Zusammenfassung
Georg Breidenstein diskutiert die Praxis des Beobachtens im Unterrichtsalltag vor dem Hintergrund der Ethnographie und denkt darüber nach, wie sich bestimmte Prinzipien und Praktiken ethnographischen Forschens so adaptieren lassen, dass sie sich für Beobachtungen in der Schule zum Beispiel im Rahmen von Schulpraktika oder kollegialer Leitung eignen. Gefragt wird nach der Spezifik ethnografischen Beobachtens und dessen Potential für die Reflexion schulischen Alltags. Beschrieben werden drei Strategien der Distanznahme von den Selbstverständlichkeiten des Alltagswissens, die grundlegend sind für ethnographische Vorgehensweisen. Zur Veranschaulichung wird ein Beispiel aus einem Forschungsprojekt zur schulischen Leistungsbewertung vorgestellt: eine kleine Beobachtung zu einer mündlichen Prüfung. Abschließend fragt der Autor nach den Möglichkeiten und Grenzen ethnographischen Beobachtens im Unterricht.
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Notes
- 1.
Als Lehrbücher für ethnographisches Forschen sind vor allem Atkinson und Hammersley (1995) sowie Emerson et al. (1995) empfehlenswert.
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Hier ist mit mehrjährigen Forschungsprozessen zu rechnen, die typischerweise nur im Rahmen von Promotionsprojekten oder von Drittmittelforschung zu bewältigen sind.
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Während Zinnecker (2000) noch über eine Hemmung der Erziehungswissenschaft in Bezug auf ethnographische Forschung klagt, ist inzwischen zu konstatieren, dass im Rahmen von großen Tagungen und auch Sammelbänden ein intensiver Austausch über „erziehungswissenschaftliche Ethnographie“ in Gang gekommen ist (vgl. Hünersdorf et al. 2008; Heinzel et al. 2010).
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Exemplarisch seien einige Studien genannt, wobei das Feld ethnographischer Unterrichtsforschung inzwischen so ausdifferenziert ist, dass es eine eigene Betrachtung erfordern würde (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: Kalthoff 1997; Wiesemann 2000; Rusch und Thiemann 2003; Budde 2005; de Boer 2006; Huf 2006; Breidenstein 2006; Wulf et al. 2007; Langer 2008; Hecht 2009; Zaborowski et al. 2011).
- 5.
Dafür wird auch in anderen Methodologien im Forschungsprozess systematisch „Fremdheit“ erzeugt: in der „Objektiven Hermeneutik“ etwa durch die Etablierung einer Haltung „künstlicher Naivität“ in der Interpretation oder in der „dokumentarischen Analyse“ durch die Suche nach „Gegenhorizonten“.
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Einführend zur Perspektive der Ethnomethodologie Bergmann (2000) und Breidenstein und Tyagunova (2011).
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Das DFG-Projekt „Leistungsbewertung in der Schulklasse“ wurde unter meiner Leitung von 2005–2010 am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt. Die Projektergebnisse werden ausführlich dargestellt in Zaborowski et al. (2011).
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Der Forschungsstand zu schulischer Leistungsbewertung und zur Zensurengebung ist sehr differenziert und kann hier nicht referiert werden. Für Überblicksdarstellungen sei auf Weinert (2001), Beutel (2005), Sacher (2004) oder Brügelmann et al. (2006) verwiesen.
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Fritz Schütze (1994, S. 189) schlägt eine grundlegende Orientierung der Methoden der Sozialen Arbeit an der sozialwissenschaftlichen Tradition ethnographischer Feldforschung vor, mittels derer „die sympathetische Fremdheitshaltung am besten auf Dauer gestellt werden“ könne. – Auch die pädagogische und didaktische Praxis in der Schule sollte vermutlich viel öfter von Fremdheit ausgehen, als sie es oft tut – vor allem von der Fremdheit der Lebenswelt der Kinder oder Jugendlichen, die die Adressaten des Unterrichts sind.
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Auch die Polygamie oder die Menschenfresserei muss als in sich sinnvoll und funktional untersucht werden, wenn man diese Phänomene verstehen will.
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Breidenstein, G. (2012). Ethnographisches Beobachten. In: de Boer, H., Reh, S. (eds) Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18938-3_2
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