1 Einleitung

Die Finanz- und Staatsschuldenkrise in der EU (kurz: Euro-Krise) hat zu einer intensiven Diskussion um die Frage geführt, mit welchen politischen Maßnahmen sich die Eurozone stabilisieren ließe bzw. welche Reformen notwendig wären, um die Wettbewerbsfähigkeit und Kreditwürdigkeit überschuldeter Euro-Staaten wieder herzustellen (Streeck 2013; Enderlein 2013). Einige Ökonomen plädieren für mehr wirtschaftspolitische Koordinierung und ein groß angelegtes Investitionsprogramm. Nur so könnten Ungleichgewichte in den volkswirtschaftlichen Leistungsbilanzen sukzessive abgebaut werden, die zu der hohen Staatsverschuldung maßgeblich beigetragen hätten (Hickel und König 2014). Andere fordern einen radialen Umbau der Eurozone, u. a. durch das Ausscheiden Griechenlands („Grexit“), um die Konstruktionsfehler des Euro an den Wurzeln zu beheben. Erst nach Wiedereinführung einer eigenen Währung könnten faktisch insolvente „Defizitländer“ diese durch Abwertung den realwirtschaftlichen Verhältnissen anpassen und so langfristig wieder wettbewerbsfähig werden (Sinn 2014).

Auch zwischen Regierung und Opposition im Deutschen Bundestag war die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Euro-Rettungspolitik seit dem ersten Hilfspaket für Griechenland im Mai 2010 umstritten. Während führende Vertreter der damaligen christlich-liberalen Koalition die auf europäischer Ebene vereinbarten Maßnahmen verteidigten, zweifelten die Oppositionsparteien (SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke) an der Wirksamkeit der auferlegten Reform- und Sparprogramme und forderten andere Problemlösungen, um der Krise mit mehr Nachhaltigkeit zu begegnen. Allerdings waren ihre Einflusschancen zunächst begrenzt, da über Finanzhilfen an andere Länder der Eurozone mit einfacher Parlamentsmehrheit entschieden wurde und somit höchst unsicher war, ob die Oppositionsparteien tatsächlich die Gesetzentwürfe und Anträge der Bundesregierung in der Abstimmung hätten verhindern können. Aufgrund der bestehenden Mehrheitsverhältnisse war es der Opposition anfangs nicht möglich, wirkungsvoll mit Ablehnung zu drohen, um ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen.

Diese Machtkonstellation änderte sich im März 2012, nachdem die Regierung ankündigt hatte, über den „Fiskalvertrag“ und den ESM-Vertrag mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat abstimmen zu wollen. Da die Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und FDP nicht über ausreichend Sitze verfügten, hatte dieser Beschluss zur Folge, dass die SPD im Verbund mit Bündnis 90/Die Grünen als Vetospieler auftreten konnte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und inwieweit es der rot-grünen Opposition unter diesen günstigen Rahmenbedingungen gelungen ist, die Euro-Rettungspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen: Welche ihrer ursprünglichen Forderungen konnte sie gegenüber der Bundesregierung als Voraussetzung für eine Zustimmung zu „Fiskalvertrag“ und ESM durchsetzen? Und wo verlaufen die Grenzen oppositioneller Einflussnahme speziell in der Euro-Rettungspolitik, über die nationale Regierungen nicht allein, sondern erst nach Abstimmung mit anderen Mitgliedstaaten der EU bzw. der Eurozone entscheiden? Der Sammelbegriff „Euro-Rettungspolitik“ umfasst dabei sämtliche politische Reaktionen auf die Euro-Krise, also nicht nur die Gewährung von Finanzhilfen an andere Mitgliedstaaten der Eurozone und deren Refinanzierung, sondern alle weiteren Stabilisierungsmaßnahmen und Investitionsprogramme, die seit dem ersten Hilfspaket für Griechenland auf den Weg gebracht worden sind (Illing 2013, S. 47 f.).

Die Fallstudie konzentriert sich damit auf die vertikale Dimension von Gewaltenteilung im Mehrebenensystem der EU, indem sie die Konsequenzen parteipolitischer Konflikte auf nationaler Ebene für politische Beschlüsse auf europäischer Ebene analysiert. Der Bundestag kann in dieser Hinsicht als aufschlussreicher Sonderfall bezeichnet werden, weil in nur einem weiteren Mitgliedstaat der Eurozone Oppositionsparteien über eine ebenso starke Vetoposition verfügten.Footnote 1 Zudem wird die Bundesregierung auch aus internationaler Perspektive als dominanter Akteur in der Euro-Krise gesehen (Bulmer und Paterson 2013; Bulmer 2014), so dass hier die Chancen parlamentarischer Einflussnahme auf die Euro-Rettungspolitik vergleichsweise hoch sein sollten. Mit anderen Worten: sofern der Bundestag (auf Druck der Opposition) nicht einmal unter günstigen Bedingungen seine Interessen durchsetzen konnte, müssten nationale Parlamente allgemein als schwache Akteure im europäischen Mehrebenensystem eingestuft werden. Insofern tragen die Schlussfolgerungen zur aktuellen Diskussion um einen vermeintlichen Verlust parlamentarischer Kontrolle und daraus resultierenden Demokratiedefiziten in der Euro-Krise bei (Scharpf 2014; Maurer 2015; Wiesner in diesem Band).

Die empirische Prozessanalyse (Process tracing) stützt sich auf zwei Datensätze, mit denen die Entwicklung parteipolitischer Konfliktlinien sowie die Verhandlungen zwischen Regierung und rot-grüner Opposition während der 17. Wahlperiode (2009–2013) im Detail nachgezeichnet werden können. Um die Positionen führender Vertreter der Bundestagsparteien zu erfassen, wurden alle Plenardebatten zur Euro-Krise mit Unterstützung des Textanalyseprogramms MAXQDA ausgewertet (Zeitraum: 01.01.2010 bis 01.12.2014).Footnote 2 Dieser Textkorpus soll hier vor allem genutzt werden, um die Kritik der rot-grünen Opposition an der Euro-Rettungspolitik und die damit verbundenen Forderungen bis zu den Verhandlungen im Vorfeld der Abstimmungen über „Fiskalpakt“ und ESM am 29. Juni 2012 offenzulegen. Der zweite Datensatz basiert auf einer qualitativen Inhaltsanalyse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung (E-Paper-Ausgaben von 01.01.2010 bis 01.12.2014). Praktisch habe ich alle Ausgaben im wöchentlichen Rhythmus nach Berichten über politische Entwicklungen im Kontext der Euro-Krise bildschirmbasiert („per Hand“) durchgesehen und einschlägige Artikel zu den jeweiligen Ereignissen mit Stichworten versehen in einer Tabelle verlinkt. Diese umfassende Chronologie der Euro-Krise enthält u. a. ausführliche Berichte über die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition, die für diesen Aufsatz gesondert ausgewertet wurden.

Im folgenden Abschnitt werden zunächst die Bedingungen herausgearbeitet, unter denen Oppositionsparteien in parlamentarischen Regierungssystemen und speziell im Bundestag zu Vetospielern im Mehrebenensystem der EU werden können. Zur Bestimmung politischer Konfliktlinien in der Euro-Krise werden danach die zentralen Kritikpunkte der drei Oppositionsparteien an der von der Bundesregierung unterstützten Euro-Rettungspolitik als Grundlage für die darauf folgende Vetospieleranalyse aufgeschlüsselt. Auf dieser Basis wird der Verhandlungsprozess zwischen Regierung und rot-grüner Opposition dokumentiert und im Detail nachgezeichnet, ob und inwieweit die Regierung auf zwei zentrale Forderungen des politischen Gegenspielers eingegangen ist, um die parlamentarische Ratifikation von „Fiskalvertrag“ und ESM-Vertrag abzusichern. Im Fazit werden die Ergebnisse zusammengefasst und einige Schlussfolgerungen zu den Chancen und Grenzen oppositioneller Einflussnahme im Mehrebenensystem der EU in Zeiten der Euro-Krise gezogen.

2 Nationale Oppositionsparteien als Vetospieler in parlamentarischen Regierungssystemen

Vetospieler können im weitesten Sinne definiert werden als individuelle oder kollektive Akteure, deren Zustimmung notwendig ist, um den Status quo zu verändern, also z. B. um ein Gesetz zu reformieren (Tsebelis 1999, S. 593). Oppositionsparteien bzw. ihre Abgeordneten in parlamentarischen Regierungssystemen können theoretisch in drei Konstellationen zu Vetospielern im Gesetzgebungsprozess aufsteigen: Erstens, wenn die Regierungsparteien zwar über die notwendige einfache Mehrheit der Sitze verfügen, um ein Gesetz zu verabschieden, aber die Unterstützung in den „eigenen Reihen“ nicht ausreicht; zweitens, wenn ein Beschluss eine qualifizierte Parlamentsmehrheit erfordert, z. B. bei Verfassungsänderungen, über die die Regierungsfraktionen nicht verfügen; und drittens im Fall einer Minderheitsregierung, die permanent auf die Unterstützung durch oppositionelle Abgeordnete angewiesen ist (Tsebelis 2002, S. 90 f.). Unter diesen Bedingungen haben Oppositionsparteien bzw. ihre Mitglieder zwei Optionen: Sie können der Regierung entweder die „Rote Karte“ zeigen, indem sie Gesetzentwürfe in der Abstimmung ablehnen. Oder sie versuchen, ihren Machtvorteil zu nutzen, indem sie Konzessionen als Voraussetzung für ihre Zustimmung verlangen. Die Regierung könnte dann sozusagen im Schatten von Vetomacht gezwungen sein, auf die Forderungen der politischen Gegenseite einzugehen, um den Gesetzgebungsakt erfolgreich abzuschließen.

In der politischen Praxis speziell des Bundestages werden Oppositionsparteien bzw. ihre Mitglieder in der Regel nur in zwei Fällen zu legislativen Vetospielern (Helms 2002, S. 40–65; Steffani 1997, S. 138 f.): Erstens bei Änderungen des Grundgesetzes, die bekanntlich eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen in beiden Kammern voraussetzen (Art. 79 GG). Oppositionsparteien können dann, bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen zusätzlich über den Bundesrat, quasi mitregieren und „Verfassungspolitik“ betreiben, etwa indem sie geplante Grundgesetzänderungen inhaltlich beeinflussen oder Zugeständnisse bei anderen politischen Entscheidungen als Gegenleistung für ihre Kooperation anstreben (Benz 1995; Busch 2006). Und zweitens bei Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union sowie bei vergleichbaren Regelungen, durch die „dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“ (Art. 23 Abs. 1 GG), die ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordern (Lang 1997). Allerdings avancieren Oppositionsparteien in beiden Fällen natürlich nur dann zu Vetospielern im Bundestag, wenn die Regierungsparteien nicht selbst über eine Zweidrittelmehrheit der Sitze verfügen – wie in der aktuellen Großen Koalition seit 2013.

2.1 Die Opposition im Bundestag und die Ratifikation von EU-Verträgen

Während mehrere Studien bestätigt haben, dass Oppositionsparteien ihre Vetospielerposition bei nationalen Verfassungsänderungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Föderalismusreform (Benz 2005; Scharpf 2009), durchaus zu nutzen wussten, liegen keine vergleichbaren Erkenntnisse für EU-Verträge vor. Alle EU-Vertragsreformen (und alle EU-Erweiterungen, weil diese eine Änderung der EU-Verträge voraussetzen) wurden bislang mit großen Mehrheiten vom Bundestag ratifiziert. Erstens sind EU-Verträge das Resultat langwieriger Verhandlungsprozesse und Kompromissfindungen im Europäischen Rat, so dass Oppositionsparteien sorgfältig abwägen müssen, ob sie wirklich gegen den Vertragsentwurf stimmen und damit die Staats- und Regierungschefs zurück an den Verhandlungstisch zwingen wollen, selbst wenn sie einige Teile der Vertragsreform ablehnen sollten. Eine Einflussnahme auf Vertragsinhalte müsste während der laufenden Verhandlungsrunden passieren, wofür die institutionellen Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene lange sehr ungünstig waren. Erst im Europäischen Konvent, der 2002 bis 2003 einen Entwurf für eine Verfassung für Europa erarbeitet hatte, waren einige wenige Abgeordnete aus den nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten direkt vertreten. Aber auch für diesen bislang einmaligen Fall liefern die vorliegenden Studien keine Hinweise, dass es deutschen Oppositionspolitikern gelungen wäre, mit Hilfe ihrer Vetoposition im Bundestag bestimmte Vertragsinhalte durchzusetzen (Becker und Leiße 2005; Göler 2006).

Noch wichtiger ist aber sicher ein zweiter Grund: Das deutsche Parteiensystem war jahrzehntelang durch einen breiten pro-europäischen Basiskonsens gekennzeichnet, dem sich allein die PDS bzw. später Die Linke seit ihrem Einzug in den Bundestag 1990 verweigert hatte (Wimmel 2009; Wendler 2011). Insbesondere die beiden potentiellen Vetospieler CDU/CSU und SPD teilten sehr ähnliche Ideen hinsichtlich der institutionellen Entwicklung der EG/EU, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder Großbritannien, in denen europäische Integration seit jeher umstritten und viel stärker politisiert war (Jachtenfuchs 2002). In Deutschland hingegen galt Europapolitik, nicht zuletzt aus historischen Gründen, als Staatsraison und wurde weitestgehend aus dem Parteienwettbewerb herausgehalten (Müller-Brandeck-Bocquet 2006). Deswegen fehlte der Nährboden für tiefgreifende zwischenparteiliche Konflikte, die die Opposition hätten veranlassen können, ihre Vetoposition tatsächlich auszuspielen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Fraktionen von CDU/CSU und SPD bislang alle EU-Vertragsreformen mitgetragen haben, auch wenn die jeweils andere Partei die Regierung geführt und die Vertragsinhalte ausverhandelt hatte (Müller-Brandeck-Bocquet et al. 2010).

3 Parteienwettbewerb und politischer Konflikt in der Euro-Krise

Während der Euro-Krise wurde dieses parteiübergreifende Konsensprinzip in der Europapolitik auf eine harte Probe gestellt. Im Gegensatz zu EU-Vertragsreformen ging es nun nicht mehr primär um institutionelle Fragen, sondern um den Fortbestand der Wirtschafts- und Währungsunion, also um konkrete Politikinhalte, die erhebliche Kosten und Lasten für die Mitgliedstaaten und ihre Bürger nach sich ziehen (Kunstein und Wessels 2011). Aufgrund der breiten öffentlichen Aufmerksamkeit ließ sich die Euro-Rettungspolitik nicht mehr losgelöst vom Wettbewerb um Wählerstimmen behandeln, so dass die Parteien sorgfältig abwägen mussten, wie sie sich positionieren. Zwar waren sich alle Fraktionen einschließlich der Linkspartei einig, dass der Euro als ein Meilenstein des Integrationsprojekts nicht aufgegeben werden dürfe und alles unternommen werden müsse, um Griechenland einen Verbleib in der Eurozone zu ermöglichen. In der entscheidenden Frage jedoch, wie und mit welchen Mitteln diese Ziele zu erreichen sind, beriefen sich die Parteien auf ganz unterschiedliche wirtschafts- und finanzpolitische Lösungskonzepte (Wimmel 2012; Wendler 2015).

Die Opposition im Bundestag war mit Blick auf die Euro-Rettungspolitik in zwei Lager gespalten: Die Parteiführungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützten grundsätzlich die Bereitstellung von Finanzhilfen an überschuldete Länder der Eurozone, um die Währungsunion in ihrer bisherigen Form zu erhalten, aber kritisierten die von der Bundesregierung propagierte Problemlösungsstrategie, die ihrer Auffassung nach zu einseitig auf Austeritätspolitik abzielen würde. Zudem forderten sie eine direkte Beteiligung der Finanzmärkte an den Kosten der Krise. Die Fraktion der Linkspartei lehnte demgegenüber die Stoßrichtung der Euro-Rettungspolitik insgesamt als nicht zielführend ab, da sie lediglich das kapitalistische Finanz- und Bankensystem am Leben erhalte und damit die eigentlichen Strukturprobleme der Eurozone eher verschärfe, anstatt sie zu beheben. Während also die rot-grüne Opposition punktuelle Kritik an der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Euro-Rettungsmaßnahmen vorbrachte und andere Refinanzierungsmodelle einforderte, hielt die Linkspartei an ihrer Frontalopposition gegen die deutsche Europapolitik in dieser frühen Phase der Euro-Krise konsequent fest.

3.1 SPD/Grüne

Die Kritik von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an der Euro-Rettungspolitik mündete in zwei konkrete Forderungen, die führende Vertreter beider Parteien wieder und wieder im Bundestag vorgetragen haben. Schon in der Plenardebatte zum ersten Hilfspaket für Griechenland am 5. Mai 2010 forderte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer. Seine Partei unterstütze die Bereitstellung von Finanzhilfen nur unter der Bedingung, dass „die Kosten dieser Krise – das ist unabdingbar – nicht wieder einseitig auf den Steuerzahler abgeladen werden“ (Steinmeier 2010, S. 3729 D). Stattdessen sollten Bankensektor und Kapitalmärkte direkt an der Refinanzierung der Milliardenkredite beteiligt werden, um „endlich dafür Sorge zu tragen, dass diejenigen, die mit Spekulationen Geschäfte machen, künftig auch für die Folgen dieser Spekulationen in Haftung genommen werden“, so Jürgen Trittin (2010, S. 3741 B) für die Grünen-Fraktion. In den folgenden Monaten drängte die rot-grüne Opposition die Bundeskanzlerin in nahezu jeder Aussprache zur Euro-Krise, sich zumindest im Rahmen der EU für eine einheitliche Besteuerung von Finanztransaktionen stark zu machen: „Wenn nicht der falsche Eindruck entstehen soll, dass die Übernahme der Kosten der Krise nicht ausbalanciert wird und diejenigen, die an ihr verdienen, nicht beteiligt werden, dann geben Sie endlich den Weg frei und setzen Sie sich mit aller Kraft dafür ein, dass die Finanzmarkttransaktionsteuer in Europa kommt“ (Steinmeier 2011, S. 13214 B).

Zwar hatte Bundeskanzlerin Merkel bereits im Mai 2010 zugesichert, sich „für eine solche Besteuerung der Finanzmärkte […] europäisch und international einsetzen“ zu wollen (Merkel 2010, S. 4130 D). Finanzminister Schäuble gab jedoch zu bedenken, dass eine Finanztransaktionssteuer nur dann effektiv und zielführend wäre, wenn sie global oder zumindest europaweit eingeführt werden würde, was aufgrund der Widerstände anderer Länder wie allen voran Großbritannien derzeit nicht absehbar sei. Solange man sich nicht einmal innerhalb der EU auf gemeinsame Regelungen einigen könne, bestehe die Gefahr, dass das Finanzkapital in Staaten verlagert werden würde, die keine Abgaben auf Finanztransaktionen erheben. Unter den gegebenen Bedingungen mache es keinen Sinn, wenn nur einige wenige EU-Länder in der Besteuerung der Finanzmärkte vorangingen, so dass der Bundesregierung hier die Hände gebunden seien (Schäuble 2010, S. 4002 C/D).

Der zweite Kritikpunkt bezog sich auf die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Euro-Rettungsmaßnahmen. Zwar stimmte die rot-grüne Opposition mit der Bundesregierung weitgehend darin überein, dass die Defizitländer tiefgreifende Strukturreformen und auch Ausgabenkürzungen vornehmen müssten, um die Schuldenlast zu verringern. Als sich jedoch ab Mitte 2011 andeutete, dass sich die Lage insbesondere in Griechenland weiter zuspitzen würde, forderten SPD und Grüne ergänzend dazu mehr direkte Investitionen vor Ort, um Wachstumsimpulse anzustoßen und die rasant ansteigende Arbeitslosigkeit aktiv zu bekämpfen: „Wir spielen gar nicht auf der alten keynesianischen Leier, sondern das ist mittlerweile europaweit landauf, landab eine ökonomische Binsenweisheit: Ohne Wachstum wird Europa aus dieser Krise nicht herauskommen“ (Steinmeier 2011, S. 17688 B). Die bisherigen Sparmaßnahmen würgten demgegenüber jeden wirtschaftlichen Aufschwung ab und verschlimmerten damit die Auswüchse der Krise: Mit einem „reinen Sparpaket und allein mit Daumenschrauben“, so der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion, „wird dieses Land nicht wieder Wind unter die Flügel bekommen und nicht wieder auf die Beine kommen“. Nach wie vor fehle „eine glaubwürdige Wachstumsperspektive, ein konkreter Plan für Investitionen in Griechenland“ (Steinbrück 2012, S. 19083 D). Deshalb müsse es jetzt darum gehen, Griechenland die Hand zu reichen und dafür Sorge zu tragen, dass es „kein Fass ohne Boden gibt, sondern dass ein Boden eingezogen wird“. Das heißt, es müsse „ein europäisches Investitionsprogramm geschaffen werden, eine Art Marshallplan“, forderte Renate Künast (2012, S. 19093 D) für die Fraktion der Grünen.

Die Bundesregierung, wieder vor allem in Persona von Finanzminister Schäuble, hat Forderungen dieser Art noch bis Anfang 2012 mit dem Argument zurückgewiesen, die vereinbarten Euro-Rettungsmaßnahmen müssten als „Hilfe zur Selbsthilfe“ verstanden werden, d. h. nachhaltiges Wachstum könne nur aus innerstaatlichen Reformen entstehen und nicht durch kurzfristige Investitionen von außen geschaffen werden. Ohne zunächst die strukturellen Ursachen der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit anzugehen, würden alle Investitionsprogramme über kurz oder lang im Sand verlaufen: „Daher sage ich bei allem Respekt und bei aller Sympathie für das griechische Volk: Die Anpassungsmaßnahmen können wir Griechenland nicht ersparen. Letzten Endes ist es Sache Griechenlands selbst, zu entscheiden, ob man dort bereit und in der Lage ist, die notwendigen Maßnahmen durchzuführen, um die Defizite und die zu hohe Verschuldung zurückzuführen“ (Schäuble 2011, S. 14553 A).

3.2 Die Linke

Im Gegensatz zur rot-grünen Opposition hat die Linkspartei die gesamte Euro-Rettungspolitik als ökonomisch nicht zielführend und sozial unausgewogen abgelehnt. Mit den Milliardenkrediten werde in erster Linie das internationale Banken- und Finanzsystem am Leben erhalten, während das erzwungene Spardiktat Griechenland auf Kosten der ärmsten Bevölkerungsschichten in eine noch tiefere Depression treibe: „Wenn man sieht, dass diese verheerende und rigorose Kürzungspolitik nicht dazu führt, dass wir Griechenland retten, sondern, ganz im Gegenteil, dazu, dass wir Griechenland immer weiter in die Katastrophe führen, dann muss man sich doch korrigieren“ (Gysi 2012, S. 19089 C). Die wesentliche Ursache der griechischen Schuldenmisere seien massive volkswirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone, die sich infolge der Hartz-IV-Reformen im Zusammenhang mit der Agenda 2010 noch vergrößert hätten: „Wir als Linke sind der Auffassung, dass der Euro nur gerettet werden kann, wenn die Finanzmärkte streng kontrolliert und reguliert werden und endlich eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik vertraglich vereinbart wird“ (Lötzsch 2010, S. 8826 D).

4 Die Opposition als Vetospieler in der Euro-Krise

Seit dem ersten Hilfspaket für Griechenland im Mai 2010 hat der Bundestag über eine Vielzahl weiterer Gesetzentwürfe und Anträge der Bundesregierung bzw. der Regierungsfraktionen entschieden, die zuvor als Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone von den Staats- und Regierungschefs der EU vereinbart worden waren (Hölscheidt 2013). Diese hohe parlamentarische Aktivität begründet sich mit dem Rechtscharakter der meisten „Euro-Rettungsmaßnahmen“, die auf völkerrechtlichen Verträgen bzw. zwischenstaatlichen Abkommen beruhen und deswegen gemäß Art. 59 Abs. 2 GG grundsätzlich per Bundesgesetz parlamentarisch zu ratifizieren sind (Müller-Graff 2011). Über den „Fiskalvertrag“ und den ESM-Vertrag ließ die Bundesregierung sogar mit Zweidrittelmehrheit auf Basis von Art. 23 Abs. 1 GG abstimmen, um einem möglichen Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vorzubeugen, obwohl bis zuletzt juristisch umstritten war, ob dieser Abstimmungsmodus verfassungsrechtlich überhaupt geboten gewesen wäre (Calliess 2012; Hölscheidt und Rohleder 2012).

Tab. 1 Ergebnisse namentlicher Abstimmungen im Deutschen Bundestag zur Euro-Krise 2010–2012 (Ja/Nein/Enthaltung). (Quelle: DIP (Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge) des Deutschen Bundestages (http://dipbt.bundestag.de); endgültige Plenarprotokolle 17/41 (07.05.2010), S. 4019–4022; 17/44 (21.05.2010), S. 4443–4445; 17/130 (29.09.2011), S. 15234–15239; 17/160 (27.02.2012), S. 19105–19107; 17/188 (29.06.2012), S. 22736–22739, 22740–22742, 22745–22747, 17/189 (19.07.2012), S. 22836–22839; 17/212 (30.11.2012), S. 25991–25993)

4.1 Abstimmungen über Euro-Rettungsmaßnahmen im Bundestag

Während der Hochzeit der Euro-Krise von 2010 bis 2012 hat der Bundestag über zehn Gesetzentwürfe bzw. Anträge der Bundesregierung namentlich abgestimmt, mit denen verschiedene Euro-Rettungsmaßnahmen umgesetzt wurden (siehe Tab. 1). Die Mitglieder der Unionsfraktion haben allen Vorlagen mit jeweils deutlichen Mehrheiten zugestimmt, allerdings erhöhte sich die Zahl der Abweichler bei drei Abstimmungen auf 16 Abgeordnete, die der Linie der Bundesregierung nicht gefolgt sind.Footnote 3 Auch die FDP-Fraktion stimmte allen Gesetzentwürfen zur Euro-Krise mit soliden Mehrheiten zu, aber auch hier formierte sich eine kleine Gruppe von Abweichlern um den Abgeordneten Frank Schäffler.Footnote 4 Trotz innerparteilicher Differenzen konnte sich die christlich-liberale Koalition in dieser frühen Phase durchgängig auf die Gefolgschaft von mehr als 90 % der Abgeordneten der Regierungsfraktionen verlassen.

Der größte Schwenk im Abstimmungsverhalten war auf Seiten der Sozialdemokraten zu beobachten: Die SPD-Fraktion hat sich in den ersten beiden Abstimmungen über das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz (WFStG), mit dem vor allem das erste Hilfspaket für Griechenland beschlossen wurde, und das Stabilisierungsmechanismusgesetz (StabMechG) fast einstimmig enthalten und erst die darauf folgenden Euro-Rettungsmaßnahmen mit relativ großen Mehrheiten mitgetragen. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat die Politik der Bundesregierung in der Euro-Krise fast durchweg unterstützt, nur in der Abstimmung über das StabMechG am 21. Mai 2010 schlossen sich die Grünen-Abgeordneten der SPD-Fraktion an und enthielten sich einstimmig. Die Linke hat als einzige Fraktion im Bundestag alle Gesetzentwürfe und Beschlussvorlagen entsprechend ihrer kritischen Grundhaltung gegenüber der gesamten Euro-Rettungspolitik (siehe oben) einstimmig abgelehnt.

In der Summe konnten also alle Gesetzentwürfe und Anträge mit überwiegend sehr großen Mehrheiten verabschiedet werden, einschließlich der beiden Verträge, über die mit Zweidrittelmehrheit entschieden wurde. Allerdings wurde die „Kanzlermehrheit“ von 311 Stimmen in sechs Abstimmungen nicht erreicht, d. h. die Regierung war auch bei Beschlüssen mit einfacher Mehrheit auf Stimmen aus dem Oppositionslager angewiesen.

4.2 Vetospielerkonstellation bei Abstimmungen mit einfacher Mehrheit

Über acht Gesetzentwürfe bzw. Anträge wurde mit einfacher Mehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages abgestimmt, so dass die Bundesregierung diese Vorlagen allein mit Unterstützung der Fraktionen CDU/CSU und FDP hätte verabschieden können. Allerdings wurde, wie eben bereits erwähnt, die „Kanzlermehrheit“ bei fünf dieser Abstimmungen nicht erreicht, d. h. die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen hätten die Gesetze verhindern können, wenn sie geschlossen aufgetreten wären. Trotzdem befand sich die Opposition im Vorfeld dieser Abstimmungen in keiner verlässlichen Vetoposition gegenüber der Regierung: Erstens war nicht genau vorauszusehen, wie viele Mitglieder der Regierungsfraktionen wirklich von der Parteilinie abweichen würden, und zweitens wäre es höchst unsicher gewesen, ob nahezu alle Abgeordnete von SPD und Bündnis 90/Die Grünen hätten anwesend sein können und der Vorgabe gefolgt wären, mit Nein zu stimmen. Zusammengenommen waren das zu viele Unbekannte, so dass es der Opposition bei Abstimmungen mit einfacher Mehrheit nicht gelungen war, die Regierung zu Gesprächen über mögliche Bedingungen einer Zustimmung zu bewegen.

Das zeigte sich bereits vor den ersten beiden Abstimmungen, als die SPD-Führung erstmals versucht hatte, ihre zentrale Forderung nach Einführung einer Finanztransaktionssteuer einzubringen. Obwohl schon in dieser frühen Phase bis kurz vor der Abstimmung fraglich war, ob eine „Kanzlermehrheit“ erreicht werden würde, ließ sich die Regierung zu diesem Zeitpunkt auf keinen gemeinsamen Entschließungsantrag zur Kontrolle der Finanzmärkte ein, von dem die SPD ihre Zustimmung abhängig gemacht hatte (FAZ, 07.05.2010, 2). Aus Protest enthielt sich daraufhin fast die gesamte SPD-Fraktion, um ihren Unmut über die Regierung zu dokumentieren, schreckte aber vor einer Nein-Stimme zurück, weil sie ja die Finanzhilfen für Griechenland im Grundsatz unterstützte und nicht auf eine Stufe mit der Linkspartei gestellt werden wollte. Das gleiche Konfliktmuster wiederholte sich dann beim StabMechG, diesmal im Verbund mit der Grünen-Fraktion, die sich ebenfalls enthielt (FAZ, 22.05.2010, 1–2). Als die „Kanzlermehrheit“ in diesen beiden Abstimmungen am Ende doch stand, musste die rot-grüne Opposition feststellen, dass ihre Forderungen vorerst nicht durchsetzbar waren. Daraufhin kündigte die SPD-Führung in einem Schreiben an die Bundeskanzlerin vor dem EU-Gipfel vom 21. Juli 2011 an, sich bei Abstimmungen zur Euro-Krise nicht länger enthalten, sondern die Hilfsmaßnahmen trotz weiterhin bestehender Kritik unterstützen zu wollen.Footnote 5

4.3 Neue Vetospielerkonstellation bei „Fiskalvertrag“ und ESM

Als die Bundesregierung im März 2012 angekündigt hatte, den „Fiskalvertrag“ mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat ratifizieren zu lassen (SZ, 03.03.2012, 1), änderte sich die Vetospielerkonstellation. Wenige Tage vor der Abstimmung am 29. Juni 2012 beschloss die Regierung zudem, auch den ESM-Vertrag mit Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern verabschieden zu wollen, um alle verfassungsrechtlichen Einwände auszuschließen (FAZ, 26.06.2012, 1). Dadurch befand sich die Opposition frühzeitig in einer komfortablen Vetoposition: Die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP verfügten zusammen über 330 von 620 Sitzen, während die absolute Zweidrittelmehrheit 414 Stimmen erforderte. Somit war die Regierung auf die Unterstützung der SPD (146 Sitze) oder der beiden anderen Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen (68 Sitze) und Die Linke (76 Sitze) angewiesen. Da die Linkspartei jede Form von Kooperation in der Euro-Krise ausgeschlossen hatte, war die Regierung definitiv von den Sozialdemokraten abhängig, um das Quorum zu erreichen, so dass sich die SPD unabhängig vom Abstimmungsverhalten der Mitglieder der Regierungsfraktionen in einer Vetoposition befand.

Obwohl die Regierungsfraktionen und die SPD-Fraktion zusammen auf 476 Sitze kamen und damit über ein theoretisches Stimmenpolster von 62 Stimmen verfügten, war die Regierung bereit, die Führung der Grünen in den Verhandlungsprozess einzubinden. Ein Beweggrund dafür waren vermutlich die damaligen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Um die dort notwendige Zweidrittelmehrheit von 46 Stimmen zu erreichen, musste mindestens ein Bundesland zustimmen, in dem die Grünen an der Regierung beteiligt waren. Wenn man eine Interessenkongruenz oder eine hierarchische Beziehung zwischen Bundes- und Landespartei annimmt, befanden sich die Grünen demzufolge über die Länderkammer in einer externen Vetoposition. Zudem war die Zahl an Abweichlern unter den CSU- und FDP-Abgeordneten bei vorherigen Abstimmungen zu Euro-Rettungsmaßnahmen stetig angestiegen, und auch die SPD-Führung konnte nicht garantieren, dass alle SPD-Abgeordnete den ungeliebten „Fiskalvertrag“ unterstützen würden (in der Abstimmung votierten schließlich 23 mit Nein). Insofern wäre die Ratifikation dieser beiden Vorhaben zur Stabilisierung der Eurozone auch im Bundestag nicht vollkommen ohne Risiko gewesen, wenn sich die Grünen-Abgeordneten verweigert hätten. Darüber hinaus hatten führende Vertreter der Grünen-Fraktion in Plenardebatten nahezu die gleichen Forderungen gestellt wie die SPD (siehe oben), so dass für die Regierung nicht zu erwarten war, dass sie bei Einbeziehung der Grünen mehr Zugeständnisse hätte machen müssen, als wenn sie ausschließlich mit der SPD verhandelt hätte.

5 Verhandlungen zwischen Bundesregierung und rot-grüner Opposition

Kurz nachdem feststand, dass die Bundesregierung zur Ratifikation des „Fiskalvertrages“ die Unterstützung der SPD benötigen würde, machte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel die Einführung einer Finanztransaktionsteuer zur Bedingung für eine Zustimmung seiner Fraktion. Darüber hinaus verlangte er ein Programm zur Schaffung von Wirtschaftswachstum in Europa, ohne bereits konkrete Details zu nennen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt reklamierte Gabriel also keine inhaltlichen Änderungen mehr am „Fiskalvertrag“ (oder später am ESM) selbst, sondern formulierte flankierende Maßnahmen als Faustpfand für eine Ja-Stimme, die keine Nachverhandlungen der auf europäischer Ebene vereinbarten Verträge erforderlich machten. Bereits am 5. März 2012 forderten die Fraktionschefs von SPD und Grünen Bundeskanzlerin Merkel in einem gemeinsamen Schreiben auf, die Opposition rasch zu Gesprächen einzuladen (SZ, 06.03.2012, 5). Tatsächlich fanden die ersten Verhandlungen am 13. Juni 2012 statt, also erst zwei Wochen vor dem Termin der Abstimmung.

5.1 EU-Finanztransaktionssteuer

Bereits dieses erste Treffen zwischen Regierung und Opposition führte zu einer echten Kehrtwende: Die FDP gab ihren Widerstand gegen die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in der EU weitgehend auf und Finanzminister Schäuble sicherte daraufhin zu, sich beim nächsten Treffen der EU-Finanzminister am 22. Juni 2012 mit Nachdruck für dieses Projekt einzusetzen, selbst wenn sich nicht alle EU-Mitgliedstaaten daran beteiligen wollten (FAZ, 14.06.2012, 1–2). Bis dato hatte die Bundesregierung stets betont, eine Finanztransaktionssteuer sei nur dann ein sinnvolles Instrument, wenn sie in allen EU-Staaten gelten würde, um Kapitalflucht zumindest innerhalb der EU zu verhindern. Einen Tag vor dem Ratstreffen der Finanzminister in Brüssel legten Regierung und rot-grüne Opposition die Details ihrer Vereinbarung in einem „Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung“ nieder (FAZ, 22.06.2012, 1–2). Die Bundesregierung erklärte sich darin bereit, unverzüglich einen Antrag auf Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit zu stellen und die Kommission im weiteren Verfahren nach Kräften zu unterstützen. Sollte es nicht zu einer Verstärkten Zusammenarbeit kommen, werde sich die Bundesregierung „dafür einsetzen, eine Besteuerung in möglichst vielen Mitgliedstaaten im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu erreichen“ (Deutsche Bundesregierung 2012, S. 2).

Am folgenden Tag erklärten sich neun EU-Mitgliedstaaten (Frankreich, Spanien, Italien, Österreich, Belgien, Portugal, Slowenien, Griechenland und Zypern) bereit, zusammen mit Deutschland eine Steuer auf Finanztransaktionen einzuführen (FAZ, 23.06.2012, 12). Daraufhin legte die Kommission im Oktober 2012 einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer auf Basis von Art. 329 Abs. 1 AEUV vor, der am 22. Januar 2013 vom Rat für Wirtschaft und Finanzen angenommen wurde (FAZ, 23.01.2013, 10). Diese Entscheidung erlaubt einer Gruppe von Mitgliedstaaten, im Rahmen der EU-Gesetzgebung eine solche Steuer im Alleingang einzuführen, ohne dass alle anderen EU-Länder zustimmen müssen bzw. rechtlich daran gebunden sind. Knapp ein Jahr später brachte die Kommission einen ersten Initiativvorschlag für eine Richtlinie über die Umsetzung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer ein, der u. a. vorsieht, auf den Handel mit Aktien und Anleihen einen Steuersatz von mindestens 0,1 % und auf den mit Derivaten von 0,01 % zu erheben (FAZ, 15.02.2013, 13). Seitdem verhandeln die beteiligten EU-Staaten über diverse Detailfragen, da Länder wie Frankreich oder Italien schon Finanzmarktsteuern eingeführt haben und nun darauf drängen, ihr Modell so weit wie möglich auf die Ebene der EU zu übertragen (FAZ, 19.02.2014, 11). Am 6. Mai 2014 verständigten sich die Finanzminister auf einen Zeitplan für die Einführung der Steuer und unterzeichneten eine Absichtserklärung, bis spätestens zum 1. Januar 2016 zu einem Abschluss der Verhandlungen zu gelangen (FAZ, 07.05.2015, 18).

5.2 Pakt für Wachstum und Beschäftigung

Der von Bundesregierung und rot-grüner Opposition beschlossene „Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung“ (siehe oben) beinhaltete neben der Einführung einer Finanztransaktionssteuer ein ganzes Paket von Maßnahmen und Investitionsprogrammen, die direkt in den Staaten der Eurozone zur Entschärfung der dortigen Krisensituation eingesetzt werden sollten. Noch nicht abgerufene Mittel aus den Strukturfonds sollten für „wachstums- und beschäftigungsfördernde Investitionen“ verwendet werden. Das Eigenkapital der Europäischen Investitionsbank (EIB) sollte um zehn Milliarden Euro aufgestockt werden, um diese in die Lage zu versetzen, in den kommenden vier Jahren zusätzliche Kredite über jeweils 15 Mrd. € zu vergeben. Darüber hinaus sollte ein „Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit“ aufgelegt werden, mit dem sich die Mitgliedstaaten verpflichten, Jugendlichen vier Monate nach Verlassen der Schule oder nach Eintritt in die Arbeitslosigkeit eine Arbeitsstelle oder eine weiterführende Ausbildung, einen Ausbildungsplatz oder zumindest eine Praktikantenstelle anzubieten. Die Regierung sagte zu, sich auf dem anstehenden EU-Gipfel am 28./29. Juni 2012 für eine Finanzierung und schnelle Umsetzung all dieser Maßnahmen einzusetzen, was sie in den Monaten davor noch abgelehnt hatte.

Nur wenige Stunden vor der Abstimmung über „Fiskalvertrag“ und ESM im Bundestag beschloss der Europäische Rat ein Paket für Wachstum, Investitionen und Beschäftigung im Umfang von 120 Mrd. € (FAZ, 30.06.2012, 11). Eine detaillierte Analyse der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates offenbart, dass nahezu alle Maßnahmen aus der gemeinsamen Erklärung von Bundesregierung und rot-grüner Opposition in den nun auf europäischer Ebene geschlossenen „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ aufgenommen wurden. Mehrere Textinhalte wurden direkt in die Schlussfolgerungen eingefügt, einige Sätze sogar wortgleich, vor allem der verbesserte Zugang der Wirtschaft zu Finanzmitteln über die EIB sowie die Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und der Bewältigung der sozialen Folgen der Krise (Europäischer Rat 2012).

Drei Monate später verfasste die Europäische Kommission einen ersten Bericht zur Umsetzung des Pakts für Wachstum und Beschäftigung für den Europäischen Rat. Für jede Maßnahme informiert der Bericht über die bisherigen Ergebnisse und die nächsten Arbeitsschritte. Demnach hatte die Kommission bereits alle geplanten Programme auf den Weg gebracht und Vorschläge erarbeitet, für welche konkreten Maßnahmen die Finanzmittel in welcher Höhe bereitgestellt werden sollen. Vor allem die Projekte in den Abschnitten „In Wachstum investieren“ und „Mehr Arbeitsplätze und einen wirklichen europäischen Arbeitsmarkt schaffen“ sind nahezu deckungsgleich mit den Maßnahmen aus der gemeinsamen Erklärung von Regierung und rot-grüner Opposition im Bundestag (Europäische Kommission 2012).

Genau ein Jahr, nachdem der Europäische Rat den „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ geschlossen hatte, veröffentlichte die Kommission ihren zweiten Fortschrittsbericht. Auch wenn noch nicht alle Maßnahmen zum Abschluss gebracht werden konnten, hatte die Kommission nun für alle Projekte konkrete Umsetzungspläne vor Ort entwickelt bzw. Legislativvorschläge eingebracht. Zum Beispiel hatte die Kommission „das gesamte Budget für die EU-Kohäsionspolitik (346 Mrd. €) für die Programme 2007–2013 zur Verfügung gestellt, um Projekte zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung in den Mitgliedstaaten zu unterstützen“ (Europäische Kommission 2013, S. 4), entsprechend der Vereinbarung zwischen Regierung und rot-grüner Opposition.

6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Dieser Beitrag ist der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die rot-grüne Opposition ihre legislative Vetoposition im Bundestag genutzt hat, um die Euro-Rettungspolitik zu beeinflussen. Die empirische Prozessanalyse der Verhandlungen hat gezeigt, dass SPD und Grüne zwei ihrer zentralen politischen Forderungen als Gegenleistung für eine Zustimmung zu „Fiskalpakt“ und ESM-Vertrag gegenüber der Regierung durchsetzen konnten. Vor allem der Beschluss der Finanzminister aus neun EU-Mitgliedstaaten, eine Finanztransaktionssteuer im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit einführen zu wollen, ist letztlich das Resultat veränderter Mehrheitserfordernisse im Bundestag. Erst als die Bundesregierung auf die Unterstützung der rot-grünen Opposition angewiesen war, setzte sie sich mit Nachdruck auch dann für dieses Projekt ein, wenn sich nicht alle EU-Mitgliedstaaten daran beteiligen sollten, was sie zuvor wegen der daraus möglicherweise resultierenden Wettbewerbsnachteile für den deutschen Bankensektor vermieden hatte. Unabhängig davon, wann und in welcher Form eine EU-Steuer auf Finanztransaktionen gesetzlich geregelt und erlassen wird, lässt sich diese Initiative eindeutig auf den Druck der parlamentarischen Opposition im Bundestag zurückführen.

Die gleiche Konstellation führte zum „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“, nachdem die rot-grüne Opposition als Kompensation für die rigiden Spar- und Reformauflagen monatelang erfolglos für mehr direkte Investitionen in den „Defizitländern“ der Eurozone gekämpft hatte. Mit Bezug auf die Vereinbarung zwischen Regierung und rot-grüner Opposition vom 21. Juni 2012 erklärte Steinmeier die „reine Austeritätspolitik“ in der Plenardebatte am Tag vor dem Treffen des Europäischen Rates am 28./29. Juni 2012 für beendet: „Konsolidierung und Wachstum, das ist der neue Zweiklang. Ihn gäbe es nicht ohne Sozialdemokraten, auch nicht in diesem Parlament.“ In Richtung der Regierungsfraktionen ergänzte er: „Ein Fiskalpakt allein, wie Sie ihn ursprünglich verhandelt haben, hätte in diesem Parlament keine Chance auf eine Zweidrittelmehrheit“ (Steinmeier 2012, S. 22226 D). Am Ende seiner Rede ermahnte er die Bundeskanzlerin, dass er seiner Fraktion nur dann eine Zustimmung empfehlen könne, wenn „das Verhandlungsergebnis verbindlich in die Ergebnisse des Europäischen Rates eingehen wird“ (2012, S. 22227 C). Sehr ähnlich äußerte sich anschließend auch Priska Hinz für die Grünen-Fraktion: „Zwei Jahre Ideologie, dass nämlich Wettbewerbsfähigkeit nur durch ein Spardiktat erreicht werden kann, gehen jetzt zu Ende, und das ist richtig so. Wir haben dazu beigetragen, dass dieser Weg endlich zu Ende geht“ (Hinz 2012, S. 22234 A). Unter speziellen institutionellen Kontexten sind also sogar Oppositionsparteien in nationalen Parlamenten als Vetospieler im Mehrebenensystem der EU zu berücksichtigen.

Dabei kann die rot-grüne Opposition durchaus als „konstruktiver Vetospieler“ (Benz 2003) in der Euro-Krise bezeichnet werden, da sie die Ratifikation der beiden Verträge nicht etwa blockiert, sondern einen finanziellen Beitrag der Kapitalmärkte und mehr Wachstumsimpulse als Ergänzung zur Politik der Konsolidierung eingefordert hat. Diese kooperative Verhandlungssituation war jedoch nur möglich, weil sich beide Parteien, im Gegensatz zur Linkspartei, nie kategorisch gegen die Einrichtung des ESM und den „Fiskalvertrag“ ausgesprochen hatten und somit Koppelgeschäfte um den eigentlichen Entscheidungsgegenstand herum vereinbart werden konnten.Footnote 6 Deswegen konnten die Führungen von SPD und Grünen ihren Abgeordneten (und Wählern) das Verhandlungsergebnis als Erfolg präsentieren, was nicht möglich gewesen wäre, wenn sie die Bereitstellung von Krediten zur Stabilisierung der Eurozone grundsätzlich abgelehnt hätten. Außerdem kommt sicher hinzu, dass die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition im Vorfeld der Bundestagswahlen im September 2013 stattfanden und bereits in dieser Phase alle Wahlprognosen darauf hindeuteten, dass sehr wahrscheinlich die Bildung einer Großen Koalition notwendig werden würde. Vor diesem Hintergrund wäre eine Strategie der strikten Nichtkooperation in so einer gewichtigen europapolitischen Frage gerade für die SPD wenig zielführend gewesen (Zimmermann 2015).

Trotzdem bestätigt dieses Ergebnis die engen Grenzen der Kontrolle nationaler Parlamente und speziell nationaler Oppositionsparteien im Mehrebenensystem der EU (Maurer 2012; Eberbach-Born et al. 2013; Abels in diesem Band) und insbesondere während der Euro-Krise. Weil nahezu alle Euro-Rettungsmaßnahmen ausschließlich auf europäischer Ebene und weitgehend hinter verschlossenen Türen verhandelt wurden, konnte die rot-grüne Opposition trotz Vetoposition praktisch keinen Einfluss auf den Verhandlungsprozess nehmen, sondern hätte zwischenstaatliche Verträge und Abkommen erst ex post ablehnen können. Deswegen spielten die eigentlichen Vertragsinhalte in den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition keine Rolle, obwohl SPD und Grüne mehrere Regelungen im „Fiskalvertrag“ kritisiert hatten. Die Verhandlungen auf europäischer Ebene waren zu diesem Zeitpunkt jedoch schon abgeschlossen, und weder Regierung noch Opposition wollten den mühsam erzielten Kompromiss wieder aufbrechen und die Staats- und Regierungschefs der EU zurück an den Verhandlungstisch zwingen. Nur so lässt sich die Einigung auf ein Bündel flankierender Maßnahmen erklären, während der Abstimmungsgegenstand in den Verhandlungen auf nationaler Ebene komplett ausgeklammert wurde.