1 Einleitung

Die Fähigkeit zum Lesen hat eine Schlüsselfunktion zur Teilhabe am kulturellen Leben inne und gilt als Indikator für Schulerfolg (Naumann et al. 2010). Lesekompetenz wird unterschiedlich definiert, in diesem Beitrag folgen wir dem Verständnis von Lesekompetenz als Fähigkeit zum Erkennen von Wörtern und Sätzen sowie zum Konstruieren von Sinnzusammenhängen und dadurch zum Leseverständnis (Bertschi-Kaufmann 2015). Lesen ist auch in vielen anderen Fächern als zentrale Kompetenz gefordert – so zum Beispiel bei Sachaufgaben in Mathematik oder Texten im Sachunterricht – und nimmt Einfluss auf die Laufbahnempfehlungen für die Schülerinnen und Schüler zum Ende ihrer Grundschulzeit (Valtin et al. 2007). Zugleich verdeutlichen Studien wie PISA oder IGLU immer wieder bestehende erhebliche Unterschiede in der Lesekompetenz. Diese wurden in bisherigen Studien zum Teil auf den sozioökonomischen Status (Bos et al. 2007b), den Einfluss des Migrationshintergrunds (Schwippert et al. 2015) oder auch den Einfluss der Eltern durch ihr Vorleseverhalten oder ihre Beteiligung an den Leseprozessen (Valtin et al. 2005) zurückgeführt. Auch zwischen den Geschlechtern sind sie nahezu konstant signifikant (OECD 2016; McElvany et al. 2017). Untersuchungen zur Leseleistung in der Grundschule veranschaulichen, dass sich dort oftmals noch keine oder nur geringe Geschlechtsunterschiede zeigen (vgl. Budde 2008; Hellmich 2008) oder erst spät und erst mit zunehmendem Alter deutlicher werden. Die Jungen bleiben vor allem im Jugendalter häufig hinter den Leistungen ihrer gleichaltrigen Mitschülerinnen zurück, was unter anderem mit Unterschieden in der intrinsischen Lesemotivation in Zusammenhang gebracht wird (Artelt et al. 2010). Dabei bezeichnet die Lesemotivation „das Ausmaß des Wunsches oder der Absicht in einer bestimmten Situation einen spezifischen Text zu lesen“ (Möller und Schiefele 2004, S. 102).

1.1 Geschlechtsunterschiede in Lesekompetenz und Lesemotivation

Lesekompetenz ist ein vielschichtiges Konstrukt und wird in Teilkompetenzen unterschiedlicher Stufen eingeteilt (Bremerich-Vos et al. 2012): Nutzung von Textinformationen und externem Wissen, Reflexion über Inhalte und Strukturen, Herausgreifen einzelner Textinformationen, Herstellen von Zusammenhängen sowie den Verstehensprozessen, zu denen u. a. Schlussfolgern und Bewerten gehören. Seit vielen Jahren werden diese Teilkompetenzen in entsprechenden Studien erfasst und belegen konstant Geschlechtsunterschiede in der allgemeinen Leseleistung bei Kindern und Jugendlichen und dies in nahezu allen Ländern, in denen das Phänomen untersucht wurde. In elf der 72 teilnehmenden Länder der PISA-Studie 2012 nahm der Leistungsvorsprung der 15-jährigen Mädchen zwischen 2000 und 2012 sogar noch zu (OECD 2014). In der IGLU Studie zeigten sich in der vierten Jahrgangsstufe 2016 in nahezu allen Teilnehmerstaaten signifikante Geschlechterunterschiede in der Lesekompetenz zugunsten der Mädchen. Diese Ergebnisse sind ebenfalls seit 2001 konstant und weichen innerhalb der Länder nur geringfügig voneinander ab (Bremerich-Vos et al. 2017). Deutliche Vorteile haben die Mädchen besonders im Bereich des literarischen Lesens, im informierenden Lesen fallen die Unterschiede geringer aus (McElvany et al. 2017). Der vermutete Zusammenhang dieser Leistungsunterschiede mit der Lesemotivation der Schülerinnen und Schüler wurde auch in Längsschnittstudien wie der Berliner Leselängsschnittstudie LESEN 3–6, der Potsdamer PIER-Studie (Potsdamer Intrapersonale Entwicklungsrisiken-Studie) und der Kieler Studie LISA (Lesen in der Sekundarstufe) untersucht. Die Berliner Studie zeigte, dass die Lesemotivation zwischen dem dritten und sechsten Schuljahr abnimmt, besonders Jungs dabei benachteiligt sind und die Lesekompetenz der dritten Klasse ein Prädiktor für die Lesemotivation in der sechsten Klasse darstellt (McElvany et al. 2008; Becker et al. 2010; Becker und McElvany 2017). Die PIER-Studie nahm Schülerinnen und Schüler am Anfang der Grundschulzeit in den Blick und konnte bereits dort Unterschiede in der Lesemotivation und -kompetenz zeigen (Schiefele et al. 2016). Und auch in der Kieler Studie wurde die Lesemotivation in allen drei getesteten Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) zwischen der fünften und achten Jahrgansstufe als rückläufig interpretiert (Retelsdorf und Möller 2008). In der IGLU-Studie 2006 wiesen nur 48 % der Jungen eine hohe Lesemotivation auf, während es bei den Mädchen 69 % waren. Eine niedrige Lesemotivation zeigen zwölf Prozent der Jungen und nur vier Prozent der Mädchen. Außerdem gaben 19 % der Jungen an, nie zum Vergnügen zuhause zu lesen, bei den Mädchen waren es nur neun Prozent (vgl. Bos et al. 2007a). Und auch 2016 zeigen sich in den Untersuchungen weiterhin Unterschiede in der Lesemotivation, im Leseselbstkonzept und im Leseverhalten zuungunsten der Jungen (McElvany et al. 2017), wobei Jungen und Mädchen mit gleichem Leseinteresse und einem ähnlichen Niveau im Leseselbstkonzept häufig auch gleiche Leseleistungen zeigen (McElvany et al. 2017; Prenzel et al. 2004). Die Ursachen für diese Motivationsunterschiede zuungunsten der Jungen, die oftmals für den Rückgang der Lesehäufigkeit und damit auch der Leseleistung verantwortlich gemacht werden, sind bisher noch nicht eindeutig geklärt.

1.2 Erklärungsansätze für genderspezifische Unterschiede in der Lesekompetenz und -motivation

Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Bildungssystem wurden lange Zeit hauptsächlich als Ungleichheiten zuungunsten der Mädchen thematisiert (Diefenbach und Klein 2002; Preuss-Lausitz 1999), vor allem im Bereich Naturwissenschaften und Mathematik. Eine Benachteiligung der Jungen im Bildungssystem im Bereich der Sprachen wurde erst seit den 1990er Jahren, auch aufgrund der Aufmerksamkeit für die Benachteiligung der Mädchen, immer stärker mit in die Diskussion einbezogen (Endepohls-Ulpe 2011; Retelsdorf et al. 2015). Geschlechterunterschiede in Bezug auf die Lesekompetenz werden auf eine sozialisationsbedingt unterschiedlich starke Ausprägung der Lesemotivation zurückgeführt. Dabei wird u. a. angeführt, dass Jungen in ihrer Freizeit lieber andere Interessen verfolgen, z. B. Fernsehen oder Videospiele (Kleimann et al. 2006). Zudem wird angemerkt, dass Jungen, wenn sie lesen, häufig zu Comics und Zeitungen greifen (Hughes-Hassell und Rodge 2007), sodass Erwachsene noch weitere Leseaktivitäten von den Jungen fordern. Eine weitere Ursache wird in der sogenannten „Feminisierung des Unterrichts“ gesehen, eine Folge des Umstands, dass die Lehrkräfte in den ersten Schuljahren häufig ausschließlich weiblich sind (Endepohls-Ulpe 2013). Damit erfolgen das Vorlesen und auch die Vorbildfunktion in Bezug auf das Lesen häufig durch eine Frau, was dazu führen kann, dass Lesen als weibliche Tätigkeit kategorisiert, möglicherweise abgelehnt wird und sich damit nicht in das Selbstkonzept des Jungen integrieren lässt. Auch finden sich Diskrepanzen im leistungsbezogenen Selbstkonzept, die u. a. darauf zurückgeführt werden, dass dieses unter dem Einfluss von Stereotypen der nahestehenden Personen wie Eltern, Peers oder Lehrer steht (Retelsdorf et al. 2015). Ob Jungen solche stereotypen Überzeugungen der Lehrkräfte zu ihren Ungunsten wahrnehmen und ob sich diese auf ihr Leseselbstkonzept auswirken, das mit der Lesemotivation eng zusammenhängt, muss noch geklärt werden. Zu beantworten wäre auch die Frage, ob Jungen Lesen in den gelebten „Männlichkeitskulturen“ ihrer Peergroup (Philipp 2010) als wenig akzeptabel ansehen. Möglicherweise findet aufgrund der Kategorisierung des Lesens als weibliche Tätigkeit auch weniger Anschlusskommunikation der Jungen im Freundeskreis statt (Richter und Plath 2012). Dabei scheint besonders die soziale Eingebundenheit in Bezug auf das Lesen einen großen Einfluss auf das Leseverhalten der Kinder zu haben (Hurrelmann et al. 1993). Auffällig ist jedenfalls der stabil auftretende Befund, dass Jungen weniger intrinsische Lesemotivation, also weniger Freude am Lesen und weniger Leseinteresse angeben (Bos et al. 2007a; Möller und Bonerad 2007; Naumann et al. 2010; Schaffner und Schiefele 2007). Der Mangel an Leseinteresse wird auch mit der fehlenden Passung des schulischen Angebots an Lesestoff in Genres und mit Themen, die für Grundschulkinder generell und für Jungen speziell von Interesse sind, begründet (Richter und Plath 2012; Philipp und Garbe 2007).

1.3 Motivationstheoretische Ansätze

Ein motivationstheoretischer Ansatz, auf den sich u. a. auch der Fragebogen zur habituellen Lesemotivation von Möller und Bonerad (2007) bezieht, ist das Erwartungs-Wert-Modell. Das von Wigfield und Eccles (2000) in den 1980er Jahren entwickelte Modell wurde von Möller und Schiefele (2004) in Bezug auf die Lesekompetenz und -motivation verändert. Die Erwartungskomponente (in Bezug auf das Lesen: Bin ich ein guter Leser?) befasst sich dabei mit dem Selbstkonzept und der Selbstwirksamkeit, die Wertkomponente (in Bezug auf das Lesen: Lese ich gern?) mit intrinsischer und extrinsischer Motivation und entsprechend mit Interesse und Zielorientierungen. Die intrinsische Motivation kann noch einmal in tätigkeitsbezogen – also die Tätigkeit Lesen an sich gefällt – und in gegenstandsbezogen – z. B. Lesen, um Informationen über ein Thema zu erhalten – unterschieden werden (Möller und Bonerad 2007). Eine besondere Rolle nehmen dabei auch Einflüsse der sozialen Umwelt ein, welche sowohl die schulische als auch die familiäre Umwelt eines Kindes umfassen kann. In Bezug auf das Lesen wirken vermittelte Haltungen und vorgelebtes Leseverhalten sowie Geschlechterrollenüberzeugungen auf das Kind ein. Ebenso bedingen die eigenen Erfahrungen des Kindes die Lesemotivation. Positive Erfahrungen wie Anerkennung können die Lesemotivation steigern, negative Erfahrungen wie unangenehme Rückmeldungen oder Probleme beim Lesen können die Lesemotivation mindern und zu einem Vermeidungsverhalten führen (Möller und Schiefele 2004). In dem motivationstheoretischen Konzept von Ryan und Deci (2000a, 2000b) werden drei Grundbedürfnisse des Menschen benannt, die für intrinsisch motiviertes Handeln bedeutsam sind. So wird dieses neben der Selbstbestimmung („autonomy“) durch die Faktoren selbsterlebte Kompetenz („competence“) und soziale Eingebundenheit („relatedness“) bedingt (ebd.). Je nach Ausprägung dieser Faktoren ist es aber auch möglich, dass die Bedürfnisse nach Kompetenz und Selbstbestimmung auch bei extrinsischer Motivation befriedigt werden, wenn die Person beispielsweise von den Anweisungen, die sie erhält, überzeugt ist (Schiefele 1996). Die Selbstbestimmungstheorie nach Ryan und Deci (2002) unterscheidet dabei verschiedene Arten der Motivation, die auf unterschiedliche Richtungen und Ziele ausgerichtet sind. Die autonome Handlungsregulation (Selbstbestimmung) geht häufig mit einem höheren Interesse am Lern- oder Lesegegenstand einher und beeinflusst somit die Qualität des Lernens/Lesens sowie folglich die Leistungsergebnisse (Deci und Ryan 1993). Gerade Jungen schätzen ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten im schulischen Raum wohl eher als gering ein, sie erleben sich daher weniger als selbständige Akteure und ihr Interesse, ihre Motivation und Zufriedenheit können dadurch gemindert werden (Budde 2008). Auch steht eine Einschränkung der Selbstbestimmung – z. B. durch Vorgabe des Lesestoffes – im Widerspruch zu den gerade im Grundschulalter sehr ausgeprägten kindlichen Männlichkeitsstereotypen der Jungen (Endepohls-Ulpe 2011) und könnte so motivationsmindernd wirken. Richter und Plath (2012) zeigen, dass Selbstbestimmung in Bezug auf Mediennutzung generell wichtig ist und Fremdbestimmung oftmals als negativ empfunden wird. Auch berichten sie in Bezug auf den Faktor „relatedness“, also die soziale Eingebundenheit, über dahingehende Ergebnisse, dass sich das Gespräch mit der Lehrkraft und mit Mitschülerinnen und Mitschülern über die eigene Lektüre positiv auf den Spaß am Deutschunterricht und auf die Lesemotivation auswirkt (Richter und Plath 2012).

2 Fragestellung und Hypothesen

Der bisherige Forschungsstand zu den Ursachen der Geschlechterunterschiede in der Lesemotivation und den damit verbundenen Unterschieden in der Leseleistung gibt derzeit lediglich einige Anhaltspunkte für – wahrscheinlich sozialisationsbedingte – Unterschiede in theoretisch beschriebenen Teilkomponenten der Motivation. Diese sind zum einen in der in mehrfacher Hinsicht eher positiven sozialen Eingebundenheit des Lesens für Mädchen zu finden, eine Komponente, die sich in beiden oben dargestellten Modellen der Lesemotivation wiederfindet. Für das Fähigkeitsselbstkonzept, ebenso Bestandteil beider Ansätze, finden sich ebenfalls Ergebnisse, die allerdings bisher nicht eindeutig sind. Die bei Deci und Ryan (1993) postulierte Bedeutung der Selbstbestimmung wurde trotz der oben dargestellten Hinweise auf mögliche negative Effekte auf die Motivation von Jungen in Bezug auf Unterschiede in der Lesemotivation noch wenig untersucht (Guthrie et al. 2004; Wigfield et al. 2004, 2008). Auch das Zusammenspiel der motivationswirksamen Bedürfnisse mit einzelnen Motivationskomponenten wurde bisher für die Lesemotivation nicht geklärt. Anhand der im Modell beschriebenen Auswirkungen der Erfüllung der Grundbedürfnisse durch eine Handlung auf die intrinsische Motivation kann vermutet werden, dass hohe Selbstbestimmung einer Tätigkeit die Freude an derselben erhöht und sich außerdem positiv auf die Häufigkeit der Ausführung auswirkt.

Ziel der vorliegenden Studie war es daher, Zusammenhänge der erlebten Selbstbestimmung mit dem Spaß am Lesen, der Lesehäufigkeit und der Leseleistung bei Grundschulkindern zu untersuchen. Zur Verifizierung der Übereinstimmung der Verhältnisse in der Stichprobe mit den in der Literatur beschriebenen Sachverhalten sollten zwei Aspekte überprüft werden. Zum einen die Geschlechterunterschiede aller erhobenen Variablen, zum anderen mögliche Unterschiede in der Klassenstufe (Klasse drei und vier, aufgrund der beobachteten Vergrößerung der Geschlechterunterschiede mit dem Alter).

Erwartet wurde, dass:

  1. a)

    Mädchen beider Klassenstufen signifikant bessere Lesekompetenzen zeigen als Jungen,

  2. b)

    Mädchen beider Klassenstufen über mehr erlebte Selbstbestimmung berichten als Jungen,

  3. c)

    Mädchen beider Klassenstufen über mehr Spaß am Lesen berichten als Jungen,

  4. d)

    Mädchen beider Klassenstufen über eine höhere Lesehäufigkeit berichten als Jungen,

  5. e)

    der Zusammenhang zwischen der Selbstbestimmung und dem Leseverständnis durch den Spaß am Lesen und durch die Lesehäufigkeit mediiert wird.

3 Forschungsdesign und Methode

3.1 Stichprobe

Die Rekrutierung der StichprobeFootnote 1 erfolgte über das Koblenzer Netzwerkprojekt KONECSFootnote 2 des Instituts für Grundschulpädagogik der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) sowie über weitere Kontaktaufnahmen via E‑Mail im Umkreis von 50 Kilometern. Insgesamt nahmen 15 dritteFootnote 3 Klassen aus zehn Schulen und 18 vierte Klassen aus acht Schulen aus dem Koblenzer RaumFootnote 4 an der Erhebung teil. Die dritte Klassenstufe war mit insgesamt 235 Schülerinnen und Schülern vertreten, davon 125 Mädchen (53 %) und 110 Jungen (47 %). Die Drittklässlerinnen und Drittklässler waren im Durchschnitt 8,13 Jahre alt (SD = 0,436; Min = 7; Max = 10). Die Teilnehmerzahl der vierten Klassenstufe betrug 208, davon waren 115 Mädchen (55 %) und 93 Jungen (45 %). Die Viertklässlerinnen und Viertklässler waren im Durchschnitt 9,34 Jahre alt (SD = 0,541; Min = 8; Max = 11). 51 % der Kinder der dritten Klassenstufe wuchsen deutschsprachig auf, 48 % mehrsprachigFootnote 5. In Klassenstufe vier gaben 55 % an, zuhause nur Deutsch zu sprechen und 44 % zuhause mehrere Sprachen zu sprechen. Die Zusammensetzung der Stichprobe ist in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Zusammensetzung der Stichprobe

3.2 Erhebungsinstrumente und Durchführung

3.2.1 Leseverständnistest ELFE 1–6

Zur Erfassung der Lesekompetenz wurde der Leseverständnistest ELFE 1–6 (Lenhard und Schneider 2006), der für Erst- bis Sechstklässler geeignet ist, eingesetzt. Das Testverfahren gliedert sich in drei Untertests, mit denen Wort‑, Satz- und Textverständnis abgebildet werden, und ist zur Gruppentestung geeignet. Die einzelnen Untertests werden dabei unter zeitlichen Vorgaben bearbeitet, welche jeweils durch ein Stimmsignal begrenzt werden. Der Untertest zum Wortverständnis umfasst 72 Items, der zum Satzverständnis 28 Items und der zum Textverständnis 20 Items. Es kann dann entsprechend ein Gesamtergebnis berechnet werden. Die interne Konsistenz liegt für die Untertests zwischen α = 0,92 und α = 0,97 (ebd.).

3.2.2 Schülerfragebogen

Die an der Studie beteiligten Kinder wurden im Rahmen eines Fragebogens um Auskunft über ihr Leseverhalten und ihre Lesemotivation gebeten. Dazu wurde ein Fragebogen konzipiert, der besonders die Faktoren Leseselbstkonzept, soziale Eingebundenheit und Selbstbestimmung (Beispielitems siehe Tab. 2) abbildet. Außerdem wurden Spaß am Lesen (Beispielitems siehe Tab. 2) und Leseehrgeiz durch mehrere Items abgefragt. Die verwendeten Items stammen überwiegend aus unterschiedlichen bereits existierenden Fragebögen (siehe dazu Richter und Plath 2012; Rudersdorff 2015, unveröffentlichte Masterarbeit; Bos et al. 2007a; Wigfield und Guthrie 1997) – zum Teil in leicht abgeänderter Form – und einige wurden eigenständig konzipiert. Die für diesen Artikel wichtigen Faktoren Selbstbestimmung und Spaß am Lesen wurden mit drei Items bzw. mit zwölf Items erfasst. Die Erfassung der Lesehäufigkeit erfolgte mit dem Item „Wie oft liest du in deiner Freizeit?“. Der Fragebogen wurde im Rahmen einer unveröffentlichten Masterarbeit (Cremerius 2017) pilotiert und daraufhin entsprechend angepasst. Die Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) ergab sechs Faktoren (Leseselbstkonzept, Leseehrgeiz, soziale Eingebundenheit Erwachsene, soziale Eingebundenheit Peers, Spaß am Lesen, Selbstbestimmung), welche insgesamt 49 % der Varianz aufklären. Die Ergebnisse der Itemanalyse zu den Faktoren Spaß am Lesen und Selbstbestimmung sind in Tab. 2 dargestellt.

Tab. 2 Skalen zu „Selbstbestimmung“ und „Spaß am Lesen“ mit Beispielitems, Mittelwerten und Reliabilitäten

3.2.3 Durchführung

Die Datenerhebungen wurden im Zeitraum von September 2016 bis Februar 2017 durchgeführt. Vor Beginn der Testungsphase erhielten die Eltern der Schulklassen die auszufüllenden Einverständniserklärungen. Die Testungen der Schülerinnen und Schüler, die von Mitarbeiterinnen und Hilfskräften durchgeführt wurden, fanden im Klassenverband während der Unterrichtszeit im Klassenraum der jeweiligen Klasse statt und umfassten etwa zwei Schulstunden. Wenn möglich, waren zu diesen Testungen auch die zugehörigen Lehrkräfte mit im Klassenraum, um nicht-teilnehmenden Kindern in den Klassen Aufgaben zu erteilen und als Gruppe zu betreuen. Den Schülerinnen und Schülern wurde zu Beginn erklärt sie würden im Rahmen eines Projektes befragt, das sich damit beschäftigt zu ergründen, wie Jungen und Mädchen in ihrem Alter denken und lernen. Zunächst bearbeiteten die Schülerinnen und Schüler den Leseverständnistest, der sich in drei Untertests gliedert, deren jeweilige Bearbeitung zeitlich begrenzt und durch Stimmsignale begonnen und beendet wird. Nach einer Pause wurde der Schülerfragebogen ausgeteilt und das Antwortformat an einem Beispiel vorgestellt. Die Schülerinnen und Schüler erhielten die Information, es gäbe bei diesen Fragen kein richtig oder falsch, sondern es gehe um ihre persönliche Einschätzung. Die Bearbeitung des Fragebogens erfolgte dann ohne Zeitbegrenzung und mit der Möglichkeit für Rückfragen, wobei diese lediglich zum Verständnis und nicht als Ausfüllhinweise dienten.

3.2.4 Auswertung

Die Überprüfung der Ergebnisse erfolgte mithilfe von Varianzanalysen, zu Hypothese e per Regressionsanalyse. In den Analysen zur Kontrolle von Altersunterschieden und von Interaktionseffekten gingen das Geschlecht und die Klassenstufe als feste Faktoren ein. Dabei konnten keine signifikanten Interaktionseffekte berichtet werden. Um die Haupteffekte zu berechnen, wurden die Daten nach den Klassenstufen aufgeteilt und das Geschlecht als Faktor eingegeben. Im nachfolgenden Kapitel werden die in Abschn. 2 dargestellten Hypothesen überprüft.

4 Ergebnisse

4.1 Ergebnisse zum Leseverständnis (Hypothese a)

Für die dritte Klassenstufe zeigte sich weder in den Untertests noch in der Gesamtleistung ein signifikanter Geschlechterunterschied (siehe Ergebnisse Tab. 3). In der vierten Klassenstufe unterscheiden sich die Schülerinnen und Schüler im Wortverständnis ebenfalls nicht. Allerdings zeigten sich im Satzverständnis (F(1, 207) = 4,045; p = 0,046; d = 0,278) und im Textverständnis (F(1, 207) = 4,486; p = 0,035; d = 0,293) signifikante Geschlechterunterschiede. Im Blick auf die Gesamtleistung (F(1, 207) = 3,710; p = 0,055; d = 0,271) zeigte sich lediglich ein marginal signifikanter Unterschied, eine Tendenz ist damit auch hier erkennbar. Die Leistungen der Klassenstufe vier sind erwartungskonform insgesamt höher als die der Klassenstufe drei (Wortverständnis (F(1, 443) = 119,571; p = 0,000; d = 1,041); Satzverständnis (F(1, 441) = 121,973; p = 0,000; d = 1,053) und Textverständnis (F(1, 442) = 96,148; p = 0,000; d = 0,934)).

Tab. 3 Auswertung ELFE 1–6 (Lenhard und Schneider 2006) (z-Werte)

4.2 Ergebnisse zur Selbstbestimmung (Hypothese b)

Aus den Antworten der Schülerinnen und Schüler zu den drei Items zur Selbstbestimmung wurde der Mittelwert gebildet und dieser Skalenwert ging als abhängige Variable in die Varianzanalyse ein. Wie in Abb. 1 zu sehen berichteten die Mädchen der dritten Klassenstufe über eine höhere erlebte Selbstbestimmung als ihre gleichaltrigen Mitschüler (F(1, 235) = 6,578; p = 0,011; d = 0,333). Ebenso liegt die angegebene Selbstbestimmung der Jungen in der vierten Klassenstufe hinter derjenigen der Mädchen zurück (F(1, 208) = 5,727; p = 0,018; d = 0,333). Insgesamt zeigen jedoch beide Geschlechter in Klassenstufe vier eine höhere Selbstbestimmung als in Klassenstufe drei (F(1, 443) = 16,152; p = 0,000; d = 0,381).

Abb. 1
figure 1

Berichtete Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe drei und vier im Vergleich (Querschnitt)

4.3 Ergebnisse zum Spaß am Lesen (Hypothese c)

Für die Ergebnisse zum Spaß am Lesen wurden die aufgrund der Faktorenanalyse für diese Skala gefilterten zwölf Items zu einem Mittelwert zusammengefasst und gingen als abhängige Variable in die Varianzanalyse ein. Die Items hatten dabei jeweils die Form einer vierstufigen Likert-Skala (von 0 bis 3). In Klassenstufe drei gab es keinen signifikanten Geschlechterunterschied (siehe Abb. 2) in Bezug auf den Spaß am Lesen. In der vierten Klassenstufe berichteten die Mädchen jedoch über mehr Spaß am Lesen als die Jungen (F(1, 208) = 0,313; p = 0,003; d = 0,320). Ein signifikanter Altersunterschied in Bezug auf den Spaß am Lesen konnte nicht festgestellt werden.

Abb. 2
figure 2

Berichteter Spaß am Lesen der Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe drei und vier im Vergleich (Querschnitt)

4.4 Ergebnisse zur Lesehäufigkeit (Hypothese d)

Die Lesehäufigkeit bei Schülerinnen und Schüler wurde mithilfe des Items „Wie oft liest du in deiner Freizeit?“ (nach Richter und Plath 2012) und einer vierstufigen Likert-Skala (1 = Seltener als einmal in der Woche bis 4 = Mehrmals täglich) erfasst. Mädchen der dritten Klassenstufe berichteten über eine höhere Lesehäufigkeit (siehe Tab. 4) als die Jungen gleichen Alters (F(1, 235) = 254,077; p = 0,005; d = 0,364). In der vierten Klassenstufe ist kein signifikanter Geschlechterunterschied mehr nachweisbar (F(1, 207) = 229,244; p = 0,064; d = 0,263). In Bezug auf das Alter insgesamt gab es keinen signifikanten Unterschied.

Tab. 4 Deskriptive Statistik zur Lesehäufigkeit bei Jungen und Mädchen in Klassenstufe drei und vier

4.5 Mediationen (Hypothese e)

Mithilfe von Regressionsanalysen der GesamtstichprobeFootnote 6 wurde überprüft, ob der Spaß am Lesen zwischen der erlebten Selbstbestimmung und dem Leseverständnis (z-Wert der Gesamtleistung) eine mediierende Funktion (nach Baron und Kenny 1986) hat. Aus Abb. 3 wird deutlich, dass der Grad der erlebten Selbstbestimmung sowohl die Leistung im Leseverständnis als auch den Spaß am Lesen signifikant vorhersagt. Wird der Spaß am Lesen ebenfalls als Prädiktor in die jeweilige Regression aufgenommen, verringert sich das ß‑Gewicht der erlebten Selbstbestimmung, bleibt jedoch weiterhin signifikant, womit eine partielle Mediation nachgewiesen werden konnte. Zum anderen wurde überprüft, ob die Lesehäufigkeit zwischen der erlebten Selbstbestimmung und dem Leseverständnis als Mediator fungiert. Auch hier kann berichtet werden, dass der Grad der erlebten Selbstbestimmung die Leistung im Leseverständnis und die Lesehäufigkeit signifikant vorhersagt (siehe Abb. 4). Ebenso konnte eine partielle Mediation nachgewiesen werden, wenn die Lesehäufigkeit als zusätzlicher Prädiktor hereingegeben wird und sich das ß-Gewicht der erlebten Selbstbestimmung verringert, aber signifikant bleibt.

Abb. 3
figure 3

Spaß am Lesen als Mediatorvariable des Zusammenhangs zwischen der erlebten Selbstbestimmung und dem Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler

Abb. 4
figure 4

Lesehäufigkeit als Mediatorvariable des Zusammenhangs zwischen der erlebten Selbstbestimmung und dem Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler

5 Diskussion und Ausblick

In den Ergebnissen der vorliegenden Studie zum Leseverständnis zeigen sich in der dritten Klassenstufe noch keine Geschlechterunterschiede, in der vierten Klassenstufe allerdings schon signifikante Differenzen zugunsten der Mädchen, vor allem in Aufgaben mit syntaktischem und semantischem Charakter. Diese Ergebnisse bestätigen vorliegende Befunde (vgl. Bos et al. 2007a; Klieme et al. 2010; McElvany et al. 2017, 2008; Becker et al. 2010; Retelsdorf und Möller 2008), wonach die Geschlechterunterschiede mit steigendem Alter entstehen und sich verstärken und untermauern damit zugleich die Forderung, der Entwicklung solcher Differenzen bereits in der Primarstufe entgegenzuwirken. Die Ergebnisse zur erlebten Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler zeigen, dass in beiden Klassenstufen die Mädchen in ihrer Freizeit häufiger eigenständig entscheiden dürfen, was sie lesen, wann sie lesen und wie viel sie lesen. Insgesamt ist die Selbstbestimmung für beide Geschlechter in Klassenstufe vier höher als in Klassenstufe drei, was darauf hindeuten kann, dass die Kinder mit zunehmendem Alter auch stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Die Selbstbestimmung ist bei den älteren Jungen zwar auch höher als bei den jüngeren, bleibt jedoch hinter denen der Mädchen zurück. Spaß am Lesen finden Schülerinnen und Schüler in der dritten Klassenstufe noch in etwa gleich viel, in der vierten Klasse ziehen auch hier die Mädchen an den Jungen vorbei. Die Geschlechterunterschiede, die in der dritten Klassenstufe in der Lesehäufigkeit noch signifikant sind, zeigen sich in der vierten Klassenstufe nur noch marginal. Die Lesehäufigkeit der Jungen nähert sich derjenigen der Mädchen an. Hinsichtlich der möglichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren könnte vermutet werden, dass Jungen zwar mit höherem Alter auch an Selbstbestimmung gewinnen und die Lesehäufigkeit zunimmt, diese aber weiterhin hinter denen der Mädchen zurückbleiben und damit auch die Leistungsunterschiede verantworten. Dies lässt einen Bezug zur Aussage von Deci und Ryan (1993) zu, nach der die Autonomie mit einem Interesse am Lerngegenstand einhergeht und die Leistungsergebnisse beeinflusst. Entsprechend lesen Jungen in höherem Alter also fast genauso häufig wie Mädchen, eventuell weil sie häufiger dazu angehalten werden, bleiben aber dennoch in den Leistungen hinter den Mädchen zurück. Geringere Auswahlfreiheiten und -möglichkeiten und daraus resultierendes fehlendes Interesse und weniger Spaß am Lesen mögen der Grund dafür sein.

Die Geschlechterunterschiede in Bezug auf die erlebte Selbstbestimmung schon in den jüngeren Klassen und die erst bei den Älteren aufzufindenden Unterschiede im Spaß am Lesen können zum einen als Beleg dafür gedeutet werden, dass selbstbestimmtes Lesen sich langfristig positiv auf die Lesemotivation und die Leseleistung auswirkt. Zum anderen weist beides auf die Notwendigkeit hin, der Selbstbestimmung schon bei jüngeren Kindern und insbesondere bei den Jungen mehr Beachtung zu schenken. Im Kontext Schule könnte dem bereits zu Beginn der Primarstufe Rechnung getragen werden – so zum Beispiel durch Zeit für eigene Lektüren im Unterricht oder auch durch stärkere Mitbestimmung der Kinder bei der Auswahl von Unterrichtslektüre. Die damit zusammenhängende Möglichkeit zur Anschlusskommunikation kann sich dabei zusätzlich positiv auswirken. Damit einhergehend erscheint eine verstärkte Geschlechtersensibilisierung der Lehrkräfte in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten (Lektüreauswahl etc.) als Weg. Zugleich sollte das Lesen selbstgewählter Texte und auch das kreative Verfassen eigener Texte gefördert und entsprechend in der Lehrerausbildung berücksichtigt werden (vgl. Valtin et al. 2007). Im Freizeitbereich könnte die kindliche Selbstbestimmung durch Gewährung größerer Freiheit seitens der Eltern bei der Lektürewahl und bei den Rahmenbedingungen des Leseverhaltens unterstützt werden.

Bei der Interpretation der Befunde sind allerdings mehrere Limitationen unserer Studie zu bedenken. Insbesondere ist das querschnittliche Design zu nennen, das keine Aussagen über die altersabhängige Entwicklung der einzelnen Schülerinnen und Schüler zulässt. Weiterhin ist zu beachten, dass die Befragung durch ausschließlich Mitarbeiterinnen ein möglicherweise vorhandenes Geschlechterstereotyp weiter verstärken kann. Da in der vierten Klassenstufe zwangsläufig das Thema Wechsel auf die weiterführende Schule auftritt, ist zu berücksichtigen, dass diese Schülerinnen und Schüler häufig unter höherem Druck stehen – dies wurde beispielsweise durch die während der Testung gestellte Frage deutlich, ob die Aufgaben benotet werden. Ein weiterer Aspekt ist die Itemauswahl – die Fragen zur Selbstbestimmung bezogen sich auf die Freizeit, entsprechend sind praktische Implikationen für die Schullandschaft nur begrenzt daraus ableitbar. Weitere, die Selbstbestimmung im Schulkontext erfassende Fragen, wären hilfreich gewesen.

Da der Anteil der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler in der Stichprobe sehr hoch war, sollten in einem nächsten Schritt mögliche Zusammenhänge noch einmal unter zusätzlicher Berücksichtigung dieses Aspekts untersucht werden. Zudem wurden mit Bezug auf das Modell von Deci und Ryan (1993) weitere mögliche Einflussfaktoren wie soziale Eingebundenheit in Bezug auf Peers und Erwachsene, Leseselbstkonzept und Leseehrgeiz erfasst, sowie ein Lehrkraftfragebogen eingesetzt, der das Unterrichtsgeschehen und möglicherweise vorhandene Geschlechterstereotype (vgl. dazu bereits Ergebnisse von Retelsdorf et al. 2015) abfragt. Diese Daten werden in einem weiteren Analyseschritt einbezogen, um dabei weitere mögliche beteiligte Wechselwirkungen zu überprüfen.