Zusammenfassung
Ob die SchülerInnen von „Fridays4Future“, die „Gelbwesten“ an den französischen Autobahnen, die FriedensaktivistInnen in der Türkei, die HausbesetzerInnen in den Metropolen – sie alle führen politische Kämpfe und üben sich dabei im Soziologisieren. Die Bewegungen führen vor, wie sich Sachprobleme mit Bezug auf ihre Gesellschaft artikulieren und bearbeiten lassen. Es scheint als würde heute die Soziologie weniger durch FachvertreterInnen, als vielmehr in diesen Protesten relevant gemacht. Im Folgenden wollen wir die verbreitete Praxis des Soziologisierens auf die andauernde, fachinterne Debatte um die „public sociology“ bzw. die Öffentlichen Soziologie beziehen.
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Notes
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Neun (2013) fordert, dass bereits das Soziologiestudium auf diese Stoßrichtung vorbereiten müsse.
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Hier ist die Karriere von Ulrich Beck exemplarisch. Beck wirkte als Soziologe, vor allem mit seinem Erfolgsbuch „Risikogesellschaft“ (1986). Er warb für neue Sichtweisen in Fragen der Ökologie, der sozialen Ungleichheit und der Globalisierung und manövrierte sich damit, so die Rekapitulation, im Fach in eine prekäre Stellung. Erst durch den Rückimport aus dem Ausland avancierte er zum zeitgenössischen Klassiker in der deutschen Soziologie (Hitzler 2005).
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Die Ethnomethodologie kann als radikal-empirische Bewegung gelesen werden, die vor der „Soziologie der Kritik“ (Boltanski 2010) nicht nur das Kritisieren, sondern das Knowhow der Leute analysiert. Das Soziologisieren lässt sich so als ein Können der Gesellschaftsmitglieder erheben. Teil einer solchen Erhebung wären auch die Verkürzungen und Ausstiege aus dem Soziologisieren.
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Goffman (1963) weist darauf hin, dass deviantes Verhalten als soziologische Inkompetenz verstanden werden kann – und dass es eine Präferenz gibt, diese Inkompetenz zu psychologisieren.
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Im Soziologisieren werden die Phänomene, Gegenstände und Angelegenheiten also nicht primär als psychisch, genetisch oder biologisch konstituierte vorgestellt.
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Möglichkeiten erweisen sich – anhand von drängenden gesellschaftlichen Problemstellungen und Prüfungen – als relativ beschränkt, bedingt oder gar blockiert.
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Diese Überlegungen zum öffentlichen Soziologisieren beziehen sich auf eine praxeologische Konzeption des Öffentlichen (Schmidt 2012, S. 237 ff.). In diesem Verständnis bezeichnet das Öffentliche nicht eine – etwa von einer Privatsphäre zu unterscheidende – besondere gesellschaftliche Sphäre, sondern ein grundlegendes Merkmal von Sozialität.
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TeilnehmerInnen bemerken unsere Headsets; sie taxieren uns: „Seid ihr Bullen?“, „Sozialarbeiter?“, „Für welchen Sender?“ Solche Fragen sind freundlich oder feindlich getönt, je nach unterstellter Parteilichkeit. liveSoziologen erscheinen als abwegig oder als Variante des Demo-Tourismus.
Literatur
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Scheffer, T., Schmidt, R. (2023). Öffentliche Soziologie und gesellschaftliches „Soziologisieren“. In: Selke, S., Neun, O., Jende, R., Lessenich, S., Bude, H. (eds) Handbuch Öffentliche Soziologie. Öffentliche Wissenschaft und gesellschaftlicher Wandel. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16995-4_39
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