Zusammenfassung
Wer ernstlich versucht, Piagets epistemologische Anschauungen zu erfassen, stößt auf dreierlei Hindernisse. Zunächst ist da die einfache Tatsache, daß Piaget im Laufe seiner mehr als sechzigjährigen Produktivität so viel geschrieben hat, daß kein einzelner Leser mit ihm Schritt halten konnte; dabei haben sich seine Ideen freilich auch in mehr und zuweilen weniger subtiler Weise entwickelt, auf einander abgestimmt und verändert. Zweitens, wie Piaget angeblich selbst gesagt hat, sprach er eine Sprache zu Biologen, eine andere zu Psychologen und eine dritte zu Philosophen; außer diesen drei, kann man hinzufügen, hat er eine Privatsprache erfunden, um Mathematik zu behandeln. Das dritte Hindernis rührt daher, daß — ob- schon er oft und inständig die Notwendigkeit der „Dezentration“ (d.h. der Fähigkeit, den Gesichtspunkt zu wechseln) betonte — er beim eigenen Schreiben nur selten versuchte, sich in die Lage des Lesers zu versetzen. Seine unermüdUchen Bemühungen, Gedankengänge mit größtmöglicher Genauigkeit wiederzugeben, hemmen oft die Verständlichkeit, statt sie zu fördern. Selbst der willigste Leser gerät da zuweilen in einen Zustand erschöpfter Lustlosigkeit. Dennoch habe ich nicht den geringsten Zweifel, daß es der Mühe wert ist zu versuchen, diese Hindernisse zu überwinden, denn was man dabei erobern kann, ist eine Interpretation, die Erkenntnis und den Vorgang des Wissens in einer Weise erhellt, die, so will mir scheinen, kohärenter und einleuchtender ist als alles, was die Philosophie uns bisher geboten hat. Doch es ist in der Tat eine mühevolle Arbeit. Ununterbrochenes Auslegen, Verwerfen und Wiederaufnehmen, und was dabei herauskommt, kann nie mehr sein, als eine individuelle Interpretation.
„Qui est done le vrai Piaget? C’est un Piaget unique plutôt que multiple.“ Seymour Papert (in: Inhelder/Garcia/Voneche 1977, 50) *(a)**)
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Similar content being viewed by others
Rights and permissions
Copyright information
© 1987 Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig / Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
von Glaserfeld, E. (1987). Piagets Konstruktivismus — eine Interpretation. In: Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie, vol 24. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91089-9_19
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-91089-9_19
Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-528-08598-8
Online ISBN: 978-3-322-91089-9
eBook Packages: Springer Book Archive