1 Einleitung

Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen dringen hochgradig brisante Informationen in öffentliche Diskursräume und erlangen dadurch eine ungeahnte Alltagsrelevanz. Davon scheinen derzeit drei Wissensbereiche besonders betroffen zu sein. Erstens wird zunehmend geheimes Staatswissen problematisiert, das bisher selbst demokratischen Prozeduren entzogen war, nun aber über „Umwege“ zur breiten Sichtbarkeit gelangt (NSA-Leaks). Zweitens wird vermehrt privates Finanzwissen geteilt, das eine ebenso große Abscheu vor Einblicken Dritter aufweist (Panama Papers). Und drittens wurde zuletzt auch diplomatisches Verhandlungswissen öffentlich (TTIP-Leaks), das aus Gründen der strategischen Zurückhaltung von Informationen bislang nicht zugänglich war.

Nun handelt es sich in diesen Fällen nicht nur um Wissensbereiche, die nur deshalb die Neugierde beflügeln, weil sie im Normalbetrieb der Politik üblicherweise verborgen bleiben. Vielmehr sind darin Geheimnisse enthalten, die die demokratische Identität westlicher Ordnungen betreffen; sei es, weil sie ihre freiheitlichen Selbstbilder (Überwachung), ihre mühsam erarbeiteten Solidaritätsgarantien (Steuerflucht) oder die Prinzipien der Verantwortlichkeit (Intergouvernementalität) zu untergraben drohen. Daher sollte die politische Bedeutung von Datenleaks nicht damit abgetan werden, dass sich hierbei nur spannende Vorfälle in die Öffentlichkeit verirrt hätten. Das Phänomen Datenleaks wirft eher Grundsatzfragen des Politischen auf, insofern es kollektive Sinngebungsprozesse anstößt, die mit Freund-Feind-Identifizierungen operieren und diese mit narrativen Figuren wie Helden und Schurken bespielen: Hat sich etwa nach der Überwindung des Systemkampfes die Freund-Feind-Dichotomie unbemerkt in die Demokratien verlagert? Wie werden die scheinbar unbedeutenden Funktionsträger figuriert, die aus den Geheimhaltungsapparaten diverser Organisationen berichten? Welche Legitimierungszwänge werden im Zuge daran anschließender Kontroversen aufgebaut und verändern sich dadurch die „kulturellen Codierungen“ moderner Demokratien?

Das sind nur einige ausgewählte Fragen, die auf die politische Relevanz der Transparenzthematik deuten. Sicherlich lassen sich je nach theoretischer Vorliebe und Erkenntnisinteresse eine Reihe anderer Fragen formulieren. Schließlich befindet sich die politikwissenschaftliche Forschung zu Enthüllungsvorgängen noch am Anfang und das Thema wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Hempel/Krasmann/Bröckling 2011; Baumann 2014), beteiligten Journalisten (Greenwald 2015; Obermayer/Obermaier 2016) oder dem geistes- und kulturwissenschaftlichen Betrieb (Schneider 2013; Han 2012; Rautzenberg/Wolfsteiner 2010) überlassen. Dass hier aber ein neues politikwissenschaftlich interessantes Forschungsfeld ruht, das mithilfe des Transparenzbegriffs (auch interdisziplinär) erschlossen werden kann, wird besonders daran erkennbar, dass sich die Enthüllungsdebatten immer wieder um eine elementare ordnungspolitische Ambivalenz drehen: Einerseits wird vermehrt angemerkt, dass der Wunsch nach demokratischer Effizienz und Kontrolle nur in dem Maße realisierbar ist, wie er sich mit Transparenzvorgaben verbündet und auf das Ziel eingeschworen wird, den politischen Raum durchschaubar zu machen. Andererseits aber wird in ebenso zunehmendem Maße festgestellt, dass „mehr Transparenz“ eben nicht nur von Staat und Politik abverlangt wird, vielmehr der Staat mittels derselben Forderung auch jene sich frei assoziierenden Bürger ausspähen kann, „die unter einem Zuviel an Information, Kommunikation und Meinungsäußerung“ leiden (Hardt/Negri 2012, S. 21). Wenngleich diese Ambivalenz im vorliegenden Beitrag nicht aufgelöst werden kann (wenn das überhaupt möglich ist), so deuten die Enthüllungsereignisse doch darauf hin, dass der liberale Rechtsstaat offenbar weder den Überwachungsstaat überwinden konnte (Frankenberg 2010), noch imstande war, seine finanzstarken Leistungsträger an ihre Solidaritätspflichten zu binden. Auch lässt sich ein grundlegendes Unbehagen hinsichtlich der Frage erkennen, ob demokratische Verhandlungsführer in internationalen Kooperationen überhaupt noch an den Willen des demos gebunden werden können oder nicht vielmehr intergouvernementale Zwänge ihr Entscheidungshandeln determinieren. Das mit dem Transparenzbegriff verbundene Heilsversprechen (Schneider 2013, S. 12) ist als Legitimationskriterium demnach keineswegs eindeutig zu bestimmen, weist er doch zu sehr auf normative Spannungen in der Regierungspraxis von Demokratien hin.

Der vorliegende Beitrag will die Plausibilität der These prüfen, wonach die beschriebene Ambivalenz den demokratischen Vorstellungsraum einer stillen Transformation unterzieht und den bislang für überwunden gehaltenen Freund-Feind-Mechanismus des Politischen erneuert. Dies sollte keineswegs als ein Versuch gelesen werden, den staatstheoretischen Dezisionismus Carl Schmitts zu aktualisieren. Es geht hier allein um die Frage nach der Performativität von Transparenzdiskursen, die hier im Kontext der Debatten um die Bedeutung von Enthüllungspraktiken angedeutet werden soll. Die These hat zwei Bestandteile, die in umgekehrter Form auch den vorliegenden Beitrag gliedern. Erstens gehen wir davon aus, dass politische Akteure auf durch Enthüllungen brüchig gewordene Legitimitätskontexte insbesondere mit erzählerischen Strategien reagieren, insofern nur poetologische Prozeduren es ihnen erlauben, ambivalente Erfahrungen der beschriebenen Art kommunikativ beherrschbar zu machen (Koschorke 2012). Das Argument ist hier, dass im Anschluss an Datenleaks vor allem solche Enthüllungsgeschichten verhandelt werden, in denen es um Freund-Feind-Konstruke geht und die den Fokus auf Existenzfragen richten (Kapitel 2). Ferner gehen wir der Annahme nach, dass sich durch die so entstandene Unruhe nicht zuletzt auch die normativen Prämissen demokratischer Ordnungen verändern. Das Selbstbild von Demokratien passt sich an die durch Enthüllungen ausgelösten Ernüchterungen an und trägt dadurch zu einer Normalisierung technokratischer Begründungsfiguren bei. Nicht mehr die Erfüllung oder Ermöglichung freiheitlicher Grundrechte, sondern die möglichst effiziente Verhinderung von existenziellen Gefahren wird so zur politischen Daueraufgabe (Kapitel 3).

2 Transparenzdiskurse und die narrativen Praktiken des Politischen

Das Politische zeichnet sich einer zunächst umstrittenen, aber dann doch gängig gewordenen Auffassung nach als die Fähigkeit aus, den Ernstfall auszurufen und dies mithilfe von Freund-Feind Differenzierungen vorzunehmen (Carl Schmitt). Etwas weniger pathetisch kann der Rekurs auf das Politische als ein Versuch gelten, gegen die kosmopolitische Verdrängung der Konflikthaftigkeit des politischen Lebens vorzugehen und diese nicht mehr zu pathologisieren, sondern als zentrale Bedingung der Möglichkeit von Politik anzuerkennen (Mouffe 2007). Das zentrale Anliegen der Politikwissenschaft wäre dann zu klären, unter welchen Bedingungen konflikthafte Wir-Sie-Unterschiede produktiv wirken und wann sie in existenzielle Freund-Feind-Differenzen kippen und die Politik in den Modus des Ausnahmezustandes versetzen.

Dass diese Möglichkeit nicht nur theoretischer Natur ist, sondern auch praktische Relevanz besitzt, macht die Zunahme existenzieller Argumentationsfiguren in der Politik deutlich. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Ausbreitung von Verschwörungstheorien, die selbst in „aufgeklärten“ Gesellschaften sehr erfolgreich von realen Komplotten und Intrigen zu berichten vorgeben können. Es trifft auch auf den popkulturellen Mainstream zu, der zwar nur realitätsähnlich vorgeht, dabei aber durchaus imstande ist, Deutungswissen zu generieren, das die politischen Kontroversen über reale Geheimnisse auch mitzugestalten vermag (Horn 2014). Zudem lassen die Kontroversen in Medien und politischen Entscheidungsarenen erkennen, dass Feindbilder aus dem Imaginären demokratischer Ordnungen keineswegs verschwunden sind, sondern auch hier noch ihr kulturelles Gedächtnis zu organisieren helfen. Man hat Geschichte, so Joseph Vogl, vor allem deshalb, „weil man sich der Feindschaften, der vergangenen Kämpfe erinnert“ (Kluge/Vogl 2009, S. 156) und diese Geschichte, so scheint es, schreibt sich heute vor allem in und durch Transparenzdiskurse fort.

Dass die Existenzialisierung der Politik heute besonders in Transparenzdiskursen bemerkbar wird, also in jenen Kontroversen, in denen das politisch Verborgene problematisiert wird, hat vor allem damit zu tun, dass der Begriff einerseits zur Selbsterneuerung der Moderne taugt und damit sowohl private wie öffentliche Instanzen unter einen umfassenden Anpassungsdruck stellen kann. Dem kommt aber auch hinzu, dass Transparenz als Vorgabe einen ganz bestimmten Anpassungsdruck erzeugt, und zwar die möglichst vollständige Durchleuchtung und Kontrolle kollektiver Körperschaften. Und das zielt – systemtheoretisch gedacht – auf die Autopoiesis der betroffenen Organisationen ab. Transparenz ist so betrachtet keine Aufforderung, die durch systemische Eigenheiten aufgenommen und verarbeitet werden kann, sondern ihre operative Eigenlogik – oder anders: ihre Identität – betrifft. Insofern ist zu erwarten, dass die Beanspruchung der Transparenzvorgabe in dem Maße, wie sie das Versprechen der Moderne zu erneuern verspricht und an politischer Schlagkraft gewinnt, auch Gegenstrategien motiviert, die sich auf Existenzfragen beziehen und in Begriffen des Politischen entworfen werden.

Am Beispiel der Enthüllungen von Edward Snowden und daran anschließender Kontroversen lässt sich dies gut veranschaulichen. Dabei werden vor allem zwei Dimensionen erkennbar, in denen sich das Transparanzideal in den Dienst der (narrativen) Inszenierung des Politischen stellt. Die erste Ebene kreist um die Figur des Enthüllers, dessen Deutung unter dem Vorzeichen radikaler Gegensätze verläuft. Auf einer zweiten Ebene geht es schließlich um die Existenz der Deutenden selber (Staat und Öffentlichkeit), die ihrerseits von Enthüllungen bedroht sind und sich in ihrer gesellschaftlichen Existenz oder politischen Bedeutung infrage gestellt sehen. Man könnte hier noch eine dritte Ebene ansprechen, auf der sich eine Existenzialisierung der historisch gewachsenen Identitätskonstrukte vermuten lässt. Das aber scheint zum jetzigen Zeitpunkt noch voreilig und müsste in einem größeren Forschungskontext untersucht werden. Die ersten beiden Ebenen der Existenzialisierung aber lassen sich hier zumindest grob skizzieren.

2.1 Die Figur des Enthüllers und das Politische

Edward Joseph Snowden, eine vermeintlich kleine Systemgestalt des US-amerikanischen Geheimdienstes, übermittelt Anfang 2013 „streng geheime“ Informationen an ausgewählte Journalisten. Er informiert so die Öffentlichkeit über die Reichweite unbekannter Überwachungsprogramme wie Prism oder Tempora und zeigt, dass die exekutiven Kräfte entgegen rechtskräftiger Standards umfassend individuelle Daten sammeln. Offensichtlich sind Zugänge zu geschützten Lebensbereichen hergestellt worden, die es erlauben, private oder berufliche Informationen unentdeckt abzugreifen. Es geht damit etwas Bedeutendes verloren, dessen Verlust zunächst nicht bemerkt werden kann.

In seiner Eigenschaft als Enthüller wurde Snowden zu einer Kippfigur, die in der Grauzone von Recht und Rechtlosigkeit nur schwer zu verorten ist – was durch seine Flucht über die Sonderverwaltungszone Hong Kong in den Transitbereich des internationalen Flughafens von Moskau eine seltsame Manifestation erlebt hatte. In dieser Grauzone, die für den Fall noch immer eine zutreffende Beschreibung liefert, kann es nicht gelingen, seinem Handeln einen klaren Sinn zuzuordnen. Auf der einen Seite scheint sein Motiv doch nachvollziehbar: Er habe so gehandelt, weil er nicht in einer Welt leben wolle, in der alles, was er tut und sagt, aufgezeichnet wird. Die Plausibilität dieses Narrativs speist sich aus dem kollektiven Gedächtnis liberaler Demokratien, die in ihrer historischen Mission ja angetreten waren, der Herrschaft totalitärer Einverleibungen und Überwachungen ein unwiderrufliches Ende zu setzen. Doch die Schutzdienste der Demokratien erstatten Strafanzeige und erheben den Vorwurf der Spionage. Auch dafür lässt sich das kollektive Gedächtnis liberaler Demokratien bemühen. Schließlich sind darin nicht nur Erinnerungen an die Schreckensherrschaften vergangener Tage enthalten, sondern auch solche, in denen es vor allem um die Ausbildung wehrhafter Fähigkeiten ging. In einer solchen Zone der interpretativen Unbestimmtheit entstehen oft Verwechselungen und kaum lösbare Debatten darüber, ob man Snowden auf der Seite des Rechts als mutigen Aufklärer verbuchen müsse oder ihn auf der Seite des Unrechts als Verräter zu betrachten habe, der einen neuen Typus des Verrats in die Welt gebracht hat. Die Enthüllung als politischer Akt der Transparenzierung erfährt hier diametrale Deutungen, die sich in Freund-Feind-Kategorien ausdrücken und existenzielle Fragen aufwerfen. Hierzu zwei typische Passagen (siehe hierzu auch Yildiz 2015):

Für mich ist Edward Snowden kein Held, er ist ein Verräter. Einer, der einen Eid geschworen und diesen gebrochen hat. Die Glorifizierung von Snowden kann ich nicht nachvollziehen. Zumal er nicht etwa Konzentrationslager oder dergleichen aufgedeckt hat. Nein, er hat aufgedeckt, wie sich ein Land gegen Terrorattacken wehrt. Und damit hat er diese Abwehrmöglichkeiten geschwächt. (Frederick Forsyth)

Ich bin sicher, dass schon in zehn Jahren Edward Snowden auch in den USA würdig an der Seite von anderen großen Enthüllern stehen wird. Die USA und die demokratische Welt werden Snowden dankbar sein für das was er tat. Und niemand wird verstehen können, dass wir heute so zögerlich sind, diesem Mann zu helfen und seine Verdienste anzuerkennen. (Hans-Christian Ströbele)

Die Enthüllung wird zum Medium unscharfer Freund-Feind-Bildnisse, die sich in der Beschreibung von Figuren des Verräters und des Verratenen äußern. Der Verrat spielt dabei eine besondere Zuspitzung des Feindes an, der eben nicht mehr an den Außengrenzen der Gemeinschaft lauert, sondern im Inneren der Ordnung eine „moralische Selbstverletzung“ (hier den Eidbruch) begeht und damit eine Tat „gegen den eigenen Willen“ vollbringt (Horn 2007, S. 25). Statt aufzuklären, hindert er. Statt zu berichten, erfüllt er. Er liefert keinen Beweis, auch keinen Hinweis. Er führt vielmehr einen Akt der Destruktion aus. Allerdings ist mit Unschärfe auch die Bedingung dafür gegeben, dass die Enthüllung nicht nur als „Verrat“ lesbar ist, sondern auch als eine Geste, durch die sich ein sorgsam gehütetes Geheimnis lüftet, zu dessen trickreicher Selbstermächtigung das Prinzip der Verschwiegenheit gehört. Nicht der Verräter, sondern das verratene Geheimnis wird dann zur Kriegslist und damit zu einer Tat, die sich gegen ihre Auftraggeber wendet und ebenso, statt sie zu beschützen, das Misstrauen ihnen gegenüber auf Dauer stellt, indem es das Arsenal von Überwachungstechnologien ausbaut.

Es ist bemerkenswert, wie sehr die Kontroverse um die politische Deutung der Enthüllung durch narrative Umkehrungen strukturiert wird, die nicht nur aufeinander verweisen, sondern sich in ihrer Erzählstruktur angleichen. Das einzige, das dieses Wechselspiel daran hindern kann, in gleichlautende Vorwurfsschleifen zu erstarren, ist das Spiel mit den Zeithorizonten. Denn die Enthüllung wird nur dadurch zum Verrat, weil sie allein in der Jetztzeit betrachtet wird. Und dies ist noch zu sehr auf die Irritationen und unmittelbaren Negativfolgen für die Ordnungen fokussiert. Wird die Tat allerdings aus einer historischen Rückschau festgestellt, bettet sich die Enthüllung in eine Kette von Ereignissen ein, die andere Folgen zu erkennen erlaubt und deshalb auch andere moralische Urteile zulässt. Die Dehnung der Zeitperspektive macht es also möglich, sich der normativen Kraft des Faktischen zu entziehen, das Rechtfertigungsspiel exekutiver Staatssemantiken zu überwinden und das Faktische jenen Idealen zu unterwerfen, auf die sich eine demokratische Ordnung zu berufen gelernt hat.

2.2 Existenzialisierung von Staat und Öffentlichkeit

Die Enthüllung erweist sich bei näherer Betrachtung als ambivalente Geste, die in das kommunikative Feld der Politik die Grundkategorien des Politischen einführt. Allerdings reduziert sich das Politische nicht auf die Figur des Enthüllers und auf seine narrative Ausdeutung als Freund oder Feind. Es geht immer auch um die Identität der Streitenden selber. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass die Enthüllung zwei narrative Muster evoziert hat, die einerseits das Bedürfnis der Sicherheitsagenturen des Staates privilegieren und andererseits sich um jene narrativen Deutungen gruppieren, die in einer (neuen) netzaffinen Öffentlichkeit artikuliert werden, so wird ersichtlich, dass das Politische nicht durch narrative Zurechnungen (Held oder Verräter) allein, sondern auch durch Projektionen etabliert wird, die auf die Existenzängste der Deutenden selber zurückführen. Das Politische geht also nicht nur mit einer interpretativen Unschärfe über die Tat der Enthüllung und das Problem der Charakterisierung oder Rollenzuschreibung einher. Sie führt auch die Selbstwidersprüche der Deutenden vor. Auch hierzu zwei aussagekräftige Passagen aus den politischen Kontroversen.

Ich spüre eine Kränkung. Sie hängt mit meinem Irrtum zusammen, der Spähskandal zwang mich zu erkennen: Das Internet ist nicht das, wofür ich es […] halten wollte. Auf eine Art hat es sich gegen mich gewendet und mich verletzt. […] Was so viele für ein Instrument der Freiheit hielten, wird aufs Effektivste für das exakte Gegenteil benutzt. […] Die Kränkung […] hat mich verstört und mit hilfloser Wut vergiftet. (Sascha Lobo)

Ich bin nie der Meinung gewesen, dass Kommunikation, die weltweit erfolgt, nicht von Nachrichtendiensten überprüft werden darf. Wie wollen Sie ansonsten den international operierenden Terrornetzwerken auf die Spur kommen? (Wolfgang Schäuble)

Die erste berichtet von einer Kränkung, die der Spähskandal auf der Seite einer sich neu konstituierenden Netzöffentlichkeit ausgelöst hat und die als Rationalitätsverlust erlebt wird. Auf die Beobachtung, dass das Internet entgegen seiner Verheißung die Freiheit des demokratischen Gemeinwesens auszuhöhlen droht, folgt Wut und Hilflosigkeit. Wer gekränkt und wütend ist, dem verschließen sich zuerst die Handlungsperspektiven und es kommt zur Dominanz negativer Diagnosen: „Das offene Netz ist bedroht“, so wieder jüngst Markus Beckedahl in seiner Begrüßung zur diesjährigen re:publica.Footnote 1 Angesichts einer im Netz wachsenden Überwachungs- und Kontrollarchitektur lässt sich dieser Position kaum die Plausibilität absprechen. Allerdings geht mit ihr auch eine Existenzialisierung einher, die sich selbst in jener Frage zu erkennen gibt, die darum bemüht ist, die konstruktiven Kräfte der betroffenen Netzöffentlichkeit zu mobilisieren. Es gehe jetzt darum, „wie wir es schaffen können, trotzdem noch als Bürger, als Menschen mit unseren Grundrechten in diesem Netz kommunizieren zu können.“ (ebd.) Viel grundlegender lässt sich eine politische Frage kaum formulieren.

Existenzängste werden aber auch von den Agenturen des Sicherheitsstaates artikuliert und auf Dauer gestellt. Erstens, in dem der unbedingte Handlungswille international operierender Feinde bemüht wird (Terrornetzwerke) und damit die Notwendigkeit, präventive Maßnahmen einleiten und sie institutionell absichern zu müssen. Und zweitens, indem die freiheitlichen Grundlagen der Demokratie nicht als durch die Nachrichtendienste bedroht betrachtet werden, sondern vor allem durch solche Forderungen, die trotz des Wissens um die Bedeutung von Kommunikationstechnologien für den global operierenden Terror die Netzkompetenzen der Demokratie-Beschützer zu begrenzen versuchen. Sicherlich liefert der Terror selbst immer wieder Anlass zur Besorgnis. Diese Sorge aber fließt in die kulturelle Produktion einer Bedrohungslage ein, die unspezifisch ist und eine seltsame Verknüpfung äußerer (Terror) und innerer (Verrat) Feinde erlaubt. Der globalisierte Feind als zentraler Bezugspunkt staatlichen Handelns ist eine schwer fassbare, nahezu unsichtbare Gestalt, dessen Bekämpfung zuerst auf die Optimierung staatlicher Erkennungs- und Fahndungsdienste hinausläuft, also auf die Bekräftigung und Manifestation kulturell vermittelter Feindbilder.

3 Transparenzierung als technokratische Praktik

Die Transparenzvorstellung spielte schon in der imaginären Konstitution der Moderne eine wirkungsvolle Rolle. Als eine gut verdichtete Metapher der Sichtbarmachung kann sie geradezu als Miniatur-Narrativ der Aufklärungsphilosophie verstanden werden. In diesem Sinne konnte sie beachtliche Faszinationskräfte freisetzen, wie Manfred Schneider in seiner Studie zum Transparenztraum deutlich macht. Demnach wurde spätestens mit der französischen Revolution die Durchsichtigkeit der politischen Verhältnisse zum Leitkriterium einer gerechten Ordnung. So zeigt Schneider (2013, S. 102), dass der Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau vor allem von dem Verlangen geprägt war, eine verlorengeglaubte Klarheit über den Zustand der Dinge, Worte und Zeichen wiederherzustellen, um sich so die zivilisatorische Fähigkeit zum sozialen Katastrophenmanagement anzueignen. Dass dieser Wunsch aber entgegen seiner erklärten Zielsetzung in einen Transparenzterrorismus kippen kann, zeigt Schneider am Beispiel des übersteigerten Transparenzverlangens der jakobinischen Revolutionäre um Robespierre, Marat und Danton. Im Rückbezug zur revolutionären Transparenzidee legitimierten sie Massenexekutionen und andere brutale Maßnahmen. Vor dem Hintergrund einer erneuerten Körperschaftsmetaphorik (Koschorke et al. 2007) galt es den Volkskörper zu „reinigen“ und allen konterrevolutionären Elementen die Masken „abzureißen“, damit die Menschen einander wieder in Brüderlichkeit und vollendeter Durchsichtigkeit gegenübertreten mögen (Schneider 2013, S. 126 f.). Damit geht der Transparenztraum in einen Strudel der Gewalt über und konstituiert eine Dialektik des Verdachts und der Denunziation. Dazu schreibt Schneider (2013, S. 132):

Den Terror betreibt nicht das ruhelos herabblitzende Messer der Guillotine, sondern die im Verdacht lauernde dauernde Drohung. Die bürokratisierte Verdachtsdrohung will den Raum der Sichtbarkeit und Kontrolle totalisieren: Erst die Intimsphäre ins Sichtfeld holen, dann das Tiefinnere des Subjekts und zuletzt sein Unterbewusstes. Die Dialektik des Verdachts und des Transparenzverlangens führt unvermeidlich zu einem Zeitkonflikt: Wer äußert den Verdacht als erster? Wer dem Verdacht entgehen will, muss verdächtigen, wer der Denunziation entgehen will, muss denunzieren. Aber sind nicht auch die Denunzianten verdächtig? Die konspirationsbesessene Interpretationsgemeinschaft kennt unter den Bedingungen des Terrors kein nichtssagendes Zeichen mehr. Jeder Wimpernschlag ist ein Geständnis.

Mit dem globalen Krieg gegen den Terror, wie er unter der prägenden Kraft der 9/11-Symbolik begründet wurde, sind die paranoischen Züge des Transparenztraumes auf einen neuen historischen Höhepunkt gelangt. Es gilt wieder ein verlorengegangenes Gefühl von Sicherheit zurückzugewinnen und sich dadurch motiviert in feindseligen Obskuritätsvorwürfen zu üben. War der Krieg gegen den Terror noch vor der Konsolidierung der 9/11-Symbolik einer klassischen militärischen Rhetorik verhaftet, setzt sich unter ihren normativen und moralischen Prämissen ein sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel durch, der den Handlungsraum des militärischen Kampfes auf alle Bereiche des zwischenmenschlichen Zusammenlebens ausdehnt und die Terrorgefahr geradezu überall und mit allen erdenklichen Mitteln präventiv verhindern zu können glaubt. Es gilt den Kampf zu entscheiden, bevor er sich in militärisch messbaren Kategorien ausdrückt. Und dies verlangt eine Transparenzierung, die sich jenseits rein militärischer nun auch ziviler Praktiken bedienen kann.

Unter diesen Bedingungen wird die „tickende Bombe“, wie sie in US-Serien wie 24 inszeniert wird, zur politischen Leitmetapher. Als Fokusausdruck ist sie zwar nicht immer erkennbar, aber als semantischer Rahmen durchaus wirkmächtig. Diese Wirkmacht besteht zunächst darin, ein Gefühl der ständigen Bedrohung durch dunkle Mächte zu erzeugen, was im metaphorischen Spiel durch die Zeitbombe repräsentiert wird. Sie ist ähnlich wie der Sprengstoffgürtel eine black box, undurchsichtig und raffiniert und gerade deshalb gefährlich. Aber darin erschöpft sich die Performativität der Metapher nicht. Zugleich inspiriert sie den Glauben daran, dass durch die Einleitung entsprechender Transparenzierungen (z. B. Entschärfung) die Kontrollfähigkeit wieder an ihren richtigen Platz gebracht werden könne. Die tickende Bombe ist also nicht nur Inbegriff der Destruktivität intransparenter Phänomene. Überdies leitet sie die politische Gestaltungsphantasie auf die Institutionalisierung einer sozialen Alarmbereitschaft, wodurch die politische Bedeutung technokratischer Begründungen gesteigert wird. Denn die „tickende Bombe“ gestattet keinen Aufschub. Sie verlangt den unmittelbaren Einsatz von auserwählten Spezialisten, denen man unter dem Druck der Bedrohungslage gerne zugesteht, sich situativ über bestehende Rechtsregeln hinwegzusetzen, um rechtzeitig und effektiv handeln zu können. Sonst bliebe die Bombe eine obskure Gefahr, die nur durch den glücklichen Handgriff eines zur rechten Zeit Herbeieilenden entschärft werden könnte. Sein Mut mag zwar beneidenswert sein. Aber sein Schicksal in die Hände eines Laien zu legen, ist keine Option für die Dauer.

Dass der Krieg gegen den Terror das alltägliche Zusammenleben der Menschen derart verändert, wird besonders von der kritischen Sicherheitsforschung betont. Nicht zufällig bezieht sich diese Forschung auf die Schriften von Michel Foucault und Giorgio Agamben zur Biopolitik. Schließlich wird die Veralltäglichung der existenziellen Frage besonders durch jene Regierungstechnologien betrieben, die auf die Transparenzierung menschlicher Körper gerichtet sind (Reid 2005). Damit wird der Transparenztraum der französischen Revolutionäre erneuert, insofern mit dem Einsatz neuer Fahndungstechnologien nun weitaus systematischer nach jenen verräterischen „Wimpernschlägen“ ermittelt werden kann, in denen man Hinweise auf terroristische Risiken vermutet – beispielsweise in den Sicherheitskontrollen der Flughäfen, in denen Programme wirksam sind, die jedes nervöse Zwinkern der Fluggäste registrieren und darauf hin prüfen, ob es potenziell gefährdet ist (Lipschutz 2008). Auch die installierten Nacktscanner belegen, dass die Suche nach absoluter Transparenz in seiner Konsequenz dazu tendiert, menschliche Körper zu durchleuchten.

Derartige Praktiken lassen nun darauf schließen, dass der demokratische Vorstellungsraum einer stillen Transformation unterliegt, die nicht nur auf seine Vervollständigung abzielt, sondern ganz im Gegenteil auch auf die Privilegierung anti-demokratischer Routinen hinausläuft. Es mag soziale Bereiche geben, in denen mehr Transparenz zweifellos zu mehr Demokratie führt. Es gibt aber auch Lebensbereiche, die eine gegenläufige Tendenz erkennen lassen und für das demokratische Regieren normative Spannungen zulasten bürgerlicher Grundrechte erzeugen. So war etwa bisher kaum vorstellbar, dass eine Norm wie das Folterverbot ernsthaft hinterfragt werden könnte oder rechtsfreie Räume wie in Guantanamo entstehen. Mit der zunehmenden Besiedlung der politischen Sprache mit Helden- und Schurken-Figuren und der verstärkten Verhandlung existenzieller Probleme aber kann der Wunsch zur Sichtbarmachung geheimen Wissens den Einsatz demokratisch höchst fragwürdiger Transparenzpraktiken legitimieren. Die Rechtfertigungen militärischer Eliten und des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld im Zuge des Folterskandals von Abu Ghraib gründen letztlich auf der Hoffnung, dass im Kriegszustand nur ein uneingeschränkter Handlungsspielraum und eine nahezu totalitäre Kontrolle der Verantwortlichen dafür sorgen könne, die Nation langfristig zu schützen. Auf der Kehrseite dieser Hoffnung stehen die Bilder der gefolterten Häftlinge als Ausdruck und Spiegelbild einer paranoiden Verdachtsdrohung, die in einem totalitär gewordenen Verlangen nach Transparenz verlaufen ist und von empörten Kritikern der Bush-Administration als Widerspruch zur eigenen Verfassung interpretiert wird. Dennoch verbleiben solche transparenzpolitischen Kontroversen häufig in einer moralischen Uneindeutigkeit, da sich sowohl der übersteigerte technokratische Wunsch nach sicherheitspolitischer Effizienz und Kontrolle als auch der kritische Widerspruch gleichermaßen auf demokratische Verfassungsgrundsätze berufen können und damit nicht aufzulösende normative Umstrittenheit entstehen (Gadinger 2016).

4 Ausblick

Das Ziel des Beitrages bestand darin, die sich im Medium des Transparenzbegriffs vollziehenden Transformation des Politischen anhand aktueller Beispiele aus der Sicherheitspolitik anzudeuten. Der Beitrag hat sich damit zwar auf die Schattenseiten des Transparenztraumes beschränkt. Aber hier deutet sich schon an, dass ein Studium von Transparenzkonflikten die Politikwissenschaft auf die Spur grundlegender Entwicklungslinien bringen kann. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf ihre institutionellen Vorgänge, sondern auch für ihre imaginäre Konstitution, die unter den Prämissen der Transparenzvorgabe immer stärker zur Legitimierung technokratischer Optionen tendiert. Wir schlagen hier eine Narrativanalyse vor (Gadinger/Jarzebski/Yildiz 2014), weil sie uns besonders dafür geeignet scheint, jene sprachlichen Bindungsprozesse offenzulegen, die sich in dieser liminalen Zone normativer und moralischer Unschärfe bilden – also dort, wo das Festhalten an geteilten Normen und Interessen die Rat- und Sprachlosigkeit der Akteure steigert und wo es im Kern darum geht, das Uneingestandene, Geheimste oder Unsagbare „ans Licht zu holen“ (Vogl 2011, S. 15 f.). Allerdings ist die Thematik weitaus breiter, in ihrer Anlage geradezu inter- oder transdisziplinär, als dass sie auf eine methodische Perspektive allein beschränkt werden könnte. Der Transparenzbegriff kann dabei als analytische Klammer dienen, um eine Reihe für die Postmoderne charakteristischer Probleme wissenschaftlich zu adressieren. Es kommt hier allerdings darauf an, den Bedeutungszuwachs des Transparenzbegriffs nicht nur in unterschiedlichen Feldern nachzuspüren, sondern die darin wirksamen Praktiken zu rekonstruieren, die Anlass für teilweise radikalkritische Gesellschaftsdiagnosen liefern. Denn Transparenz wird nicht selten radikal adressiert, die Adressaten aber reagieren ebenso oft mit radikaler Ablehnung. Bürger befürchten „gläsern“ zu werden (also brüchig und in ihren Existenzen prekär). Und der Staat reagiert entblößt, wenn er mit allzu starken Transparenzvorgaben konfrontiert wird und Einblick in seine tiefsten Geheimnisse bieten soll. Mehr noch: Er fühlt sich an der Erfüllung seiner existenziellen Aufgaben verhindert. Und eben das macht die Enthüllung als eine Praktik der Transparenzierung zu einem politischen Phänomen sui generis.