Zitierweise:Galler K (2023) Die offene Pulpa. Episode I - Die offene Pulpa (Angriff der Mikroorganismen). Oralprophylaxe Kinderzahnheilkd · 45: 218-220 · https://doi.org/10.1007/s44190-023-0680-3 Eingereicht: 05.09.2023 / Angenommen: 07.09.2023 / Online publiziert: 13.11.2023 · © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature

Pulpaexposition nach Zahntrauma

Ausgedehntere Zahnfrakturen nach dentalem Trauma können zur Exposition der Pulpa führen, diese werden als komplizierte Kronenfrakturen bezeichnet. Oberstes Ziel sollte die Vitalerhaltung der Pulpa sein, insbesondere bei Zähnen mit nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum [10]. Diese kann mittels vitalerhaltender Maßnahmen erreicht werden. Definitionsgemäß versteht man darunter konservative Behandlungsmaßnahmen zum Schutz exponierter Dentin- und Pulpaareale durch Applikation eines Überkappungsmaterials. Die Exposition zur Mundhöhle führt zwangsläufig zur Kontamination mit Mikroorganismen und damit zur Immunreaktion. Nach bakteriellem Angriff werden bakterielle Toxine durch entsprechende Rezeptoren auf der Zelloberfläche - insbesondere von Odontoblasten, aber auch von Pulpafibroblasten - erkannt, und nachfolgend werden intrazelluläre Signalwege aktiviert. Dies führt einerseits zur Bildung antibakterieller Substanzen, andererseits wird die Immunreaktion durch die Produktion von Chemokinen initiiert, die dendritische Zellen sowie weitere Immunzellen aktivieren und deren Einwanderung in das verletzte Gewebe bedingen. Pulpafibroblasten können zudem Komplementfaktoren bilden, die zur bakteriellen Lyse führen. Diese Vorgänge sind für kariöse Läsionen gut untersucht [5, 6], man kann jedoch davon ausgehen, dass die Immunreaktion auch nach traumatischer Verletzung in ähnlicher Weise abläuft. Ein wesentlicher Unterschied zwischen kariöser Läsion und dentalem Trauma besteht jedoch darin, dass im letzteren Fall in der Regel keine Vorschädigung der Pulpa besteht und somit auch zum Zeitpunkt des Traumas keine Entzündungsreaktion gegeben ist, wodurch ein erhöhtes Ausheilungspotenzial besteht. Die ausgesprochen hohe Widerstandskraft der Pulpa gegenüber dem bakteriellen Angriff ist in einer Veröffentlichung von Cvek aus dem Jahr 1982 eindrucksvoll beschrieben: In tierexperimentellen Untersuchungen an Äffchen wurden traumatische Verletzungen mit Pulpaexposition induziert, und das Eindringen von Mikroorganismen wurde über einen Zeitraum von mehreren Tagen untersucht [1]. Dabei wurde festgestellt, dass selbst nach einer Woche die Bakterien nicht mehr als 2 mm in das vormals gesunde Gewebe eindringen konnten. Ausgehend von dieser Studie, wurde abgeleitet, dass eine partielle Pulpotomie (deshalb auch Cvek-Pulpotomie genannt) als vitalerhaltende Maßnahme auch nach längerer Expositionszeit als Behandlungsmethode infrage kommt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass bei zugleich aufgetretener Dislokationsverletzung aufgrund der Minderdurchblutung der Pulpa die Heilungstendenz deutlich abnimmt.

Durchführung vitalerhaltender Maßnahmen

Bei unkomplizierten Kronenfrakturen, die nur im Schmelz verlaufen, ist eine Schädigung der Pulpa weitgehend ausgeschlossen [2]. Je nach Ausprägung der Fraktur können dabei lediglich scharfe Kanten geglättet werden, oder der Defekt wird durch eine Fragmentwiederbefestigung oder eine Kompositrestauration versorgt. Bei unkomplizierten Kronenfrakturen, die in das Dentin hineinreichen, kann eine Infektion der Pulpa über die Dentinwunde entstehen. Freiliegende Dentintubuli ermöglichen das Einwandern von Bakterien, insbesondere bei jungen Patienten und bei pulpanaher Fraktur [2]. Daher ist es bei der Erstversorgung wichtig, die Dentinwunde abzudecken. Es bieten sich Glasionomerzement oder fließfähiges Komposit an. Bei pulpanaher Fraktur sollte eine indirekte Überkappung durchgeführt werden, insbesondere vor der Abdeckung mit Dentinadhäsiv und Komposit. Für die Weiterbehandlung stellt es eine Erleichterung dar, für die Abdeckung ein opakes Komposit zu wählen, um die Entfernung bei definitiver Versorgung zu erleichtern. Diese kann ebenfalls in der Fragmentwiederbefestigung oder der Kompositversorgung bestehen. Liegt eine komplizierte Kronenfraktur vor, so ist die Pulpotomie die Methode der Wahl [2, 9]. Laut aktueller Datenlage bietet diese bessere Erfolgswahrscheinlichkeiten als die direkte Überkappung [7, 11], die lediglich bei kleiner Expositionsfläche und kurzer Expositionszeit erwogen werden sollte. Die Pulpotomie kann dabei als Anfrischen des Gewebes durchgeführt werden oder aber als partielle (Abtrag von ca. 2 mm Gewebe) bzw. vollständige Pulpotomie (bis zum Eingang des Wurzelkanals). Der Gewebeabtrag erfolgt mittels Diamantschleifer unter Wasserkühlung, eine Spülung mit Kochsalzlösung ist nicht zwingend erforderlich. Dadurch wird das Gewebe angeschnitten, was zu einer sauberen Wundoberfläche führt. Die Blutstillung wird mittels Natriumhypochlorit durchgeführt, das in den in der Endodontie gebräuchlichen Konzentrationen eingesetzt wird. Dieses kann mit einer endodontischen Spülkanüle aufgetropft und dann mit sterilen Wattepellets abgenommen werden. Wichtig ist es dabei, dass es innerhalb von 5 min zur Blutstillung kommt. Tritt eine länger dauernde Blutung auf, so kann tiefer pulpotomiert werden. Ist jedoch auch nach vollständiger Pulpotomie keine Blutstillung möglich, kann die Vitalexstirpation durchgeführt werden [2, 10]. Insbesondere jedoch bei Zähnen mit nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum ist die Vitalerhaltung besonders wünschenswert, da die Entfernung des Gewebes den Stillstand des Wurzelwachstums bedingt. Das Pulpagewebe wird mit Calciumhydroxid oder einem hydraulischen Kalziumsilikatzement abgedeckt, und der Defekt wird anschließend adhäsiv verschlossen. Das Pulpagewebe nach Pulpotomie und nach Abdeckung ist in Abb. 1 dargestellt.

Abbildung 1a Figure 1b
figure 1

Pulpaeröffnung nach komplizierter Kronenfraktur, partielle Pulpotomie. b Abdeckung der Pulpa nach Blutstillung mit hydraulischem Kalziumsilikatzement. (Mit freundl. Genehmigung © Dr. Anna-Louisa Holzner, alle Rechte vorbehalten)

Pulp exposure following complicated crown fracture, partial pulpotomy. b After hemostasis, the pulp is capped with hydraulic calcium silicate-based cement. (With kind permission from © Dr. Anna-Louisa Holzner, all rights reserved)

Prognose

Aufgrund der fehlenden Vorschädigung des Pulpagewebes in den allermeisten Fällen von dentalem Trauma und der erstaunlichen Heilungstendenz der Pulpa insbesondere bei jüngeren Patienten ist die Prognose vitalerhaltender Maßnahmen als sehr gut einzuschätzen. Für die partielle Pulpotomie liegen die Erfolgsaussichten bei 86-100 %, während nach direkter Überkappung nach Trauma die Prognose weniger günstig ist und die Erfolgsaussichten bei 42-88 % liegen [3, 4, 7, 11]. Einschränkend ist zu bemerken, dass die Beobachtungszeiträume, die der Literatur zu entnehmen sind, für die Pulpotomie mit 2 bis 3 Jahren kürzer als für die direkte Überkappung mit bis zu 10 Jahren sind. In der revidierten Fassung der S2k-Leitlinie zum Trauma bei bleibenden Zähnen wird die Pulpotomie als Methode der Wahl empfohlen [10]. Als Überkappungsmaterial können dabei Calciumhydroxid oder hydraulische Kalziumsilikatzemente (z. B. Mineral Trioxid Aggregat [MTA]) zum Einsatz kommen. Während nach kariöser Pulpaexposition hydraulische Kalziumsilikatzemente in direktem Kontakt mit der Pulpa zu besseren Erfolgsraten führen, ist dies bei der Versorgung nach Zahntrauma so nicht nachweisbar. Bei der Verwendung von Überkappungsmaterialien ist in der ästhetischen Zone darauf zu achten, Produkte zu wählen, die nicht zu Zahnverfärbungen führen.

Nach vitalerhaltenden Maßnahmen sollten regelmäßig Nachkontrollen durchgeführt werden. Die Empfehlung lautet, nach 1, 3, 6 und 12 Monaten Sensibilitätskontrollen durchzuführen, nach 6 und 12 Monaten röntgenologische Kontrollen [2, 8, 10]. Es sollte jedoch beachtet werden, dass die Sensibilitätskontrolle nach Trauma nur eingeschränkte Aussagekraft hat [9]. Direkt nach dem Trauma kann die Reaktion auf die Sensibilitätskontrolle durch die akute Gewebeschädigung ausbleiben, was jedoch nicht bedeutet, dass auch eine Pulpanekrose besteht. Während bei zunächst ausbleibender Reaktion die im Laufe der Nachkontrollen wiederkehrende Reaktion auf die Sensibilitätsprobe als positives Zeichen zu werten ist, deutet eine Reaktion zum Unfallzeitpunkt mit nachfolgend verzögerter und schließlich ausbleibender Reaktion eher auf die Pulpanekrose hin [9]. Es ist zu beachten, dass nach vollständiger Pulpotomie die Reaktion auf die Sensibilitätsprobe aufgrund des ausgedehnten Gewebeabtrages auch nach Ausheilung ausbleiben kann und somit nicht als Erfolgsparameter herangezogen werden sollte. Zahnverfärbungen können zwar auf eine Pulpanekrose hinweisen, aber auch durch traumabedingte Hartgewebeablagerung im Pulpakavum und Wurzelkanal bei funktionell intakter Pulpa entstehen.

FAZIT

  • Nach einer unkomplizierten Kronenfraktur sollte bei der Erstversorgung stets die Dentinwunde abgedeckt werden.

  • Bei komplizierter Kronenfraktur kann direkt überkappt werden, jedoch ist die (partielle) Pulpotomie aufgrund der besseren Erfolgsaussichten die Methode der Wahl.

  • Die weitere Versorgung kann in der Fragmentwiederbefestigung oder der Restauration mittels Komposit bestehen.

  • Nach vitalerhaltenden Maßnahmen sollten regelmäßige Nachkontrollen durchgeführt werden.

  • Die endodontische Behandlung sollte eingeleitet werden, wenn Beschwerden und Anzeichen einer Entzündung vorliegen oder eine periapikale Läsion diagnostiziert wird.

  • Eine ausbleibende Reaktion auf die Sensibilitätsprobe als alleiniges Anzeichen ist kein hinreichender Grund für die endodontische Behandlung des Zahnes.

  • Zahnverfärbungen können auf eine Pulpanekrose hinweisen, jedoch auch Anzeichen einer traumaassoziierten Hartgewebeapposition sein