Zusammenfassung
Die im folgenden abgedruckten Dokumente aus dem Nachlaß von Erich Rothacker zum Spruchkammerverfahren gegen den ehemaligen Jenaer Rechtssoziologen Franz Wilhelm Jerusalem bieten sehr aufschlußreiches Anschauungsmaterial über die politische Selbsteinschätzung konservativer Sozialwissenschaftler und ihrer Rolle im „Dritten Reich“. Dabei spielen für die Einstufung Jerusalems im Berufungsverfahren als „entlastet“ die Ereignisse um das Ende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und das Jenaer Soziologentreffen von 1934 eine prominente Rolle. Neben den üblichen ‚Erinnerungslücken‘, Geschichtsklitterungen und gezielten Lügen zeigen die Dokumente auch, wie daheimgebliebene Fachvertreter das Stereotyp des „politischen Mißbrauchs“ der Soziologie durch den Nationalsozialismus, das nach 1945 ganz allgemein gerne kolportiert wurde, schufen. Demnach wurden politisch offensichtlich unbedarfte, aber wohlmeinende Sozialwissenschaftler, die die sogenannte Machtergreifung in zeitgemäß-reformerische Aufbruchstimmung versetzt hatte, von einigen wenigen radikalen Nazis instrumentalisiert, so daß sie schließlich nur noch auf ihrem Posten verharrten, um das Schlimmste zu verhüten. Als der ‚braune Spuk‘ dann vorüber war, bescheinigten sie sich schließlich gegenseitig, aktiven Widerstand geleistet zu haben.
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Anmerkungen
Vgl. zu Rothackers Rolle in der Soziologie der Weimarer Republik Dirk Käsler: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Opladen 1984 (s. dort das Register); Erhard Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik. Berlin 1986 (s. dort das Register)
Hans-Joachim Lieber: Erich Rothacker, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hg.): Internationales Soziologenlexikon, Bd. 1, Stuttgart21980
Bundesarchiv Koblenz (künftig = BA), R 21/Anhang, Karteikarte Erich Rothacker
E. Rothacker: Nationale Soziologie, in: Westdeutsche Akademische Rundschau, 3. Jg., Nr. 1 (1. 1. 1933 )
Max Horkheimer: Survey of the Social Sciences in Western Germany. Washington 1952, S. 6
Berlin Document Center (künftig = BDC), Unterlagen Erich Rothacker
Daß ich vorübergehend im Ministerium Goebbels tätig war, haben Sie wohl von Herrn Spiethoff gehört, aber leider sind alle die schönen Projekte, die der Minister selbst in Aussicht genommen hatte: Reichsuniversitäten, Führerschulen, Kaiser-WilhelmGesellschaft usw. zerronnen, indem diese Dinge anderen Ministerien blieben.“ Rothacker an Joseph A. Schumpeter, 22.6.1933, in: Universitätsbibliothek Bonn (künftig = UBB), Nachlaß Erich Rothacker (künftig = NL Rothacker) I; das Propagandaministerium hatte am 11.4.1933 um Rothackers Beurlaubung für eine probeweise Verwendung im Ministerium gebeten; Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda an den Kurator der Universität Bonn, 11.4.1933 (Abschrift vom 18.4.1933); mündliche Auskunft aufgrund der Akten des Kurators, Universitätsarchiv Bonn (künftig = UAB); zu Rothackers Rolle als Ansprechpartner des Ministeriums für die studentischen Organisatoren der Bücherverbrennung vgl. den Brief des Leiters des Hauptamtes für Presse und Propaganda der Deutschen Studentenschaft an Rothacker, 10.4.1933; abgedruckt in: Gerhard Sauder (Hg.): Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933. München 1983, S. 80f; Rothacker unterbreitete nach Beendigung seiner Tätigkeit im Propagandaministerium seine dort nicht mehr zu realisierenden Pläne bereits am 22.4.1933 dem zukünftigen Preußischen und später auch Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung; vgl. Denkschrift für Herrn Reichskommissar Rust; BA, R 18/5445, Bl. 135ff
BDC, Unterlagen Erich Rothacker
BA, R 61/106, BI. 111
S. Anm. 7
Liegt der Denkschrift an Rust bei (Anm. 7)
BA, R 18/5445, Bl. 9ff
Ebd., S. 67ff
Durchschlag, 15.2.46, gez. Rothacker; UBB, NL Rothacker V, 1; hier finden sich weitere Erklärungen und Verteidigungsschriften mit ergänzenden Materialien
S. Anm. 13, Bl. 83
E. Rothacker an Sehr verehrte Magnifizenz (H. Fischer), 11.4. 1934; Zentrales Staatsarchiv der DDR, Potsdam, 70, Re 8, Bl. 39R
Mündliche Auskunft aufgrund der Akten des Kurators, UBB
Rundbrief (Abschrift) des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 24.5.1941; mündliche Auskunft aufgrund der Akten des Rektorats, UBB
Rothacker an Deutsche Kongreß Zentrale (Durchschrift), 3.7. 1944; UBB, NL Rothacker I II
In der Hochschulkommission des Stellvertreters des Führers wurde 1935 sogar vermutet, daß sich Rothacker „mit dem Propagandaministerium sowie mit Darré verkracht oder überworfen habe“; Prof. Wirz (Hochschulkommission) an Professor Bäumler, 11.9.1935; Institut für Zeitgeschichte München, MA 16/14; in einem SD-Bericht (ca. 1937) über bedenkliche Zustände im Büro Rippentrop werden auch Kontakte von Mitarbeitern Ribbentrops zu Rothacker als Verfälscher der NS-Rassenidee moniert; vgl. Die Dienststelle des Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafters des Deutschen Reiches, ihre Mitarbeiter und politischen Auswirkungen; BA, R 58/1069, Bl. lff, bes. Bl. 31f
Vgl. D. Käsler und E. Stölting (Anm. 1)
Vgl. F.W. Jerusalem: Der Begriff der Gemeinschaft und seine Stellung im Ganzen der Soziologie, in: Studium Generale, 3. Jg. (1950)
Vgl. Universitätsarchiv Jena (künftig = UM), Bestand C, No. 755, Jahresbericht Soziologisches Seminar, 1.4.1935–31.3. 1936, No. 546; Kuratel, Das Soziologische Institut betr. 1921–1941; No. 548, Jahresbericht 1.4.1939–31. 3. 1940 (Soziologisches Seminar)
BDC, Unterlagen F.W. Jerusalem
Staatsarchiv Würzburg, Archiv der Reichsstudentenführung und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, II* 198
Vgl. UM, Bestand K, No. 567, Prof. Dr. Lange, Erklärung, 7. 5. 1945
Vgl. UAJ, Bestand D, No. 1428, Kreisgruppenführer im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, Kreisgruppe Jena und Jena-Land an Rektor der Universität Jena, 23. 4. 1937
Vgl. UAJ, Bestand D, No. 1428, Rektor an Thüringischen Minister für Volksbildung, 24. 5. 1937
Vgl. R. Höhns Rezensionen von „Der Staat“ und „Das Verwaltungsrecht und der neue Staat”, in: Deutsches Recht, 5.Jg. (1935), S. 291, 379ff; vgl. R. Höhn: Staat und Rechtsgemeinschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 95. Bd. (1935); vgl. auch die Rezension Otto Koellreutters von „Der Staat“, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N.F., 28. Bd. (1937), S. 98f; vgl. auch die Kritik an Jerusalems Ständetheorie durch den ehemaligen wissenschaftlichen Hilfsarbeiter am Soziologischen Institut der Universität Jena, den späteren Verbindungsführer des Reichssicherheitshauptamtes zur Partei-Kanzlei und Freund von Reinhard Höhn, Justus Beyer, in seiner von Höhn betreuten Dissertation „Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung”. Darmstadt 1941, S. 249–257
Die meisten Angaben zu R. Höhn nach Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Stuttgart 1966 (s. dort das Register); ergänzend: Heinz Boberach: Einführung, in: Ders. (Hg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 1938 — 1945. Bd. 1, Herrsching 1984; BDC Unterlagen Reinhard Höhn; BA, R 61/100, Bl. 8; R 61/106, Bl. 108, 140; Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep. 76, Nr. 46
Vgl. C. Klingemann: Soziologen vor dem Nationalsozialismus. Szenen aus der Selbstgleichschaltung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Josef Hülsdünker/Rolf Schellhase (Hg.): Soziologiegeschichte. Identität und Krisen einer,engagierten` Disziplin. Berlin 1986; Dieter Pasemann: Zur Faschisierungstendenz in der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ 1922 — 1934. Untersuchung an den Nachlässen von Werner Sombart und Ferdinand Tönnies, in: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 15, 1985
F.W. Jerusalem an E. Rothacker, 30.9. 1947, in: UBB, NL Rothacker I
UBB, NL Rothacker I
Ebd. a Wilhelm (Will) Decker: 13.12.1899 — 1.5.1945, Dr. phil., Gau-und Reichsredner, Mitglied des Reichstags, Inspekteur der Landesfiihrerschulen des Arbeitsdienstes, später Obergeneralarbeitsführer und Chef des Stabes in der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes (Erich Stockhorst: 5000 Köpfe. Wer war was im 3. Reich. Kiel 21985). Decker nahm im Auftrag des Staatssekretärs für den Arbeitsdienst an der Tagung teil. b Alfred Krauskopf: Pfarrer in Magdala; Promotion 1931 mit der Arbeit „Die Religionstheorie Sigmund Freuds: Ihre psychologischen und metaphysischen Wertungsgesichtspunkte“ (Jena, Theol. Diss. 1933, Teildruck) c Das Thema war „Gemeinschaft als Problem unserer Zeit” (s. Anm. a.) d Zu den Funktionen von Dr. Wilhelm Decker (s.o.) e Gemeint ist Prof. Carl Schmitt f Die Tagung stand unter der Leitung von Prof. Ernst Krieck, der sie ausdrücklich in seiner Eigenschaft als Obmann des Amtes für nationalsozialistische Wissenschaft und Erziehung eröffnete. Der weithin bekannte NS-Rassentheoretiker Prof. Hans F.K. Günther sprach über „Soziologie und Rassenforschung“ (s.o.) g RLB = Reichsluftschutzbund h VDA = Volksbund für das Deutschtum im Ausland j Gemeint ist der damalige Präsident der DGS Prof. Ferdinand Tönnies k Abgedruckt in: C. Klingemann (Anm.31) I Und dem Hamburger Soziologie-Professor Andreas Walther m Vom 16.-19.10.1933 fand bereits der 13. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Leipzig statt. n Nur noch in Ausnahmefällen nach dem sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 (z.B. ehemalige Frontkämpfer) o Dr. Wilhelm Decker (s. Anm. a.) p Vermutlich der Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie Ernst Wolf, Universität Frankfurt am Main q Max Hildebert Boehm, Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie. Universität Jena 1933–45 (selbst stark belastet) r Seit 1933 s Nach dem auf Eigenangaben beruhenden Artikel in Kürschners Gelehrtenkalender von 1940/41 war Jerusalem bereits seit 1931 ordentlicher Professor.
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Klingemann, C. (1990). Entnazifizierung und Soziologiegeschichte: Das Ende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und das Jenaer Soziologentreffen (1934) im Spruchkammerverfahren (1949). In: Dahme, HJ., Klingemann, C., Neumann, M., Rehberg, KS., Srubar, I. (eds) Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95527-2_6
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