Vorverweisen gibt es bei morphogenetischen Prozessen gerade nicht.

  50. 50.

    Man kann es sich im Abstrakten folgendermaßen vorstellen: Selektivitäten, die sich strukturell eingespielt haben, werden von Prozessoren im Zusammenhandeln variiert, diese Variation wird (in Teilen) aufgegriffen und manches davon als neue Sozialstruktur stabilisiert. Entsprechend liest man bei Luhmann: „Die Variation erzeugt […] eine Differenz, nämlich im Unterschied zum bisher Üblichen eine Abweichung. Diese Differenz erzwingt eine Selektion – gegen oder für die Innovation. Die Selektion wiederum erzwingt, wenn sie das Neue wählt, Kaskaden von Anpassungs- oder Abgrenzungsbewegungen im System (das wäre dann ‚(Re-) Stabilisierung‘, R.G.), und, wenn sie es beim Alten belässt, Bestätigungen für diese Option, da das vordem Selbstverständliche kontingent geworden ist.“ (Luhmann 1997, S. 451) Über die Trias ‚Variation-Selektion-(Re-) Stabilisierung‘ kann es dann etwa von der Selektivität ‚Schrift‘ zur Selektivität ‚Buchdruck‘ kommen. Zu Luhmanns Konzept sozialer Evolution siehe Luhmann 1997, S. 454 f.

  51. 51.

    Auch andere Aussagen bestärken die angenommene Widersprüchlichkeit. „Prozesse ‚bestehen‘ aus Ereignissen in der Weise, daß die Ereignisse in ihrem Sinne durch ein Vorher und ein Nachher konstituiert werden […] Vor allem aber ließe sich ohne Bezug auf Nebeneindrücke, die das im Prozeß sich nicht Verändernde festhalten, die Selektionsrichtung und damit die Einheit des Prozesses gar nicht ausmachen. Ein Prozeß hat nämlich seine Einheit darin, daß er die Selektivität von Ereignissen durch sequentielle Interdependenz verstärkt.“ (Luhmann 1981, S. 188) Auch hier wird ‚Prozess‘ offenbar ganz allgemein und unter Bezug auf das, was Luhmann ‚wechselseitige Selektivität‘ nennt (Luhmann 1984, S. 485) – und was das Rück- und Vorverweisen meint –, bestimmt, nämlich als Interdependenz.

  52. 52.

    Vgl. zu diesem Problem auch Meier 1978, S. 23 f. Vayda et al. 1991, S. 324 f.

  53. 53.

    Etwa kommunikatives Zusammenhandeln; der Terminus ‚Zusammenhandeln‘ wird später noch erläutert.

  54. 54.

    Unter diese Kategorie fällt vermutlich auch irgendwie die Verwendungsweise des Wortes ‚sozialer Prozess‘, die sich bei Leopold von Wiese findet. Der Hauptbegriff seiner ‚Beziehungslehre‘ genannten Allgemeinen Soziologie von 1924 ist der Begriff des sozialen Prozesses (v. Wiese 1966, S. 110). Er scheint ‚sozialer Prozess‘ als so etwas wie eine soziale Beziehung im Weber’schen Sinne zu begreifen. „Das Gesamtgeschehen im sozialen Raume […] zerfällt in eine unendlich große Fülle von sozialen Prozessen, die alle Näherungs- und Entfernungsvorgänge (Ab- und An-Prozesse) sind.“ (v. Wiese 1966, S. 110) Beschrieben wird ein sozialer Prozess als „ein Geschehnis zwischen Menschen, bei dem jeder Partner subjektiv einen verbindenden Strom von sich ausgehen und (mehr oder weniger deutlich) einen anderen auf sich zukommen fühlt.“ (v. Wiese 1966, S. 174) An sozialen Prozessen sind also immer mindestens zwei Menschen beteiligt (v. Wiese 1966, S. 117). Und soziale Prozesse werden situationsbezogen produziert. „Jeder soziale Prozeß ist das Ergebnis (‚Produkt‘) aus einer persönlichen Haltung (H) und einer Situation (S ).“ (v. Wiese 1966, S. 165) ‚Haltung‘ meint dabei zweierlei. Einmal die mehr oder weniger ‚angeborene Eigenart‘ von Menschen und weiter ihre Erfahrungen, „das Erlebte, die Nachwirkung der Vergangenheit.“ (vgl. v. Wiese 1966, S. 166) Auch ‚Situation‘ umfasst zweierlei. Zum einen die ‚sachlichen Gegebenheiten‘ einer außermenschlichen Umwelt, zum anderen „die Haltung der anderen bei dem vorliegenden Prozesse beteiligten Menschen.“ (v. Wiese 1966, S. 166) Den Gesamtvorgang umschreibt v. Wiese formelhaft folgendermaßen: „Die Grundformel jeder Analyse eines sozialen Prozesses lautet P = H × S.“ (v. Wiese 1966, S. 165) Ereignissequenzen bestimmten Zuschnitts muss das von Wiese’sche Prozessgeschehen offenbar nicht meinen. Ein ähnliches Prozessverständnis wie bei von Wiese findet sich auch bei einem Zeitgenossen von ihm, nämlich Cooley (1918).

  55. 55.

    Nur vorgreifende Selektivitätsverstärkung anzunehmen, scheint wenig sinnvoll, weil darüber kein gerichteter Verlauf aneinander anschließender Operationen zustande kommen muss. Es kann beim einmaligen Vorverweisen bleiben, ohne dass an ein ‚Vorher‘ angeknüpft wird.

  56. 56.

    ‚In Ansätzen‘ soll auch heißen, dass hier aus Platzgründen die umfangreiche Literatur zu sozialen Mechanismen nicht in dem Maße, wie es eigentlich nötig wäre, einbezogen werden kann.

  57. 57.

    Man muss sich direkt zu Beginn klar machen, dass mit dem Terminus ‚sozialer Mechanismus‘ nicht immer derselbe Begriff verbunden wird. „As is always the case in new movements, competing definitions and practical proposals for the analysis of mechanisms and processes have proliferated wildly … No conceptual, theoretical, or methodological consensus has so far emerged.“ (Tilly 2008, S. 9; vgl. auch Mahoney 2001; Norkus 2005; Koenig 2008; Gerring 2010 sowie Wan 2011, S. 142–144). Die damit angesprochene begriffliche Vielfalt kann an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden. Im Folgenden wird aber deutlich, welches Verständnis von sozialen Mechanismen hier zu Grunde liegt. Für einen Überblick über die Diskussion siehe etwa die Beiträge in den Themen-Heften 2 und 3 von Philosophy of the Social Science 34/2004 sowie aktuell die Aufsätze in Demeulenaere 2011b.

  58. 58.

    George und Bennett formulieren diesen Unterschied folgendermaßen: „(C)ausal mechanisms provide more detailed and in a sense more fundamental explanations than general laws do. The difference between a law and a mechanism is that between a static correlation (‚if X, then Y‘) and a ‚process‘ (‚X leads to Y through steps A, B, C‘).“ (George und Bennett 2005, S. 141) Weil durch ein Ausbuchstabieren das kausale ‚Funktionieren‘ von black boxes transparent wird, beschreibt man mechanismische Erklärungsweisen auch als ‚Öffnen der black box‘: „Rather than trying to explain an event E by the statement ,Whenever events C1, C2,… E follows, one may try to establish the causal chain that leads from the causes C1, C2,… to E. This step is often referred to as ‚opening the black box‘.“ (Elster 2007, S. 32)

  59. 59.

    Andere Autoren konzeptualisieren ähnlich: „A mechanism … refers to a constellation of entities and activities that are organized such that they regularly bring about a particular type of outcome, and we explain an observed outcome by referring to the mechanism by which such outcomes are regularly brought about.“ (Hedström und Bearman 2009, S. 5) ‚Regelmäßigkeit‘ als Merkmal von Mechanismen anzunehmen, ist umstritten – dagegen argumentieren etwa Schmid (2006, S. 145 f.) sowie Kaven (2010) – und hängt eben davon ab, wie ‚sozialer Mechanismus‘ bestimmt wird (vgl. Anm. 57). Ich folge hier im Wesentlichen der Ansicht von Pierre Demeulenaere: „the notion of mechanism […] clearly implies some kind of regularity, causality and predictability […] in the absence of such features it would seem an abuse of language to speak of a mechanism.“ (Demeulenaere 2011a, S. 176)

  60. 60.

    So gehen etwa Hedström und Ylikoski davon aus, dass die „basic idea of a mechanism-based explanation is quite simple: At its core, it implies that proper explanations should detail the cogs and wheels of the causal process through which the outcome to be explained was brought about.“ (Hedström und Ylikoski 2010, S. 50)

  61. 61.

    Exemplarisch sei hier auf Norkus’ Kritik an Tilly verwiesen: „Tilly’s mechanisms are conceived as alternatives to the ‚standard stories‘, but they remain of uncertain explanatory value insofar as they are not elaborated into detailed accounts or transformed into fully-fleshed stories.“ (Norkus 2005, S. 370) Eine stärker ausbuchstabierte Mechanismenskizze, allerdings mit einem etwas dunklen Mechanismenkonzept, findet man etwa bei Florian (2006).

  62. 62.

    Man wird nicht schlüssig annehmen können, dass mit ‚Zwang‘ Regelmäßigkeit einhergehen muss. Sie kann es aber. Denn ‚regelmäßig‘ heißt ja, dass unter bestimmten Bedingungen, Voraussetzungen und Gegebenheiten mit Wahrscheinlichkeit immer – insofern also zwingend – etwas Bestimmtes der Fall ist. Von daher sind die Überlegungen Kavens auch für den Punkt ‚Regelmäßigkeit‘ relevant.

  63. 63.

    Dabei wird man vorsichtig verfahren sein müssen. Eine einfache Übertragung ist sicher nicht möglich, sondern man muss das Beispiel abstrakter fassen und dann rekonkretisieren/respezifizieren (vgl. für eine ähnliche Vorgehensweise Luhmann 1984, S. 32).

  64. 64.

    Das Problem, ob „die Formulierung eines Mechanismus Startbedingungen und Ergebnisse ein- oder ausschließt, ob also der Begriff ‚Mechanismus‘ einen sich (wiederholenden) Prozess von Anfang bis zum Ende bezeichnet, oder nur jenen Teil des Prozesses, der Anfang und Ende ‚verknüpft‘“ (Mayntz 2005, S. 211), muss hier undiskutiert bleiben. Es spricht aber manches dafür, Startbedingungen und Ergebnisse nicht einzuschließen.

  65. 65.

    Die Gründe dafür, dass mich Kavens Strukturkonzept als Antwort auf die Frage nicht überzeugt, finden sich an anderer Stelle entwickelt (vgl. Greshoff 2012).

  66. 66.

    Diese doppelte Selektivitätsverstärkung impliziert – mit den mechanismenspezifischen Modifikationen – dann auch das, was ich oben als ‚reflexive Selektion‘ analysiert habe. ‚Reflexivität‘ dagegen ist vermutlich kein notwendiges Merkmal von sozialen Mechanismen.

  67. 67.

    Für die Handlungsproduktion von Ego, Tertius und anderen Akteuren des Mechanismengeschehens ist dann analog gleiches anzunehmen, wie es gerade für Alter skizziert wurde.

  68. 68.

    Auch für die Prozessformen ‚Pfadabhängigkeit‘ und ‚Eigendynamik‘ wird sich, so meine Annahme, Selektivitätsverstärkung als wichtiges Merkmal belegen lassen (für Meier 1978, S. 28–47) meiner Ansicht nach zu abstrakte Bestimmungen zum Themenkomplex ‚autonome Prozesse‘ wäre ebenfalls entsprechendes zu prüfen). North etwa nimmt an, dass Pfadabhängigkeitsprozesse im technologischen wie institutionellen Bereich über ‚increasing returns‘ zustande kommen, die nach und nach von den irgendwie aneinander anschließenden Handlungen jeweiliger Akteure produziert werden. Solchen ‚increasing returns‘ liegt immer irgendein – für jeweilige Pfadabhängigkeiten gleicher – sachlicher, thematischer oder sonstiger Bezug zugrunde, also „subjective mental constructs of the participants“, die „reinforce the course“ (North 1990, S. 98 f.). Etwa, um das bekannte QWERTY-Beispiel aufzugreifen, das Problem, welche Schreibtastatur benutzt wird. Solche Bezüge sind im Prinzip nichts anderes als die oben genannte regulative Idee (Nr. 14), an der in jeweiligen sozialen Konstellationen iterativ Handlungen orientiert werden und die daher selektivitätsverstärkend wirkt, so dass ‚increasing returns‘ resultieren können. Ähnliches kann für Eigendynamiken angenommen werden. Nach Mayntz und Nedelmann kennzeichnet solche Dynamiken, dass „Akteure die sie antreibenden Motivationen im Prozeßverlauf selbst hervorbringen und verstärken“ (Mayntz und Nedelmann 1987, S. 649). Dies geschieht gegenseitig, so dass „wechselseitige Verstärkungen … bestimmter Verhaltensweisen“ daraus folgen (Mayntz und Nedelmann 1987, S. 651). Zwar wird nicht näher erläutert, was ‚Verstärkung‘ als ein soziales Phänomen ausmacht, aber von den im Text gewählten Beispielen her – Elias’ Königsmechanismus etwa – scheint es mir nicht zu gewagt anzunehmen, dass ‚Verstärkung‘ hier ‚Selektivitätsverstärkung‘ meint. Sowohl Pfadabhängigkeiten als auch Eigendynamiken werden auf der Basis einfacher wie doppelter Selektivitätsverstärkung möglich sein.

  69. 69.

    Unter diesem Punkt erläutere ich ‚Zusammenhandeln‘ als ein Sozialgeschehen in übergreifender Perspektive, also nicht nur bezogen auf soziale Prozesse. Um den Stellenwert von ‚Zusammenhandeln‘ zu verdeutlichen: hinsichtlich sozialer Gebilde, Konstellationen, Prozesse usw. ist ‚Zusammenhandeln‘ in etwa als das zu begreifen, was im Kontext der Luhmannschen Sozialtheorie mit ‚Letztelement‘ umschrieben wird. Ob die vier Handlungen tatsächlich als Handlungen oder vielleicht besser als handlungsförmiges Geschehen zu begreifen sind, ob man vielleicht sinnvollerweise Bündelungen vornimmt und dann nicht von vier, sondern von weniger Handlungen/handlungsförmigem Geschehnissen ausgeht, lasse ich zunächst undiskutiert. Wichtig scheint mir erst einmal, die vier Vorgänge und ihre unterschiedlichen Perspektiven analytisch in den Blick nehmen zu können, weil sonst soziales Geschehen in seiner je individuellen Regulation nicht hinreichend aufgeklärt werden kann.

  70. 70.

    Mit sozialen Strukturen sind geteilte, also im Zusammenhandeln immer wieder als sozial gültig bestätigte und darüber reproduzierte Erwartungen der Prozessoren gemeint, die ihnen zur Orientierung ihrer Handlungen dienen, also etwa Normen, Regeln, Kollektivbeschreibungen hinsichtlich Handlungsmöglichkeiten, Ressourcen, Opportunitäten usw.

  71. 71.

    Genauer muss es heißen: Einwirken wollen, weil der Erfolg ja zunächst offen ist, da er nicht in der Hand des die Einwirkung produzierenden Prozessors liegt. Während Einwirkungen eine irgendwie wahrnehmbare – hörbare, sehbare usw., kurz: ‚overte‘ – Komponente haben, ist das bei den anderen drei Handlungen meist nicht der Fall. Sie haben einen primär deutend-verarbeitenden Charakter und lassen sich von daher als ein eher ‚covertes‘ Tun begreifen, da sie keine wahrnehmbare Komponente haben müssen.

  72. 72.

    Für alle vier Handlungen wird im Prinzip angenommen, dass sie – als Spektrum gemeint – dem Modus nach unbewusst-gewohnheitsmäßig oder bewusst/reflexiv-entscheidungsförmig produziert werden können. Und wichtig zu konzeptualisieren und zu erklären wäre dann, wann/warum welcher Modus der Fall ist bzw. unter welchen Bedingungen von einem Modus in den anderen gewechselt wird. Hierzu haben in letzter Zeit vor allem Hartmut Esser und Clemens Kroneberg fruchtbare Konzepte entwickelt (siehe dazu jetzt Kroneberg 2011).

  73. 73.

    Eine „selbstselektive […] Struktur von Prozessen“ anzunehmen (Luhmann 1984, S. 611), wie es Luhmann macht, halte ich von daher für falsch. Soziale Strukturen, Prozesse, Gebilde usw. können in einem wörtlichen Sinne nichts herstellen, machen oder tun; das vermögen allein die genannten Prozessoren.

  74. 74.

    Ausführlicher dazu, auch zu den notwendigen sozialen Voraussetzungen (Sozialisation usw.) von Prozessoren, Greshoff 2011b. Vgl. für eine ähnliche Herangehensweise wie die hier vorgestellte die grundlegenden sozialtheoretischen Konzepte von Michael Schmid (2006, S. 9–31).

  75. 75.

    Die Wichtigkeit dieser Handlungen für den eben umrissenen Produktionsvorgang macht Kurzman mit folgender Überlegung plausibel: „aggregate phenomena … rely on the existence of particular inner states among enough individuals to generate the specified macro-level outcomes … The term inner states is intended to include the broadest possible range of mental structures and processes, among them preference structures, motivations, and emotions. Some of these may be conscious or available to consciousness upon reflection, while others may not … In any case, causation operates through these inner states. As a result, individuals’ inner states constitute a proving ground for explanatory hypotheses … Explanation needs to address understanding.“ (Kurzman 2004, S. 329 f.)

  76. 76.

    Ausführlicher dazu siehe Greshoff 2010, 2011a.

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Greshoff, R. (2015). Weites oder enges Prozessverständnis? Konzeptuelle Erörterungen auf der Basis einer kritischen Rekonstruktion des Luhmannschen Prozessbegriffes und unter Bezug auf soziale Mechanismen. In: Schützeichel, R., Jordan, S. (eds) Prozesse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93458-7_17

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