1 Einleitung

Mittlerweile vergeht kaum eine Wahlperiode des Deutschen Bundestages, in der niemand das sogenannte Familienwahlrecht auf die Agenda bringt. Die prominenteste Vertreterin in der 18. Wahlperiode ist die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig. „Kinder sollten eine stärkere Stimme in der Politik haben. Deshalb finde ich persönlich die Idee eines Familienwahlrechts gut […]“, sagte sie im November 2014 der Rhein-Neckar-Zeitung (zit. in Buchsteiner 2014). Dass der Vorschlag auch in Schwesigs eigener Partei – wie sie selbst feststellte (vgl. ebd.) – kontrovers diskutiert wird, beweist unter anderem die Stellungnahme der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Jusos in der SPD, Charlotte Rosa Dick: „Wer daran Interesse hat, der Stimme der Jungend [sic] ein stärkeres Gewicht zu geben, sollte[,] statt ein Familienwahlrecht zu fordern[,] den Schwerpunkt auf eine Senkung des Wahlalters […] legen“, schrieb sie im Juso-Blog „Morgen links leben“ (Dick 2014).

Die Idee des Familienwahlrechts wird bereits seit geraumer Zeit propagiert – von höchst unterschiedlichen Vertretern, mit höchst unterschiedlichen Zielsetzungen und höchst unterschiedlichen Argumenten (vgl. Westle 2006, S. 98 f.). Dabei wird zum Teil sogar argumentiert, dass die Einführung des Familienwahlrechts „den Erhalt unserer Demokratie“ (Peschel-Gutzeit 1999, S. 556) oder gar die Realisierung „einer Demokratie im strengen Sinne des Wortes“ (Steffani 1999b, S. 790) bedeute. Andererseits könnte gerade das demokratische Prinzip der Einführung des Familienwahlrechts entgegenstehen. Der vorliegende Beitrag diskutiert unterschiedliche Modelle des Familienwahlrechts vor dem Hintergrund der Wahl zum Deutschen Bundestag. Dabei geht er der Frage nach, inwiefern diese (verfassungs)rechtlich möglich und (verfassungs)politisch sinnvoll sind.

2 (Verfassungs-)Rechtliche Grundlagen

2.1 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl

Der in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankerte Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl bedeutet, rechtsdogmatisch betrachtet, „einen Unterfall der Wahlrechtsgleichheit“ (Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 90), und, rechtshistorisch betrachtet, ein Instrument „gegen Beschränkungen des Wahlrechts, die an spezifische, in der Person liegende Eigenschaften“ anknüpfen (ebd., Rn. 88). Das heißt im Kern, dass niemand, zum Beispiel aufgrund seines Geschlechts, seiner Religion oder seines Vermögens, von der Wahl ausgeschlossen werden darf (vgl. auch Lang 2013, S. 134 f.). Doch ist unter dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht zu verstehen, dass prinzipiell alle, etwa in Deutschland lebende bzw. sich gewöhnlich aufhaltende Personen, wählen dürfen, sondern „dass grundsätzlich alle Staatsbürger im wahlfähigen Alter wählen dürfen“ (Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 88; vgl. Strelen 2013, S. 324).

Dass nur allen Staatsbürgern, das heißt allen Deutschen (gemäß Art. 116 Abs. 1 GG), das Wahlrecht zusteht, bedeutet keine Einschränkung, sondern eine notwendige Konkretisierung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl (vgl. Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 96; anderer Ansicht Magiera 2014, Art. 38 GG, Rn. 81), zumal dieser – isoliert betrachtet – nicht hinreichend bestimmt ist. Der Grundsatz, dass alle wählen dürfen, sagt immerhin nichts darüber aus, worauf sich „alle“ bezieht bzw. wer zu „allen“ gehört. Schließlich entfaltet der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl „seine Wirkung […] auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 2 GG“ (Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 96). In Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG ist geregelt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht – und damit das deutsche Staatsvolk Träger der deutschen Staatsgewalt ist (vgl. ebd.). In der Folge kann es in Deutschland durchaus „taxation without representation“ und auch „representation without taxation“ geben (vgl. Wernsmann 2005, S. 63). Allein durch die Anbindung des Wahlrechts an die deutsche Staatsbürgerschaft waren Ende 2013 8,7 Prozent der in Deutschland lebenden Gesamtbevölkerung – konkret: 7.011.811 in Deutschland lebende nicht-deutsche Staatsbürger – bei Bundestagswahlen prinzipiell nicht wahlberechtigt.Footnote 1

Dass nur allen Staatsbürgern im wahlfähigen Alter das Wahlrecht zusteht, lässt sich ebenfalls als notwendige Konkretisierung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl begreifenFootnote 2, zumal das Wahlrecht in gewissen Altersstufen, etwa als Säugling oder Kleinkind, nicht ausgeübt werden kann und bestimmte persönliche Mindestvoraussetzungen für eine hinreichende politische Willensbildung und Entscheidung vorhanden sein müssen (vgl. Strelen 2013, S. 326; Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 138; Lang 2013, S. 135). Dazu zählen die Verstandes- bzw. Lebensreife und das Verantwortungsbewusstsein im Allgemeinen sowie die politische Einsichts- bzw. Diskurs- und Urteilsfähigkeit im Speziellen (vgl. Strelen 2013, S. 336; Mußgnug 1997, S. 173). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Fähigkeiten in seinem Beschluss vom 4. Juli 2012 (2 BvC 1/11, 2 BvC 2/11, Rn. 41) mit der Möglichkeit der – aktiven oder auch nur passiven (vgl. Wernsmann 2005, S. 48) – „Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen“ umschrieben, welche sich sowohl auf den permanenten politischen Prozess als auch auf die konkrete individuelle Stimmabgabe bezieht (vgl. Lang 2013, S. 135). Danach könne „[e]in Ausschluss vom aktiven Wahlrecht […] verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht“ (BVerfG, 2 BvC 1/11, 2 BvC 2/11 vom 4.7.2012, Rn. 41), und sei es „von jeher als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, dass die Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters geknüpft wird“ (ebd., Rn. 11). Dies erfolgt in Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG, wonach deutsche Staatsbürger bis zur Bundestagswahl 1969 mit der Vollendung des 21. Lebensjahres wahlberechtigt waren und seit der Bundestagswahl 1972 mit der Vollendung des 18. Lebensjahres wahlberechtigt sind (vgl. Strelen 2013, S. 334 f.). Schließlich ist Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG eine „verfassungsunmittelbare Schranke des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl“ (Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 95) bzw. lex specialis zu Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sowie Art. 20 Abs. 2 GG (vgl. Wernsmann 2005, S. 45). Durch die Anbindung des Wahlrechts an die Vollendung des 18. Lebensjahres waren Ende 2013 16,6 Prozent der in Deutschland lebenden Deutschen – konkret: 12.234.255 in Deutschland lebende deutsche Staatsbürger unter 18 Jahren – bei Bundestagswahlen prinzipiell nicht wahlberechtigt.Footnote 3

2.2 Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG

Die Frage, ob eine Wahlrechtsreform durch eine Änderung der Verfassung eingeführt werden kann, lenkt den Blick auf die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, nach dem eine Grundgesetzänderung unzulässig ist, „durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“. In diesem Zusammenhang kommt es im Wesentlichen darauf an, inwiefern das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegte Demokratieprinzip berührt wird – und damit auch, was das Demokratieprinzip umfasst und was „berühren“ bedeutet.

Folgt man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ist Art. 79 Abs. 3 GG „eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift“ (Wernsmann 2005, S. 50; Schreiber 2004, S. 1346). Erstmals beschäftigt hat sich das Bundesverfassungsgericht damit im Rahmen seines „Abhör-Urteils“ (vgl. Rupprecht 2012, S. 66) vom 15. Dezember 1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69). Darin stellte es fest, dass Art. 79 Abs. 3 GG nur „eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze“ verbiete und auch nicht verhindere, „durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren“ (ebd., LS 5). Schließlich bestehe der Sinn von Art. 79 Abs. 3 GG darin, „zu verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes missbraucht werden kann“ (ebd., Rn. 99). Die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze würden „‚als Grundsätze‘ von vornherein nicht ‚berührt‘, wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden“ (ebd.). Damit sei die Bedeutung der Formel „nicht berühren“ nicht strikter als die Bedeutung der in Art. 19 Abs. 2 GG niedergelegten Formel „in seinem Wesensgehalt antasten“ (ebd.). Daraus lässt sich schließen, dass das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG nur dann „berührt“ würde, „wenn dieses nach der Verfassungsänderung ausgehöhlt wäre und die Wahlen zum Bundestag fortan den Namen ‚demokratisch‘ nicht mehr verdienen würden“ (Wernsmann 2005, S. 53).

Dieser Ansicht zufolge umfasst die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG etwa die Grundsätze der Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit der Wahl – nicht jedoch den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl.Footnote 4 Schließlich ließe sich eine Wahl, bei der zwischen Wählern und Gewählten eine Instanz als Wahlmännergremium fungiert und sich die Gewählten ausschließlich auf eine mittelbare Legitimation stützen, immer noch als demokratisch bezeichnen (vgl. Wernsmann 2005, S. 54). In diesem Zusammenhang auf die Wahl des US-Präsidenten zu verweisen (vgl. z. B. Wernsmann 2005, S. 54; Rupprecht 2012, S. 135), ist jedoch nicht unproblematisch. Zum einen handelt es sich dabei nicht um die Wahl des Parlaments, die in den USA sogar für beide Parlamentskammern direkt erfolgt, sondern um die Wahl des Staats- und Regierungschefs, die bspw. auch in Deutschland mittelbar erfolgt. Zum anderen erfolgt die Wahl des US-Präsidenten zwar durch Wahlmänner, doch ist diese Wahl – von den Verzerrungen, die etwa durch die Verteilung der Wahlmännerstimmen auf die Staaten und das dominierende „Winner-takes-it-all-Prinzip“ entstehen, abgesehen – im Wesentlichen eine „Quasi-Direktwahl“. Schließlich werden bei US-Präsidentschaftswahlen sogenannte „slates of electors“ eines Präsidentschaftsbewerbers und seines „running mate“ und damit de facto ein Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidat sowie de jure deren Wahlmänner gewählt (vgl. Kimberling 2015, S. 6). Letztere treten auf dem Stimmzettel namentlich meist gar nicht in Erscheinung, werden im Vorfeld parteipolitisch ausgewählt und stimmen am Ende – obwohl sie nur in sehr wenigen Staaten gesetzlich verpflichtet sind, für „ihre“ Kandidaten zu stimmen, und zugleich bei abweichendem Verhalten mit einer Strafe rechnen müssen – in aller Regel „parteitreu“ ab (vgl. ebd., S. 6 f.). So ist es in der Vergangenheit auch nur äußerst selten zu einem abweichenden Verhalten gekommen (vgl. ebd.). Infolgedessen handelt es sich bei der Wahl des US-Präsidenten grundsätzlich nicht um ein Wahlverfahren, bei dem „zwischen Wähler und Wahlbewerber nach der Wahlhandlung eine Instanz eingeschaltet ist, die nach ihrem Ermessen den Vertreter auswählt“Footnote 5, welches durch den Grundsatz der Unmittelbarkeit in Deutschland ausgeschlossen wäre.

Unabhängig davon wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seines Urteils vom 15. Dezember 1970 „berühren“ sehr restriktiv ausgelegt (vgl. Rupprecht 2012, S. 66) und die Grenze für den Wirkungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG nicht nur sehr eng, sondern so eng wie überhaupt möglich gezogen hat. Schließlich würde eine noch enger gezogene Grenze den Regelungsgehalt von Art. 79 Abs. 3 GG gänzlich aushöhlen. Vor diesem Hintergrund wurde das Urteil zum Teil deutlich kritisiert (vgl. ebd., S. 66 ff. mit weiteren Nachweisen) und haben drei Richter eine abweichende Meinung zum Urteil formuliert. Darin wird darauf hingewiesen, dass die Ausnahmevorschrift gemäß Art. 79 Abs. 3 GG „nicht extensiv ausgelegt werden“ dürfe, aber die Bedeutung der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG völlig verkannt werde, „wenn man ihren Sinn vornehmlich darin sehen wollte, zu verhindern, dass der formallegalistische Weg eines verfassungsändernden Gesetzes zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes missbraucht“ werde (BVerfG, 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 vom 15.12.1970, abweichende Meinung, Rn. 139). Schließlich sei der vom Grundgesetzgeber gewählte Begriff „berühren“ substanziell enger als „prinzipiell preisgeben“, „in seinem Wesensgehalt antasten“ oder „vollständig aufheben“ (ebd., Rn. 145): „Das Wort ‚berührt‘ besagt weniger […]. Die konstituierenden Elemente sollen ‚unberührt‘ bleiben. Sie sollen auch vor dem allmählichen Zerfallsprozess geschützt werden, der sich entwickeln könnte, wenn den Grundsätzen nur ‚im allgemeinen Rechnung getragen‘ werden müsste“ (ebd., Rn. 145). Zu Recht wird in der abweichenden Meinung wie auch in der Literatur darauf hingewiesen, dass Art. 79 Abs. 3 GG nicht nur vor der Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates, sondern auch vor dessen stückweiser Aushöhlung schützen soll (vgl. Rupprecht 2012, S. 67 f. mit weiteren Nachweisen).

In späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht nicht mehr von der „prinzipiellen Preisgabe“, sondern nur noch vom „Berühren“ der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Grundsätze gesprochen, aber weiterhin darauf hingewiesen, dass die jeweiligen Grundsätze durch Verfassungsänderung aus sachgerechten Gründen modifiziert werden können (vgl. Rupprecht 2012, S. 68 f.). Im Rahmen seines „Lissabon-Urteils“ vom 30. Juni 2009 (2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, Rn. 211) stellte es allerdings fest, dass „die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG […] sowie die für die Achtung der Menschwürde unentbehrliche Substanz elementarer Grundrechte in ihrer prinzipiellen Qualität jeder Änderung entzogen“ seien. Vor dem Hintergrund scheint das Bundesverfassungsgericht ein Stück weit von seiner äußerst restriktiven Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG abgerückt zu sein (vgl. Rupprecht 2012, S. 70).

Letztlich darf die Auslegung von Art. 79 Abs. 3 GG weder zu eng noch zu extensiv erfolgen und muss ein möglicher Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG „anhand einer stark am Einzelfall orientierten Prüfung ermittelt werden“ (ebd., S. 70). Dabei ist entscheidend, ob die Grundsubstanz der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Grundsätze betroffen ist (vgl. ebd., S. 72 f.).

3 Modelle des Familienwahlrechts

Das Familienwahlrecht wurde in den 1970er-Jahren erstmals in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht (vgl. Löw 1974) und wird seither in verschiedenen Schattierungen diskutiert (vgl. Schreiber 2004, S. 1342). Die unterschiedlichen Vorschläge haben gemeinsam, dass sie sich weniger damit beschäftigen, ab wann ein Staatsbürger (typischerweise) die notwendige Reife hat, um an Wahlen teilzunehmen, sondern vielmehr damit, wer bis zu diesem Zeitpunkt an seiner Stelle zur Wahl geht. Zwei Modelle standen in der bisherigen Diskussion im Mittelpunkt: das (originäre) Elternwahlrecht (EWR) und das Stellvertreterwahlrecht (SWR).Footnote 6

Während beim SWR Staatsbürgern unterhalb der (wo auch immer liegenden bzw. wie auch immer definierten) Wahlaltersgrenze das Wahlrecht zugesprochen, dieses aber von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten bis zum Erreichen dieser Wahlaltersgrenze treuhänderisch ausgeübt wird (also Erstere als Wahlrechtsinhaber und Letztere als Wahlrechtsausübende fungieren), erhalten beim EWR die Eltern von Staatsbürgern unterhalb der Wahlaltersgrenze entsprechend deren Anzahl zusätzliche eigene Stimmen zugesprochen (vgl. Schreiber 2004, S. 1341 f.). Der Unterschied zwischen beiden Modellen ist nur auf den zweiten Blick erkenn- und letztlich auch nur theoretisch begründbar. Schließlich haben die Eltern in beiden Fällen ein um die Anzahl ihrer Kinder unterhalb der Wahlaltersgrenze erweitertes Stimmenkontingent (wobei das Wahlrecht eines Kindes natürlich nur einmal ausgeübt werden kann). Während die Staatsbürger unterhalb der Wahlaltersgrenze im SWR allerdings grundsätzlich zum Kreis der Wahlberechtigten zählen, fungieren sie im EWR gewissermaßen nur als Berechnungsgrundlage für die Stimmenzahl ihrer Eltern.

Das SWR ist in zwei Varianten denkbar: mit fixem Wahlalter und mit variablem Wahlalter. Während bei Ersterem das Wahlrecht bis zum Erreichen eines festgelegten Wahlalters treuhänderisch ausgeübt wird, erfolgt bei Letzterem die treuhänderische Ausübung des Wahlrechts bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Wahlrechtsinhaber selbst für entscheidungsfähig hält.

Parlamentarisch wurde das Familienwahlrecht in Deutschland erstmals in der 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages in der Form des SWR (mit fixem Wahlalter) substanziell diskutiert, als ein – nicht erfolgreicher – Antrag mit dem Titel „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“ von Mitgliedern aller damals im Bundestag vertretenen Fraktionen eingebracht wurde (BT-Drs. 15/1544). Danach sollte der Bundestag die Bundesregierung auffordern, „einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Wahlrechts ab Geburt […] vorzulegen“ und dies so auszugestalten, „dass die Kinder zwar Inhaber des Wahlrechtes werden, dieses aber treuhänderisch von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten als den gesetzlichen Vertretern ausgeübt wird“ (ebd., S. 2). Ein mit Blick auf die Kernforderung identischer – ebenfalls nicht erfolgreicher – interfraktioneller (von Abgeordneten der CDU/CSU, SPD und FDP mitgetragener) Antrag wurde in der darauffolgenden Wahlperiode mit dem Titel „Der Zukunft eine Stimme geben – Für ein Wahlrecht von Geburt an“ eingebracht (BT-Drs. 16/9868). Danach sollte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung ebenfalls auffordern, „einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Wahlrechts von Geburt an […] vorzulegen“ (ebd., S. 4). Zur näheren Ausgestaltung wurden zwei konkrete Varianten vorgeschlagen: „eine Regelung, dass die Kinder zwar Inhaber des Wahlrechts sind, dieses aber treuhänderisch von den Eltern oder Sorgeberechtigten ausgeübt wird oder eine Kombination zwischen Stellvertreterausübung und eigener Ausübung des Wahlrechts“ (ebd.). Für den zuletzt genannten Fall wurde „eine gleitende Regelung“ angeregt, wonach sich „junge Menschen, sobald sie selbst sich für beurteilungsfähig halten, das Recht erhalten, sich in eine Wahlliste eintragen zu lassen“ (ebd.). Folglich wurde das Modell des SWR sowohl in der Variante mit fixem als auch in der Variante mit variablem Wahlalter in die Diskussion eingebracht.

3.1 (Verfassungs-)Rechtliche Bedenken gegen das Elternwahlrecht

Eine einfachgesetzliche Einführung des EWR würde (de constitutione lata) gegen den in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankerten Grundsatz der Gleichheit der Wahl (GdGdW) – konkret: gegen die Zählerwertgleichheit bzw. das Prinzip „one man one vote“ – verstoßen.Footnote 7 Schließlich ist das EWR eine besondere Form des PluralwahlrechtsFootnote 8 – da es im Kern darauf abzielt, „Kindersegen als Beitrag zum Allgemeinwohl mit Wahlstimmen [zu] prämieren“ (Westle 2006, S. 104).

Bei einem Pluralwahlrecht handelt es sich um ein Wahlrecht, das bestimmten Staatsbürgern mehr Stimmen zuweist als anderen. Einer der bedeutsamsten klassischen Vertreter des Pluralwahlrechts ist John Stuart Mill. Da seiner Ansicht nach die Repräsentativregierung „ihrer natürlichen Tendenz nach der Gesamtmittelmäßigkeit“ zustrebe (Mill 1968, S. 106), erschien es ihm unter anderem geboten, besonders befähigten Wählern ein größeres Stimmengewicht zu verleihen: „Es kann nicht nützen, sondern nur schaden, wenn die Verfassung des Landes der Unwissenheit dasselbe Recht auf politische Bedeutung zugesteht wie der Kenntnis“ (ebd., S. 133). Deshalb solle sich die Vergabe der Stimmen nach der individuellen geistigen Überlegenheit richten, die sich über die Beschäftigung der Menschen ermitteln lasse (vgl. ebd., S. 129). So sei es angemessen, Personen, die „höheren Beschäftigungen“ nachgehen, und vor allem Personen, die wahrhaft „gelehrte Berufsarten“ ausüben, mehrere Stimmen zuzuweisen (vgl. ebd.). Der Vorschlag Mills zielt also darauf ab, den Gebildeten über die stärkere Gewichtung ihrer Stimmen einen größeren Einfluss auf die Politikgestaltung einzuräumen.

Dass das Pluralwahlrecht keineswegs nur in theoretischen Überlegungen existierte, sondern auch praktiziert wurde, belegt das Wahlrecht in einigen Bundesstaaten des Deutschen Kaiserreichs. Der erste Bundesstaat, der das Pluralwahlrecht im Jahre 1909 einführte, war das Königreich Sachsen. Danach hatte jeder Wahlberechtigte prinzipiell eine Stimme sowie in Abhängigkeit von verschiedenen Kriterien bis zu drei weitere Stimmen. Dazu zählten – unter anderem neben dem Einkommen (sowie der Herkunft des Einkommens), dem Grundbesitz und dem Alter – auch die wissenschaftliche Bildung sowie die wissenschaftliche (bzw. höhere künstlerische) Tätigkeit (vgl. Böttger 1919, S. 31 ff.). Darüber hinaus ist das Pluralwahlrecht 1909 in Oldenburg, 1911 in Hessen sowie 1913 in Reuß jüngere Linie eingeführt worden (vgl. ebd., S. 33).

Das EWR sieht zwar keine Zuweisung zusätzlicher Stimmen nach den oben genannten Kriterien, sondern in Abhängigkeit der Zahl der Kinder unterhalb der Wahlaltersgrenze vor, ist aber ebenfalls ein Pluralwahlrecht – und verstößt damit gegen den GdGdW. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt, dass der GdGdW keinem absoluten Differenzierungsverbot unterliege, allerdings auch deutlich gemacht, dass Differenzierungen der Rechtfertigung bedürften – und nur durch Gründe gerechtfertigt werden könnten, „die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Gleichheit der Wahl sind“ (BVerfG, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11 vom 25.7.2012, Rn. 62). Differenzierungen sind folglich „nicht gänzlich untersagt“ (Lang 2013, S. 135). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 (BVerfGE, 2 BvH 1/52, Rn. 123) deutlich gemacht, dass es „gar keine Wertungen geben kann, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren“. In seinem Urteil vom 29. September 1990 (2 BvE 1, 3, 4/90, 2 BvR 1247/90, Rn. 47) hat es wiederholt, dass „eine Differenzierung des Zählwertes […] ausgeschlossen“ sei – also Differenzierungen prinzipiell nur im Bereich der Erfolgswertgleichheit verfassungsrechtlich möglich seien. Diese Sichtweise ist absolut nachvollziehbar und begründet, zumal Abweichungen von der Erfolgswertgleichheit innerhalb eines bestimmten Rahmens unvermeidbar sind und die Herstellung größtmöglicher Erfolgswertgleichheit nur durch ein reines Verhältniswahlsystem – unter Inkaufnahme einer Beeinträchtigung der parlamentarischen Funktionsfähigkeit – realisierbar wäre. Vor diesem Hintergrund erscheinen Differenzierungen im Bereich der Erfolgswertgleichheit auch im Rahmen der Verhältniswahl vertretbar. Abweichungen von der Zählwertgleichheit sind hingegen prinzipiell weder unvermeidbar noch hinnehmbar, zumal das Prinzip „one man one vote“ einen elementaren Bestandteil bzw. eine wesentliche Ausprägung oder Konkretisierung des Demokratieprinzips bildet.Footnote 9

Aus diesem Grunde wäre auch eine Einführung des EWR durch Verfassungsänderung unzulässig, zumal dieses – selbst wenn man die Grenzen für den Wirkungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG enger zieht – „einen substantiellen und so schwer wiegenden Eingriff dar[stellt], dass von einer Aushöhlung des Wesensgehalts des Gleichheitsprinzips in einem zentralen Punkt gesprochen werden kann“ (Schreiber 2004, S. 1347). Folglich würde es gegen den GdGdW verstoßen und dabei den Kern des in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten und durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Demokratieprinzips berühren.Footnote 10

3.2 (Verfassungs-)Rechtliche Bedenken gegen das Stellvertreterwahlrecht

3.2.1 Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG

Eine einfachgesetzliche Einführung des SWR würde offensichtlich gegen die in Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG festgelegte Wahlaltersgrenze verstoßen. Dies wird mit dem Argument, dass sich Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG nur auf die Wahlrechtsausübung beziehe, während das Wahlrecht jedem Staatsbürger ab Geburt zustehe, bisweilen verneint (vgl. z. B. Knödler 1996, S. 564). Die – in Anspielung auf die bei verschiedenen (anderen) Grundrechten praktizierte Differenzierung zwischen Grundrechtsfähigkeit und Grundrechtsausübungsfähigkeit bzw. -mündigkeit erfolgende – Differenzierung zwischen Wahlrechtsinhaberschaft und -ausübung ist mit Blick auf Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG jedoch nicht haltbar, selbst wenn man das Wahlrecht als „politisches Grundrecht“ (BVerfG, 2 BvH 1/52 vom 5.4.1952, Rn. 106) betrachtet. Zum einen ist die Wahlrechtsfähigkeit ebenso wenig eine spezielle Erscheinungsform der „mit der Vollendung der Geburt“ beginnenden allgemeinen Rechtsfähigkeit (§ 1 BGB) wie ein Menschenrecht bzw. ein „überpositives, vorstaatliches Recht, sondern ein vom Staat gewährtes Recht, ein Bürgerrecht“ (Schreiber 2004, S. 1345; anderer Ansicht etwa Knödler 1996, S. 563). Damit ist es folgerichtig, das Wahlrecht – wie die Volljährigkeit, Strafmündigkeit und Geschäftsfähigkeit (vgl. Schreiber 2004, S. 1345) – von der menschlichen Entwicklung abhängig zu machen. Zum anderen stellt Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG expressis verbis eindeutig auf die Wahlberechtigung – also auf das Wahlrecht und nicht das Wahlausübungsrecht – ab (vgl. auch Schroeder 2003, S. 919; Rupprecht 2012, S. 57, 183).

Aufgrund der Festlegung der Wahlaltersgrenze in Art. 38 Abs. 2 S. 1 HS. 1 GG wäre eine Einführung des SWR folglich allenfalls durch Verfassungsänderung möglich (vgl. u. a. auch ebd., S. 201; Maurer 2010, § 13, Rn. 6).

3.2.2 Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl

Mit Blick auf den GdGdW lässt sich das SWR nicht grundlegend anders bewerten als das EWR – sowohl hinsichtlich einer einfachgesetzlichen EinführungFootnote 11 als auch hinsichtlich einer Einführung durch VerfassungsänderungFootnote 12.

Ob Eltern die zusätzlichen Stimmen als eigene Stimmen oder treuhänderisch abgeben, macht mit Blick auf die faktische Auswirkung keinen Unterschied (vgl. Wernsmann 2005, S. 55). In beiden Fällen haben sie mehr Stimmen zur Verfügung als kinderlose Wähler und das Recht, diese nach eigenem Ermessen abzugeben – zumal die Frage, inwiefern im Rahmen des SWR die Stimmabgabe zugunsten oder im Interesse der Wahlrechtsinhaber erfolgt, nicht kontrolliert wird und auch gar nicht kontrolliert werden kannFootnote 13. Damit ist das SWR faktisch ebenfalls ein Pluralwahlrecht, wenn auch ein verkapptes bzw. verdecktes (vgl. Schreiber 2004, S. 1343).

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist, dass Eltern andere Interessen als ihre Kinder haben, der Abgabe ihrer Stimme und der ihrer Kinder keine separaten politischen Willensbildungsprozesse zugrunde legen würden und infolgedessen ihre Stimmen grundsätzlich nicht splitten, sondern im Block abgeben würden (vgl. Wernsmann 2005, S. 66) – und zwar für die von ihnen präferierte Partei bzw. den von ihnen präferierten Kandidaten (vgl. Schroeder 2003, S. 922). Eine – von Reimer (2004, S. 339) vorgeschlagene – Ausgestaltung des SWR dahingehend, „dass jede/r Personensorgeberechtigte die Wahlentscheidung für das unterstellte Kind von der eigenen Wahlentscheidung unterscheiden, das heißt prozedural und inhaltlich abschichten muss“, um nicht eine Wahlentscheidung mit mehrfachem Zählwert, sondern „mehrere Wahlentscheidungen mit je einfachem Zählwert“ zu treffen, entspricht wohl kaum einer – von ihm selbst (ebd., S. 337) eingeforderten – „realitätsorientierten Betrachtung“. So dürfte etwa die Regelung, dass Eltern für jede Stimme, die sie stellvertretend abgeben, die Wahlzelle gesondert zu betreten haben, nicht ernsthaft – wie etwa Meixner (2013, S. 421 ff.) meint – dazu führen, dass sie einmal in ihrem Interesse und einmal im Interesse ihrer Kinder wählen. Selbst wenn Eltern gewillt wären, der Abgabe ihrer Stimmen und der Abgabe der Stimmen ihrer Kinder einen separaten politischen Willensbildungsprozess zugrunde zu legen, wäre dies letztlich nicht realisierbar, zumal „[e]ine völlige volitive und kognitive Trennung der Wahlentscheidung […] illusorisch“ ist (Reimer 2004, S. 335). Noch unwahrscheinlicher erscheint indessen, dass Eltern mit mehr als einer Stellvertreter-Stimme der Abgabe dieser Stimmen unterschiedliche politische Willensbildungsprozesse zugrunde legen, weshalb Reimer (2004, S. 336) in Erwägung zieht, „das Wahlausübungsrecht auch bei übersteigender Kinderzahl auf je eine Stimme für jeden Personenberechtigten zu begrenzen“.

Eine – bisweilen geforderte (vgl. z. B. BT-Drs. 15/1544: 4) – Besprechung der Wahlentscheidung der Eltern mit ihren Kindern bzw. Berücksichtigung der wachsenden Fähigkeit und des wachsenden Bedürfnisses der Kinder „zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln“ (ebd.) würde das „Stellvertreter-Problem“ nicht entschärfen, sondern den Grundsatz der geheimen Wahl berühren (vgl. Rupprecht 2012, S. 197). Überdies könnte eine derartige Besprechung bei Kindern mit geringem Alter und niedrigem politischem Interesse zu einer starken (partei)politischen Beeinflussung sowie bei Kindern mit höherem Alter und größerem politischen Interesse zu Spannungen und Kontroversen zwischen dem Wahlrechtsinhaber und seinem Treuhänder führen, weshalb Meixner (2013, S. 420 f.) und Schickhardt (2015, S. 223) vorschlagen, Kindern ab dem 14. Lebensjahr die Möglichkeit zu geben, Widerspruch gegen die Ausübung ihres Wahlrechts durch die Eltern einzulegen.

Schlussendlich hat der Innenausschuss des Deutschen Bundestages in seiner Beschlussempfehlung bzw. seinem Bericht zum Antrag „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“ (BT-Drs. 15/1544) zu Recht darauf hingewiesen, dass „weder erwartet […] noch kontrolliert werden [könne], dass die Wahlrechtsausübung tatsächlich im Interesse der Kinder erfolge“ (BT-Drs. 15/4788: 4). Dies entkernt jedoch gewissermaßen die Idee des SWR: „Handeln […] die Eltern […] als weisungsfreie Vertreter gemäß § 166 I BGB und kommt es folglich bei deren Ausübung des Wahlrechts auf die Vertretenen nicht an […], dann tendiert der Regelungsgehalt des ‚abgeleiteten‘ Elternwahlrechts aus dem Blickwinkel der minderjährigen und eigentlichen ‚Rechtsinhaber‘ gegen Null“ (Frankenberg 2004, S. 3). Im Endeffekt ist die Annahme, Eltern seien in der Lage, ein „Wahlverhalten-Splitting“ (was nicht unbedingt ein „Stimmen-Splitting“ bedeuten muss) zu betreiben, eine schwache Basis eines gewagten Versuchs, das EWR augenscheinlich in die Form des vermeintlich verfassungskonformen SWR zu gießen, das sich letztlich jedoch als verkapptes Pluralwahlrecht oder „maskiertes originäres Elternwahlrecht“ (ebd., S. 3) entpuppt.

An dieser Stelle ist natürlich nicht nachvollziehbar, warum nur ein im Rahmen des EWR ausgeübtes offensichtliches Pluralwahlrecht, nicht aber ein im Rahmen des SWR ausgeübtes verkapptes Pluralwahlrecht gegen den GdGdW verstoßen und dabei den Kern des in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten und durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Demokratieprinzips berühren sollte. Zu diesem Ergebnis kann man nur gelangen, indem man Wahlrechtsinhaberschaft und -ausübung „fiktiv überbrückt“ (ebd., S. 4) und für die Beurteilung des SWR unterschiedliche Maßstäbe bzw. Perspektiven zugrunde legt; konkret: indem man – wie von Rupprecht (2012, S. 168 ff.) vorgeschlagen – auf der einen Seite, bei der Beurteilung der Vereinbarkeit mit der Unmittelbarkeit der Wahl, der Freiheit der Wahl und der geheimen Wahl im Rahmen einer „faktischen Betrachtungsweise“ auf den Wahlrechtsausübenden abstellt, und auf der anderen Seite, nämlich bei der Beurteilung der Vereinbarkeit mit der Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl im Rahmen einer „rein formalen“ Betrachtungsweise auf den Wahlrechtsinhaber abstellt. Sich auf eine derart theoretisch konstruierte Betrachtung zurückzuziehen, die gewissermaßen den „Eigentümer“ vom „Besitzer“ des Wahlrechts unterscheidet und je nach Bedarf den einen oder den anderen in den Blick nimmt, ist jedoch unbefriedigend (vgl. auch: Reimer 2004, S. 334) und ungeeignet, um verfassungsrechtliche Einwände gegen das SWR zurückzuweisen. Stellt man hingegen nur auf den Wahlrechtsinhaber ab, scheitert die Einführung des SWR – an der Verfassungswidrigkeit des Wahlrechts von Geburt an (Schroeder 2003, S. 920 f.); stellt man indessen ausschließlich auf den Wahlrechtsausübenden ab, scheitert die Einführung des SWR ebenfalls – (unter anderem) an der Verfassungswidrigkeit des Pluralwahlrechts.

Eine – der faktischen Betrachtung folgende und auf den Wahlrechtsausübenden abstellende – Anerkennung der Durchbrechung des GdGdW durch das SWR und eine Rechtfertigung dieser Durchbrechung mit einer besseren Verwirklichung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl (vgl. Wernsmann 2005, S. 56 f.) ist letztlich ebenfalls nicht überzeugend. Zwar mag die Durchbrechung eines Wahlrechtsgrundsatzes grundsätzlich dadurch gerechtfertigt werden, dass ein anderer Wahlrechtsgrundsatz besser verwirklicht wird (vgl. ebd., S. 57), doch wird bei einer – durchgängig gebotenen – faktischen Betrachtung des SWR der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gerade nicht besser verwirklicht, zumal sich faktisch „nur die Zahl der abgegebenen Stimmen, nicht aber die Zahl der Wahlberechtigten“ erhöht (Frankenberg 2004, S. 4; vgl. auch Reimer 2004, S. 338).

Dass das SWR ein verkapptes Pluralwahlrecht ist, wird nicht nur mit Blick auf seine faktische Wirkung, sondern auch hinsichtlich seiner theoretischen Begründung deutlich; jedenfalls dann, wenn seine Einführung nicht mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl bzw. der „Annäherung des Wahlvolkes an das Staatsvolk“ (Reimer 2004, S. 323), sondern bspw. mit einer besseren Familienpolitik begründet wird, da hier nicht mehr die Vertretung des Kindes, sondern die Gewichtung der Familie(ninteresse)n in den Vordergrund rückt. So war der Antrag „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“ (BT-Drs. 15/1544: 1) ganz offensichtlich darauf ausgelegt, dass nicht nur den Kindern, sondern auch „den sie großziehenden Eltern“ – also den Familien – „ein ihrer Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft angemessener Stellenwert eingeräumt wird“. Gegen diese Zielsetzung ist im Rahmen der parlamentarischen Arbeit bzw. Regierungsarbeit nichts einzuwenden, wohl aber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts – ganz abgesehen von der Frage, ob Eltern tatsächlich anders wählen als Nicht-Eltern, das SWR bei Bundestagswahlen überhaupt zu signifikant anderen Ergebnissen führen würde (vgl. dazu Goerres und Tiemann 2009) und dies spürbare Auswirkungen auf die Politik hätte.

Davon auszugehen, dass die gesetzlichen Vertreter im Rahmen des SWR abstimmen würden, „wie dies dem Wohl und den Interessen ihres Treugebers, also des Kindes, entspricht“ (BT-Drs. 16/9868, S. 2), ist jedenfalls unrealistisch (vgl. Schreiber 2004, S. 1347); anzunehmen, dass durch das SWR Familieninteressen oder die „Interessen nachrückender Generationen“ (BT-Drs. 16/9868, S. 1) politisch besser berücksichtigt würden, ist gewagt (vgl. auch Frankenberg 2004, S. 4; Westle 2006, S. 103 f.); zu glauben, dass dadurch sogar die „Verlagerung von Lasten auf die nächste Generation“ (BT-Drs. 15/1544: 1) verhindert würde, ist weltfremd.

3.2.3 Höchstpersönlichkeit der Wahlentscheidung

Eine einfachgesetzliche Einführung des SWR würde (de constitutione lata) gegen die Höchstpersönlichkeit der Wahlentscheidung (HdW) verstoßen.Footnote 14 Diese ist „als striktes Verbot einer Differenzierung von Wahlrechtsinhaberschaft und Wahlrechtsausübung“ zu verstehen (Frankenberg 2004, S. 5), richtet sich, rechtshistorisch betrachtet, gegen den Stimmenkauf bzw. -verkauf (vgl. Rupprecht 2012, S. 180; Knödler 1996, S. 566) und fordert sowohl die Höchstpersönlichkeit der Wahlberechtigung als auch die Höchstpersönlichkeit der Wahlrechtsausübung (vgl. Hahlen 2013, S. 379). Ihr zufolge ist das subjektive Wahlrecht „unveräußerlich, nicht übertragbar und nicht verzichtbar“Footnote 15. Sie bedeutet also nicht, dass – wie etwa der von Meixner (2013, S. 419) vorgeschlagene Titel „höchstpersönliches Elternwahlrecht zugunsten des Kindes“ suggeriert – andere höchstpersönlich zugunsten des Wahlberechtigten wählen, sondern, dass der Wahlberechtigte höchstpersönlich wählt. Die HdW ist zwar ausdrücklich nur in § 14 Abs. 4 BWG – also einfachgesetzlich – verankert, genießt aber der ganz herrschenden Ansicht zufolge Verfassungsrang (vgl. auch Schroeder 2003, S. 919; Rupprecht 2012, S. 141), wobei keine Einigkeit darüber besteht, wo sie im Grundgesetz zu verorten ist (vgl. Rupprecht 2012, S. 142 ff.).

Häufig wird die HdW mit der Unmittelbarkeit der Wahl in Verbindung gebracht (vgl. ebd., S. 142) – politisch nicht zuletzt, um Einwände gegen die Stellvertreterwahl mit Einwänden gegen eine mittelbare Wahl gleichzusetzen und diese dadurch zu entkräften, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst wird (vgl. oben). Doch auch wenn sich die Stellvertreterwahl – mit Blick auf die vertretenen Wahlberechtigten – und die mittelbare Wahl grundsätzlich ähnlich sind (vgl. Wernsmann 2005, S. 52), sind sie im Kern zweifelsohne unterschiedlichFootnote 16: Die wesentliche Gemeinsamkeit liegt darin, dass die Wahlberechtigten bei der mittelbaren Wahl und die vertretenen Wahlberechtigten bei der Stellvertreterwahl die zur Wahl Stehenden nicht direkt wählen; der maßgebliche Unterschied besteht indessen in der Tatsache, dass die Wahlberechtigten bei der mittelbaren Wahl Elektoren wählen, die anschließend die zur Wahl Stehenden wählen, während die vertretenen Wahlberechtigten bei der Stellvertreterwahl überhaupt nicht wählen – auch nicht diejenigen, die an ihrer Stelle wählen. Während also die Elektoren bei der mittelbaren Wahl unmittelbar gewählt werden, werden die vertretenden Wahlrechtsausübenden bei der Stellvertreterwahl überhaupt nicht gewählt, sondern gesetzlich bestimmt. Dabei wird deutlich, dass die Stellvertreterwahl demokratietheoretisch eine andere Qualität hat als die mittelbare Wahl und infolgedessen auch die HdW demokratietheoretisch einen anderen Stellenwert genießt als die Unmittelbarkeit der Wahl.

Vor dem Hintergrund der funktionalen und demokratietheoretischen Unterschiede spricht wenig dafür, die HdW – wie zum Teil vorgeschlagenFootnote 17 – (zumindest partiell) dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl zu entnehmen. Generell erscheint es nicht sinnvoll, die HdW den in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG niedergelegten Wahlrechtsgrundsätzen zu entnehmen und ihr auf diesem (Um-)Wege Verfassungsrang zukommen zu lassen (vgl. Rupprecht 2012, S. 142 ff.). Indessen spricht viel dafür, die HdW als „Ausdruck, Ausprägung und Konkretisierung des Demokratieprinzips i. S. des Art. 20 Abs. 1 GG“ zu betrachten.Footnote 18 Zugleich „ist sie den Grundsätzen der Volkssouveränität und der Ausübung der Staatsgewalt in Wahlen gem. Art. 20 Abs. 2 GG immanent“ und infolgedessen „ungeschriebener Bestandteil dieser Verfassungsnormen und damit verfassungsrechtlicher Natur“ (Hahlen 2013, S. 379).

Der HdW kann dabei durchaus ein ähnlicher Stellenwert eingeräumt werden wie anderen unter die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG fallenden Bestandteilen des Demokratieprinzips (anderer Ansicht etwa Reimer 2004, S. 332), zumal sich die Wahlrechtsausübung „essentiell als Teilhabe an der Staatsgewalt, als ein Stück Ausübung von Staatsgewalt im status activus dar[stellt]“ (BVerfGE, 2 BvC 4/04 vom 15.1.2009, Rn. 12). So ist bspw. die Forderung, dass jede Stimme gleich viel zählt, nicht bedeutender als das Postulat, dass jeder Bürger seine Stimme selbst abgibt – und damit politisch ein selbst- und kein fremdbestimmtes Individuum bildet (vgl. auch Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 101; Nahrgang 2004, S. 43). Mit anderen Worten: Wenn der Wahlrechtsinhaber seine Stimme nicht selbst abgibt, wird „der Sinn des Wahlrechts als Teil der politischen Selbstbestimmung des Bürgers denaturiert“ (Pechstein 1991, S. 145). Vor diesem Hintergrund sind Abweichungen von der HdW ebenso wenig hinnehmbar wie Abweichungen von der Zählwertgleichheit. Wenn es „gar keine Wertungen geben kann, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren“ (BVerfGE, 2 BvH 1/52 vom 5.4.1952, Rn. 123), kann es auch keine Gründe geben, Ausnahmen von der HdW zuzulassen. Grundsätzlich muss gefragt werden, was eine allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl wert wäre, wenn die Wahlberechtigten nicht selbst ihre Stimmen abgeben könnten, bzw. ob eine Wahl noch demokratisch wäre, wenn dabei 16,6 Prozent – und damit etwa ein Sechstel – der Wahlberechtigten (vgl. oben) vertreten würden, nicht selbst entscheiden könnten, wer sie vertritt, und natürlich auch nicht überprüfen könnten, ob ihr Stellvertreter bei der Ausübung ihres Wahlrechts ihre Interessen berücksichtigt.

Dass die Frage, ob der Inhaber des Wahlrechts dieses auch selbst ausüben muss, „nicht im Visier des Verfassungsgebers war“ (Reimer 2004, S. 332), also nicht explizit im Grundgesetz beantwortet wird, liegt möglicherweise daran, dass das Zusammenfallen der Inhaberschaft und der Ausübung des Wahlrechts demokratietheoretisch selbstverständlich ist – zum Beispiel selbstverständlicher als dass die Wahl unmittelbar ist. Vor dem Hintergrund kann durchaus argumentiert werden, dass die HdW zum Wesen des demokratischen Wahlrechts zählt, das streng, das heißt ausnahmslos, einzuhalten ist (anderer Ansicht etwa ebd., S. 331), bzw. die Wahl prinzipiell ein „vertretungsfeindlicher Rechtsakt“ ist (Schreiber 2004, S. 1344).

Nicht überzeugen kann indessen die – von Rupprecht (2012, S. 212) vertretene – Position, der Grundsatz der HdW sei „nicht in all seinen Facetten Bestandteil des grundgesetzlichen Demokratieprinzips“; konkret: das Auseinanderfallen von Wahlrechtsinhaberschaft und -ausübung sei nicht Bestandteil des „über Art. 79 Abs. 3 GG einer Verfassungsänderung entzogenen Demokratieprinzip[s]“. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welche Facette der HdW unter das durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Demokratieprinzip fällt bzw. was wichtiger ist als die Trennung von Wahlrechtsinhaberschaft und -ausübung. Eine Auslegung dahingehend, dass nur der Stimmenkauf bzw. „eine gewillkürte Vertretung“ gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen (Rupprecht 2012, S. 212), greift definitiv zu kurz.

Ebenso wenig überzeugen kann das – politisch häufig vorgetragene (vgl. z. B. BT-Drs. 15/1544: 4; BT-Drs. 16/9868: 2) – Argument, die HdW werde bereits durch die Inanspruchnahme einer Hilfsperson aufgrund einer Leseschwäche bzw. einer körperlichen Beeinträchtigung im Wahllokal (§ 33 Abs. 2 BWG) oder im Rahmen der Briefwahl (§ 36 Abs. 2 BWG) durchbrochen (vgl. auch Wernsmann 2005, S. 52; Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 106). Schließlich besteht das Ziel der angesprochenen Assistenzsysteme darin, Wahlberechtigten zu helfen, ihre Wahlentscheidung abzugeben, und nicht darin, dass jemand an ihrer Stelle (s)eine Wahlentscheidung abgibt (vgl. ebd.). Somit bleibt die Stimmabgabe eine höchstpersönliche Wahlentscheidung des Wahlberechtigten (vgl. Hahlen 2013, S. 380) – und sind die existierenden Assistenzsysteme rein technische Hilfen, um diese Wahlentscheidung zu übermittelnFootnote 19. Dass es im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Assistenzsysteme, etwa durch das Personal in Alten- oder Pflegeheimen, zu einer widerrechtlichen Stellvertretung bei Wahlen kommt (vgl. z. B. Knödler 1996, S. 567), ist natürlich nicht gänzlich auszuschließen, jedoch definitiv nicht geeignet, eine rechtliche Stellvertretung bei der Wahlrechtsausübung für Staatsbürger unterhalb der Wahlaltersgrenze zu legitimieren (vgl. Rupprecht 2012, S. 179).

Nicht überzeugend ist auch der Ansatz Rupprechts (2012, S. 183), die Möglichkeit der Delegation von Stimmen bei Wahlen in anderen Ländern wie Großbritannien und Frankreich als Indiz dafür zu werten, dass die HdW bei demokratischen Wahlen nicht unbedingt erforderlich bzw. die Stellvertreterwahl mit deutschem Verfassungsrecht vereinbar ist (vgl. Schreiber 2004, S. 1344). Im Rahmen des „proxy voting“ in Großbritannien ist es einem Wahlberechtigten aus verschiedenen Gründen, etwa weil er im Urlaub, beruflich verhindert oder behindert ist, prinzipiell möglich, seine Stimme auf eine andere Person zu übertragen. Gewöhnlich kann die Delegation des Wahlrechts mindestens sechs Werktage vor dem Wahltag unter Angabe des Grundes beim Electoral Registration Office beantragt werden. Als Stellvertreter kommt jeder in Frage, der als Wähler registriert und für dieselbe Wahl wahlberechtigt ist. Ein registrierter Wahlberechtigter kann in derselben Wahl für zwei Personen seine Stimme abgeben – unter Umständen sogar für mehr, wenn die weiteren Personen enge Verwandte sind.Footnote 20 Eine im Wesentlichen gleiche Regelung existiert in Frankreich im Rahmen des „vote par procuration“ (vgl. Rupprecht 2012, S. 182 f.). Damit kann ein Wähler in Großbritannien und Frankreich nach eigenem Ermessen eine ganze Reihe an Wählerstimmen in Stellvertretung abgeben – ohne Kontrolle, ob dies auch nur annähernd im Sinne des jeweiligen Wahlberechtigten erfolgt oder nicht. Eine derartige Stimmrechtsübertragung bei Wahlen – die man im deutschen Rechtskreis in ähnlicher Form etwa zum Teil aus Abstimmungen in Hochschulgremien (vgl. z. B. § 16 Absatz 5 der Grundordnung der Universität Passau) kennt – ist demokratietheoretisch keineswegs unproblematisch und unbedenklich. Außerdem gibt es signifikante Unterschiede zwischen dem SWR und den Stellvertreter-Regelungen in Großbritannien und Frankreich. So kann der Wahlrechtsinhaber beim „proxy voting“ bzw. „vote par procuration“ – im Gegensatz zur Stellvertreterwahl – selbst wählen oder, falls er sich nicht dazu in der Lage sieht, selbst bestimmen, wer an seiner Stelle wählt (vgl. auch Schreiber 2004, S. 1344).

Ebenso wenig überzeugend ist auch die häufig gezogene (vgl. z. B.: BT-Drs. 15/1544: 4) Parallele zwischen dem SWR und der elterlichen Sorge gemäß § 1626 BGB bzw. das Argument, die darin geregelte Personen- und Vermögenssorge ließen sich um die „Bürgersorge“ erweitern (vgl. auch Frankenberg 2004, S. 3; Achterberg und Schulte 2010, Art. 38 GG, Rn. 155). Wernsmann (2005, S. 55) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Kinder bei der Wahl nicht etwa wie in einer Gesellschafterversammlung einer AG durch ihre Eltern vertreten werden können. Nach § 266 Abs. 1 StGB wird, „[w]er die ihm […] eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm […] obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, […] mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Wer hingegen die Befugnis, über „fremdes Wahlrecht“ zu verfügen, missbraucht bzw. dem Wahlrechtsinhaber einen Nachteil zufügt, hat keine Konsequenzen zu befürchten – nicht nur weil die Stimmabgabe geheim erfolgt (vgl. Rupprecht 2012, S. 199), sondern weil in einer rechtstaatlichen pluralistischen Demokratie objektiv nicht feststellbar ist, wann ein Missbrauch vorliegt bzw. ein Nachteil entsteht. Im Übrigen existieren auch im Zivilrecht diverse nicht übertragungsfähige RechteFootnote 21, wie etwa das Recht zur Eheschließung, die nach § 1311 BGB nur persönlich möglich ist. Zwar hat die Eheschließung für den Einzelnen eine andere Tragweite als die Stimmabgabe bei der Wahl (vgl. Rupprecht 2012, S. 177), doch ist das Wahlrecht immerhin „das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“ (BVerfG, 2 BvG 1/51 vom 23.10.1951, Rn. 82).

Abschließend bleibt festzuhalten, dass auch eine Einführung des SWR durch Verfassungsänderung unzulässig wäre, zumal dieses – selbst wenn man die Grenzen für den Wirkungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG enger zieht – den Wesensgehalt der HdW an zentraler Stelle aushöhlen würde. Folglich würde das SWR gegen die HdW verstoßen und dabei den Kern des in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten und durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Demokratieprinzips berühren.Footnote 22

4 (Verfassungs-)Politische Bedenken

Abgesehen von den (verfassungs)rechtlichen Einwänden wirft die Umsetzung des EWR bzw. SWR eine Vielzahl schwer lösbarer Fragen auf (vgl. auch BT-Drs. 15/4788: 4; Schreiber 2004, S. 1347 f. mit diversen Beispielen). Nicht zuletzt deshalb wäre bei der Einführung eines (wie auch immer ausgestalteten) Familienwahlrechts mit einer Reihe von Wahlanfechtungen und (verfassungs)rechtlichen Streitigkeiten zu rechnen (vgl. ebd., S. 1347).

Fraglich ist zum Beispiel, wie mit Stimmen von unter 18-Jährigen umzugehen ist, die kein wahlberechtigtes Elternteil haben (z. B. weil beide Eltern selbst das Wahlalter noch nicht erreicht haben und infolgedessen das Wahlrecht weder in eigener Sache noch stellvertretend ausüben können) oder die nicht unter elterlicher Sorge, sondern unter Vormundschaft stehen (weil die Eltern verstorben sind oder das Sorgerecht verloren haben) – zumal als Vormund auch ein Verein oder das Jugendamt infrage kommt. Die zur Lösung dieser Fragen gemachten Vorschläge können nicht überzeugen, da sie entweder vorsehen, die Stimmen ganz verfallen zu lassen (vgl. Reimer 2004, S. 326 f.), oder darauf abzielen, die Stimmen Personen zu übertragen, die nicht zur Kernfamilie gehören bzw. – mit Blick auf das SWR – noch weniger als die Eltern in der Lage sind, so abzustimmen, „wie dies dem Wohl und den Interessen ihres Treugebers […] entspricht“ (BT-Drs. 16/9868: 2) – etwa den Großeltern, durch das Familiengericht bestimmten wahlrechtlichen „Vertrauenspersonen“ oder im Rahmen einer Vereinsvormundschaft als Vormund fungierenden Personen (vgl. Rupprecht 2012, S. 188 ff.).

Fraglich ist auch, welches Elternteil die Stimme für ein Kind abgibt bzw. wie zu verfahren ist, wenn sich zwei wahl- und sorgeberechtigte Eltern (bei einer ungeraden Kinderzahl) mit Blick auf die Abgabe der zusätzlichen Stimme nicht einigen können. In den im Bundestag eingebrachten Anträgen war hierzu nur zu lesen, dass in diesem Fall „eine einfache und beide Elternteile möglichst gleich berechtigende Regelung vorgesehen sein [sollte]“ (BT-Drs. 15/1544: 2; sinngemäß: BT-Drs. 16/9868: 4). Eine derartige Regelung ist aber – wie schon der fehlende Vorschlag in den entsprechenden Anträgen signalisiert – keineswegs einfach zu finden und keinesfalls – wie zum Teil suggeriert (vgl. ebd., S. 3) – genauso lösbar wie etwa Meinungsverschiedenheiten der Eltern mit Blick auf Erziehungsfragen. Die zur Lösung dieser Frage gemachten Vorschläge können ebenfalls nicht überzeugen (vgl. u. a. auch Maurer 2010, § 13, Rn. 6), da sie – neben der Option, die Stimmen ganz verfallen zu lassen (vgl. Meixner 2013, S. 421; Reimer 2004, S. 327) – entweder vorsehen, die Stimmabgabe – durch Verdoppelung aller Stimmen oder Halbierung zusätzlicher Stimmen (vgl. Rupprecht 2012, S. 193 ff.; Maurer 2010, § 13, Rn. 6) – zu verkomplizieren, oder darauf abzielen, ein Elternteil zu bevorzugen – sei es durch eine gerichtliche Entscheidung, einen Losentscheid mit anschließend alternierender Wahlrechtsausübung oder eine feste Zuweisung der Stimmen geradzahliger Kinder an ein und der Stimmen ungeradzahliger Kinder an das andere Elternteil (vgl. Rupprecht 2012, S. 193 ff.).

Ferner stellt sich mit Blick auf das SWR die Frage, warum sich, wenn sich unter 18-Jährige bei der Ausübung des Wahlrechts vertreten lassen können, nicht auch andere deutsche Staatsbürger bei der Wahl vertreten lassen können (vgl. Wernsmann 2005, S. 56) – etwa diejenigen, die nach § 13 BWG vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, oder im Ausland lebende Deutsche („Auslandsdeutsche“), die nicht unter die Ausnahmeregelungen des § 12 Abs. 2 BWG fallen. So könnte vor dem Hintergrund des SWR bspw. gefordert werden, jemanden, „für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“, und der deshalb vom Wahlrecht ausgeschlossen ist (§ 13 Nr. 2 BWG), auch das Wahlrecht zuzugestehen und dessen Ausübung seinem Betreuer zu übertragen.

5 Fazit

Nach der hier vertretenen Auffassung können sowohl das EWR als auch das SWR nicht eingeführt werden – weder einfachgesetzlich noch durch Verfassungsänderung. Aber auch mit Blick auf die gewichtigen (verfassungs)politischen Bedenken kann von dem Ziel, das EWR oder SWR einzuführen, nur abgeraten werden.

Dass eine zukunftsorientierte Familienpolitik, die die Interessen der nachwachsenden Generation im Auge hat, wichtig ist, steht außer Frage; dass – wie Meixner (2013, S. 419) meint – „das Wahlrecht dafür (mit)verantwortlich ist, dass seit vielen Jahrzehnten Familien benachteiligt werden und es zum Geburtenmangel mit allen demographischen und sozialpolitischen Folgeproblemen“ kommt, darf hingegen vehement bezweifelt werden; dass eine bessere Familienpolitik über eine Veränderung des Wahlrechts herbeigeführt werden kann, muss letztlich als völlig illusionär abgetan werden.

Im Übrigen ist es durchaus problematisch, die Einführung des SWR – wie die des EWR – output-bezogen zu begründen (Westle 2006, S. 103), zumal es im Wahlrecht nicht auf das Wohl, sondern auf den Willen des Wählenden ankommt (vgl. ebd., S. 107). Eine bessere Familienpolitik über ein (verkapptes) Pluralwahlrecht für Eltern zu erreichen, verbietet sich letztlich ebenso wie eine bessere Wirtschaftspolitik über ein Pluralwahlrecht für Unternehmer oder eine bessere Verteidigungspolitik über ein Pluralwahlrecht für Soldaten zu erreichen. Grundsätzlich gibt es keinen sachgerechten Grund, ein Politikfeld – über das Wahlrecht – stärker zu „fördern“ als andere Politikfelder (vgl. auch Knödler 1996, S. 570). Wer eine bessere Familienpolitik möchte, sollte diese nicht über das Wahlrecht und damit letztlich über die Veränderung der tradierten, bewährten und im Kern unverrückbaren demokratischen Spielregeln, sondern über den demokratischen Diskurs und den politischen Entscheidungsprozess zu erreichen versuchen.

Es verbietet sich auch, Parallelen zwischen der Einführung des Familienwahlrechts und der Einführung des Frauenwahlrechts (vgl. z. B. Knödler 1996, S. 569; Meixner 2013, S. 420) zu ziehen. Bei der Einführung des Frauenwahlrechts ging es im Kern nicht – wie etwa Meixner (2013, S. 420) meint – darum, „die Interessen von Frauen voranzubringen“, sondern Frauen Männern gleichzustellen und ihnen dieselben bürgerlichen Rechte wie Männern zuzugestehen. Es ist nicht angemessen, die Einführung des Frauenwahlrechts auf die Beachtung der Interessen der Frauen zu reduzieren, also rein „policy-output-bezogen“ (Westle 2006, S. 103) zu legitimieren. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass Frauen, solange ihre Interessen durch die Politik (der Männer) hinreichend berücksichtigt würden, kein Wahlrecht brauchen – gewissermaßen keine Selbstbestimmung nötig ist, solange eine an ihrem Wohl orientierte Fremdbestimmung existiert (vgl. auch ebd., S. 107). Doch auch wenn man – wie Steffani (1999a, S. 567) – nicht die Interessenberücksichtigung, sondern die Gleichstellung fokussiert, verbietet sich das Ziehen von Parallelen zwischen der Einführung des Familienwahlrechts und der Einführung des Frauenwahlrechts, zumal das Familienwahlrecht einen temporären Ausschluss vom Wahlrecht, der alle Bürger gleichermaßen betrifft (vgl. Westle 2006, S. 114), beseitigen soll, während das Frauenwahlrecht einen prinzipiellen Ausschluss vom Wahlrecht, der nur Frauen betraf, beseitigte – indem ein höchstpersönliches Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, kein „stellvertretendes Wahlrecht für Ehemänner“ (ebd., S. 106).

Dagegen ist es natürlich legitim, darüber nachzudenken, ob und wie ein Wahlrechtsgrundsatz besser verwirklicht werden kann – unter anderem auch, ob durch das SWR eine „Annäherung des Wahlvolkes an das Staatsvolk“ (Reimer 2004, S. 323) erreicht werden kann. Allerdings konnte gezeigt werden, dass die Einführung des SWR nicht zu „mehr Demokratie“ führt, sondern letztlich durch das demokratische Prinzip verhindert wird.

Die Existenz einer Wahlaltersgrenze mag – auch wenn sie in Deutschland seit jeher verfassungsrechtlich verankert ist (Wernsmann 2005, S. 45 f.) und offenkundig ohne verfassungsrechtlich mögliche sowie auch verfassungspolitisch sinnvolle Alternative ist – bedauert werden, bedeutet aber keineswegs, dass mit ihr der „Erhalt unserer Demokratie“ nicht möglich sei (Peschel-Gutzeit 1999, S. 556), eine „Demokratie im strengen Sinne des Wortes“ nicht existiere (Steffani 1999b, S. 790) oder – wie Schickhardt (2015, S. 191) jüngst argumentierte – „die Regierungsgewalt über Minderjährige [unter die Wahlaltersgrenze fallende Staatsbürger] in demokratischen Staaten nicht ausreichend legitimiert“ sei. Zum einen setzt das Recht zu legitimieren eine hinreichende Fähigkeit zu legitimieren voraus (vgl. oben). Zum anderen ist die Identität von Wahl- und Staatsvolk verfassungsrechtlich weder geboten noch möglich. Dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG „Vertreter des ganzen Volkes“ sind, bedeutet nicht, dass sie vom ganzen Volk legitimiert werden (müssen), sondern das ganze Volk repräsentieren (sollen) (vgl. Schreiber 2004, S. 1345 f.); und dass die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt“ wird, bedeutet nicht, dass sie vom „Staatsvolk im Sinne aller Deutschen“, sondern von der „Aktivbürgerschaft“ (Klein 2014, Art. 38 GG, Rn. 140) ausgeübt wird – die den hier diskutierten „Beschränkungen des Wahlrechts […], die durch Begrenzungen der Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit bedingt sind“ (Grzeszick 2014, Art. 20 GG, Rn. 79), Rechnung trägt.

Am Ende gilt für das Wahlrecht im Allgemeinen dasselbe wie für das Sitzzuteilungsverfahren im Speziellen: dass es – wie es Henner Jörg Boehl (2015, S. 62) auf den Punkt brachte – einen „relativ optimalen Charakter“ hat. Wer Vorschläge zur Optimierung dieses Charakters macht, dem muss bewusst sein, dass er – wie Boehl (2013, S. 122) ebenfalls treffend ausdrückte – eine Operation „an der Herzkammer der Demokratie“ anregt. Angesichts dieser Tragweite und der doch gravierenden Einwände gegen das (wie auch immer ausgestaltete) Familienwahlrecht sollte man in Zukunft davon absehen, diesen Vorschlag erneut auf die Agenda zu bringen.