Zusammenfassung
Ende des letzten Jahrhunderts kommt der Fall einer Stromüberbrückung zu einer gerichtlichen Anklage. Das Landgericht Elberfeld verurteilt den Angeklagten wegen Diebstahls. Das Oberlandesgericht München bestätigt die landgerichtliche Entscheidung. Erst das Reichsgericht hebt 1896 diese Urteile auf: elektrischer Strom sei — im Sinne des damaligen § 242 StGB (heute: § 248 StGB) — nicht stehlbar. Die Begründung beruft sich auf ein spezifisches Tatbestandsmerkmal des Diebstahls. Dieser stellt die rechtswidrige Wegnahme einer Sache dar. Da Strom oder elektrische Energie keine Sache sei, könne eine Bestrafung wegen Diebstahls nicht erfolgen.1 Spuren dieses Falls findet der Zeitgenosse im Strafgesetzbuch unter dem Paragraphen 248c, der, als Bestandteil des Diebstahlparagraphen, den Titel trägt: „Entziehung elektrischer Energie“. Zu diesem Fall bemerkt Max Weber:
„Die ‚Erwartungen‘ der Rechtsinteressenten sind an dem ökonomischen oder fast utilitarischen praktischen ‚Sinn‘ eines Rechtssatzes orientiert; dieser aber ist, rechtslogisch angesehen, irrational. Niemals wird ein ‚Laie‘ verstehen, daß es einen ‚Elektrizitätsdiebstahl‘ bei der alten Definition des Diebstahlsbegriffs nicht geben konnte.
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Literatur
Vgl. dazu Eduard Kohlrausch: Das „Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit“ und seine Vorgeschichte, in: ZStW 20 (1900), S. 459–510. Einzelheiten der jeweiligen Urteilsbegründungen sind hier nachzulesen. Am 09.04.1900 tritt schließlich das Gesetz, das dem heutigen § 248c StGB entspricht, in Kraft.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (WuG), Studienausgabe, 5. revidierte Auflage, Tübingen (Mohr) 1980, S. 506
Weber irrt also insofern, als es auf Grundlage des Diebstahlsparagraphen durchaus einen Elektrizitätsdiebstahl geben konnte. Zwei Gerichte haben immerhin den damals Beschuldigten verurteilt und den Laien erst gar nicht in Erstaunen versetzt.
Kohlrausch 1900, S. 459
WuG, S. 396
Vgl. WuG, S. 444
Vgl. Numeri 27
Vgl. Numeri 26
Vgl. Numeri 36
Weber spricht hier von einer Korrektur. Es handelt sich dabei aber eher um einen Zusatz. Deshalb erscheint mir auch der Zusammenhang, in welchem Weber das Beispiel anführt, als problematisch. Er will damit die Labilität der Weistümer exemplifizieren. Insofern wählt er ein „schlechtes“ Beispiel.
Vgl. WuG, S. 444
So auch Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S. 134
Von einer solchen Möglichkeit spricht Weber selbst: „Indem der Richter in einem konkreten Fall aus noch so konkreten Gründen die Zwangsgarantie eintreten läßt, schafft er unter Umständen die empirische Geltung einer generellen Norm als ‚objektives Recht‘, weil seine Maxime über diesen Einzelfall hinaus Bedeutung gewinnt.“ WuG, S. 444.
Dieses Problem sieht auch Schluchter (vgl. Schluchter 1979, S. 134 f). Sein Lösungsvorschlag, der in einem Rekonstruktionsversuch des Entwicklungsgangs des materialen Rationalisierungsprozesses besteht, ist rechtssoziologisch und rechtshistorisch äußerst interessant, stellt sich bezüglich der Begriffe der formalen und materialen Rationalität aber als äußerst problematisch dar. Wenn man wie er die Entwicklung des Verfahrens und die Entwicklung der Rechtsnormen in relativer Eigenständigkeit untersuchen will, ist dies sehr lohnend. Diese beiden Prozesse mit formaler und materialer Rationalisierung gleichzusetzen, zerstört aber die immanent-kategoriale Dynamik dieser Begriffe. Vgl. Schluchter 1979, S. 143 ff. und meine folgenden Ausführungen.
Bezüglich des vorgenommenen Gedankenexperiments bestünde ein solch formaler Aspekt ja gerade in dem Einwand gegen das zweite Urteil: Aber gestern hast Du anders entschieden. Darin ist eben eine formale Berufung auf die Konstanz der Urteilsnorm, nicht eine Berufung auf die inhaltliche Dignität dieser Norm zu sehen.
WuG, S. 396
Dieter Schwab: Einführung in das Zivilrecht, 8., neubearb. Aufl., Heidelberg (Müller) 1989, S. 96
WuG, S. 396 f.
WuG, S. 397
Ich will damit keineswegs gleichsam durch die Hintertür eine Entsprechung zwischen formaler und Zweckrationalität einerseits, materialer und Wertrationalität andererseits, die Döbert in überzeugender Weise widerlegt hat, wieder einführen. Vgl. Rainer Döbert: Max Webers Handlungstheorie und die Ebenen des Rationalitätskomplexes, in: Johannes Weiß (Hg.): Max Weber heute, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1989, S. 210–249
Deshalb begeht Hesse einen Fehler, wenn er den konkreten Formalismus als „strengste Form des formell-rationalen Rechts“ ansieht. Damit verwechselt er nämlich Formalismus mit formaler Rationalität. Entsprechend spricht er im Zusammenhang des logisch sublimierten Rechts von einer Milderung der „Strenge der formellen Rationalität“. Vgl. Hans Albrecht Hesse: Die Relevanz der Soziologie Max Webers für juristische Praxis und Juristenausbildung, in: ZVgl RWiss 82 (1983), S. 242–260, S. 245
Stephen Kalberg wählt diesen Begriff in Übereinstimmung mit der von mir analysierten Textstelle. Er begreift materiale Rationalität als „gültiger Kanon“, als „vereinheitlichender Maßstab“ der konkreten Wertorientierungen. Vgl. Stephen Kalberg: Webers Typen der Rationalität: Grundsteine für die Analyse von Rationalisierungsprozessen in der Geschichte, in: Walter M. Sprondel; Constans Seyfarth (Hg.): Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, Stuttgart (Enke) 1981, S. 9–38, S. 16
Alleine diese Betrachtung sollte deutlich gemacht haben, daß eine Interpretation materialer Rationalität im Sinne stufenförmiger Begründungsniveaus, an deren Ende die „Autonomie der postkonventionellen Begründung steht“, nicht mit Weber vereinbar ist. Vgl. z.B. Klaus Eder: Zur Rationalisierungsproblematik des modernen Rechts, in: Soziale Welt 1978, S. 247–256. Eder stellt sich die Materialisierung des formalen Rechts als Abbau von Herrschaft vor. Vgl. S. 256
In Anlehnung an Weber versucht Joachim Savelsberg in diesem Sinne eine Diagnose der Materialisierung des Strafrechts. Er versteht darunter u.a. das Eindringen solcher Elemente in das Strafrecht, die nicht genuin dem Begriff der Strafe verpflichtet sind (vgl. Joachim Savelsberg, Materialisierung des Strafrechts: Funktionen, Folgeprobleme und Perspektiven, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 10/1989, Hft. 1, S. 1–27). Wenn aber die im weitesten Sinne präventiven Elemente bereichslogisch als Materialisierung verstanden werden, dann wird zugleich unterstellt, eine strafrechtliche Realität, die sich streng an dem Strafbegriff orientiert, stelle ein höheres Maß der Formalisierung dar. Eine Zuordnung, die die „klassische“ Freiheitsstrafe dem Rechtsformalismus zuschreibt, die begleitenden Maßnahmen und nichtstrafenden gesellschaftlichen Reaktionen auf Kriminalität im Zeichen der Materialisierung des Rechts sieht, tilgt das Spannungsmoment des Weberschen Begriffspaars. Ein jugendgerichtliches Verfahren ist nicht einfach „materialer“ als das gewöhnliche Strafverfahren, sondern es operiert, angesichts eine spezifischen Problemlage, mit einem anderen Formalismus.
Weber erlaubt beide Interpretationen, ohne sie klar voneinander zu trennen. Dies darf den Interpreten allerdings nicht von der begrifflich notwendigen Trennung suspendieren. Insbesondere Schluchters Beitrag leidet offensichtlich an diesem Versäumnis. So spricht er zwar von einem Gegensatz und Konflikt zwischen formalen und materialen Geltungsansprüchen (Schluchter 1979, S. 135), charakterisiert das moderne Recht aber in demselben Atemzug dadurch, daß die formale Rationalisierung über die materiale die Oberhand gewinne (Schluchter 1979, S. 139). Damit ist die Konstruktion eines echten, unversöhnlichen Spannungsverhältnisses aber aufgegeben.
Insofern ist die Charakterisierung der Rechtsentwicklung als eine „inhaltliche Entleerung“ (vgl. beispielsweise Hesse 1983, S. 246) völlig unzutreffend. Die Rationalisierung und Autonomisierung der formalen Geltungssphäre konstituiert empirisch ein spezifisches Verhältnis zu Inhalten, keine faktisch historische Entleerung.
Rainer Döbert beispielsweise vertritt diese Weberinterpretation mit guten Gründen. Vgl.: Formale Rationalität als Kern der Weberschen Modernisierungstheorie, in: B. Lutz (Hg.), Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung, Frankfurt/M./New York (Campus) 1985, S. 523–529, und Döbert 1989
Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte politische Schriften (GPS), 4. Aufl., Tübingen (Mohr) 1980, S. 306–443, S. 332
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (GARS) I, Tübingen (Mohr) 1920, S. 204
WuG, S.513.
Vgl. hierzu vor allem: WuG, S. 507. Auch: WuG, S. 565. Die einzige mir bekannte Stelle, an der Weber explizit das Modell des Rechtsautomaten als Rekonstruktion richterlichen Handelns anfuhrt, enthält eine bezeichnende Relativierung: „Oder wo der Richter, wie im bürokratischen Staat mit seinen rationalen Gesetzen, mehr oder minder [Hervorh. A. W.] ein Paragraphen-Automat ist, in welchen man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie: — dessen Funktionieren also jedenfalls im großen und ganzen kalkulierbar ist.“, GPS, S. 323. An anderer Stelle schreibt Weber — in gänzlichem Kontrast zu den Passagen aus seiner Rechtssoziologie — das Modell des „Paragraphenautomaten“ dem gerichtlichen Selbstverständnis zu: „Die völlige Ausscheidung der Rechtspflege aus der Verwaltungstätigkeit hat die erstere dahin gedrängt, das Ziel ihrer Vervollkommnung nachgerade in eine Art der Rechtsentwicklung und Rechtspflege zu setzen, bei der die Notwendigkeit, daß Menschen und nicht Maschinen auf dem Richterstuhl sitzen, eigentlich nur als bedauerliche Unvollkommenheit erscheint. Das Ideal dieser Auffassung wäre die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten, in den man oben den Tatbestand und die Kosten wirft, auf daß er unten das Urteil nebst Gründen ausspeie. Nichts ist bedenklicher in den Augen der Gerichte, selbst der höchsten, als wenn sie in die Lage kommen, vom sozialpolitischen oder sozialethischen Standpunkt die Erscheinungen bewerten zu müssen [...].“ ‚Römisches‘ und ‚deutsches‘ Recht, in: Die christliche Welt 9 (1895), Nr. 22 (30. Mai), Spalte 521–526, Sp. 524. Die Fundstelle verdanke ich Martin Schmeiser. Zu dem Thema instruktiv: Stefan Schmid: Recht und Staat als Maschine. Zur Bedeutung einer Metapher, in: Der Staat, 27. Bd., Heft 3, S. 325–350
Vgl. WuG, S. 505
Im Zusammenhang mit spezifisch handelsrechtlichen Konstruktionen, vgl. WuG, S. 503 f.
WuG, S. 504
Im Zusammenhang von „unformalen Tatbeständen“ der inneren Haltung, vergleichbar dem strafrechtlichen „subjektiven Tatbestand“, der nicht den äußeren Tathergang, sondern die Haltung des Täters zur Tat bewertet, vgl. WuG, S. 506.
Im Zusammenhang mit dem „Elekrizitätsdiebstahl“, vgl. WuG, S. 506
Weber nennt als Beispiel u.a. den Rechtsbegriff der Ausbeutung der Notlage oder Unverhältnismäßigkeitsklauseln, vgl. WuG, S. 507
Hier insbesondere die Freirechtslehre, vgl. WuG, S. 507 f.
Genau dieser Umstand rechtfertigt es, diesen Typus der Verwaltungsentscheidung als „konditional programmiert“ zu charakterisieren. Das konditionale Programm, das die Wenn-Dann-Verknüpfung festlegt, soll bei Luhmann aber gleichzeitig das gerichtliche Verfahren begrifflich erschließen. Insofern trägt der Begriff der konditionalen Programmierung dazu bei, die scharfe Grenzlinie zwischen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu verwischen. Hierzu insbesondere: Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1983 (1969), S 129 ff. und S. 210, ders.: Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen (Westdeutscher Verlag), 1987 (1980), S. 227 ff. Bezeichnenderweise entwickelt Luhmann die Unterscheidung zwischen Zweckprogrammen und konditionalen Programmen am Beispiel des Verwaltungshandelns, vgl. ders.: Lob der Routine, in: Verwaltungsarchiv, 55, Heft. 1, 1964, S. 1–33. Die Differenz zwischen Gerichts- und Verwaltungsverfahren sieht er in dem jeweiligen Modus der „Enttäuschungsverarbeitung“ als Quelle von Legitimität, vgl. Luhmann: Legitimation durch Verfahren, S. 210 ff. Wenn Luhmann, so können wir unsere Bedenken polemisch zuspitzen, der legislativen Entscheidung die Zweckprogrammierung und der bürokratischen Entscheidung die konditionale Programmierung zuordnet, so fehlt ihm ein entsprechender Programmtypus, um die gerichtliche Entscheidung in ihrer Spezifität zu charakterisieren.
Die Strittigkeit einer Verwaltungsentscheidung wird demgegenüber nicht innerhalb der Bürokratie, sondern vor den Verwaltungsgerichten ausgetragen. Siehe: Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 210
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Wernet, A. (1997). Zur Strukturlogik rechtspflegerischen Handelns. Eine Interpretation des Weberschen Begriffspaars der formalen und materialen Rationalität. In: Wicke, M. (eds) Konfigurationen Lebensweltlicher Strukturphänomene. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96030-6_6
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