Zusammenfassung
1. Am 1. oder 2. November 1918 gegen elf Uhr vormittags wartete ein dreizehnjähriger Junge auf dem Wiener Nordbahnhof auf die Rückkehr seines Vaters von der Front. Ein eiskalter Wind, so erinnert er sich, blies über die Bahnsteige, als nach vielen Stunden ein Zug einlief. Unter den Militärpersonen, die dem Zug entsteigen, sieht der Junge einen Hauptmann mit einem schwerbeladenen Diener, der zur Eile angetrieben wird. Der Putzfleck — wie man in der k. und k. Armee solche Diener nannte — habe trotz Kälte schweißüberströmt, unter der Last den Kopf mit Mühe hebend, ununterbrochen »Melde gehorsamst, ich komm’ schon« gemurmelt, als ihm plötzlich ein junger Soldat den Weg vertritt und mit den Worten »Kamerad, was rennst du so? Hast ja viel Zeit. Wir alle haben viel Zeit«, die Koffer aus der Hand reißt. Durch stumme Zeichen warnt der Angesprochene vor seinem Offizier, der sich umblickt und einzugreifen droht. Als der Offizier näherkommt, bemerkt er, daß von der Kappe des jugendlichen Soldaten die kaiserlichen Kokarden entfernt und durch ein Bändchen mit den polnischen Nationalfarben ersetzt sind. Kaum noch entschlossen, auf dieses Zeichen der Meuterei gebührend zu antworten, will er, jetzt schon von den anderen umringt, die ihm die Mütze vom Kopf schlagen, zum Säbel greifen, als sein Diener mit einer behenden Bewegung die Lasten abwirft und, nun aufrecht, größer als sein Herr, diesem zwei schallende Ohrfeigen versetzt. Darauf, so der Erzähler, sei dem Hauptmann plötzlich aufgegangen, daß »etwas Unheimliches« geschehen sei und er habe sich, da die Untergebenen ihm unberechenbar »wie Untiere in Alpträumen« erschienen, mit einem Sprung über die Gleise der Situation entzogen, vom Gelächter der Meuterer begleitet.1
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Literatur
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Lethen, H. (1990). Blitzschnelle Metamorphosen. 7 Überlegungen zu einem Putzfleck. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_20
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