1 Einleitung

Ich danke den Herausgeberinnen dieses Bandes sowie zwei anonymen Gutachter(inne)n für hilfreiche Hinweise zur Verbesserung dieses Beitrags. Alle verbleibenden Fehler und Unklarheiten sind allein der Autorin zuzuschreiben.

In Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise wurden durch die EU-Institutionen seit 2011 bestehende Mechanismen der EU-weiten Koordinierung und Kontrolle nationaler Politiken – insbesondere mit Blick auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik – in erheblichem Umfang ausgebaut. Bestehende Berichtspflichten aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wie das Nationale Reformprogramm (zur geplanten nationalen Umsetzung EU-europäischer wirtschaftspolitischer Kernziele) und das Stabilitätsprogramm (zu den Maßnahmen zur Sicherung finanzpolitischer Stabilität) wurden inhaltlich stärker fokussiert und nun in jährlichem Rhythmus (im Rahmen des so genannten ‚Europäischen Semesters’) enger und zeitgleich getaktet. Neu eingeführt wurden außerdem die Verpflichtung zur Vorlage der jährlichen Budgetplanung (im Rahmen des so genannten ‚Two Pack’), die Ankopplung der Berichte an neue Governance-Mechanismen zur finanzpolitischen Konsolidierung (im Rahmen des Fiskalpaktes) und zur Vermeidung bzw. zum Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte (im Rahmen des aktualisierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes) sowie die höhere Verbindlichkeit der von der Kommission erarbeiteten länderspezifischen Empfehlungen. Diese teilweise neuen, teilweise überarbeiteten Verfahren verfolgen das Ziel, langfristig Wachstum und Stabilität in Europa zu sichern

Mit dem Anspruch einer engeren Koordinierung nationaler Wirtschafts- und Finanzpolitiken durch die Kommission haben sich sowohl vertikal als auch horizontal die Machtverhältnisse im gewaltenteiligen EU-Mehrebenensystem verändert (vgl. zur Unterscheidung zwischen der horizontalen und der vertikalen Dimension der Gewaltenteilung auch die Einleitung von Hartlapp/Wiesner sowie den Beitrag von Benz in diesem Band). Demokratie, Gewaltenteilung und Legitimation spielten bei den Reformen gegenüber exekutiver Handlungsfähigkeit, Stabilität und Kontrolle eine klar untergeordnete Rolle. Der Europäische Rat und die Kommission konnten als Exekutivorgane ihren Entscheidungsanspruch als Krisenmanager gegenüber dem Europäischen Parlament bekräftigen und somit das Übergewicht der exekutiven gegenüber den legislativen Institutionen der EU weiter verschärfen (vgl. zu den Effekten der Eurokrise auf die europäische Gewaltenteilung die Beiträge von de Conceiao-Heldt und von Wiesner in diesem Band). Im vertikalen Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten bedeuten die Reformen einen weiteren Eingriff in traditionell souveräne Kompetenzbereiche der Mitgliedstaaten, auch wenn diese Eingriffe grundsätzlich über die Neufassung des Artikels 136 EUV gedeckt sind.

Ähnlich gestalten sich die Folgen auch auf nationalstaatlicher Ebene. Die starke Betonung finanz- und wirtschaftspolitischer Themen im Rahmen des neuen Governance-Regimes, die durchstrukturierten und eng getakteten Berichtspflichten sowie die politischen Konsequenzen, die sich für die Nationalstaaten aus dem verstärkten EU-weiten Koordinierungsanspruch (bzw. ggf. aus einer Verletzung der Verpflichtungen) ergeben, haben jene Tendenzen verstärkt, die in der verwaltungswissenschaftlichen Europäisierungsforschung schon seit den 2000er-Jahren beobachtet wurden – eine Verschiebung der Macht von der Legislative zur Exekutive und innerhalb der Exekutive eine Zentralisierung der Macht in der Kernexekutive. Dies ist insofern bemerkenswert, als Deutschland in den vergleichenden Untersuchungen zur Europäisierung nationaler Verwaltungen (Kassim et al. 2000) bislang eine Sonderstellung einnahm und als stark dezentralisiert galt. Die jüngsten Reformen scheinen nun dafür gesorgt zu haben, dass auch Deutschland in den allgemeinen Trend der Machtzentralisierung einschwenkt, was mit Blick auf die demokratiesichernde Funktion der Gewaltenteilung durchaus als problematisch einzuschätzen ist.

Ziel dieses Beitrags ist es daher, die Auswirkungen der jüngeren Reformen europäischer Governance-Mechanismen in Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Machtverteilung und Koordinationsmechanismen der bundesdeutschen Ministerialbürokratie zu untersuchen. Während die Europäisierung nationaler Verwaltungen im Zuge der Vertiefung der EU (nach Maastricht und Lissabon) intensiv ländervergleichend erforscht wurde, liegen für die Effekte der jüngsten Reformen noch keine Untersuchungen vor. Der Fokus auf Deutschland ist insofern relevant, als für Deutschland rund seit der Jahrtausendwende keine aktuellen Untersuchungen mehr durchgeführt wurden und der im EU-europäischen Ländervergleich atypische Befund einer stark dezentralisierten Europapolitik durch die neueren Entwicklungen konterkariert wird.

Zunächst werden zum besseren Verständnis der Veränderungen in der europäischen Governance kurz die Entstehungshintergründe zu und die konkrete Anwendung von den Regeln des ‚Europäischen Semesters’ (ES) und des ‚Two-Pack’ erläutert (Abschn. 2). Daraufhin werden aus der einschlägigen Forschungsliteratur Hypothesen über die Effekte der jüngsten Europäisierungswelle auf die deutsche Ministerialbürokratie abgeleitet (Abschn. 3). Diese Hypothesen werden auf der Basis von Experteninterviews überprüft (Abschn. 4). Im abschließenden Abschn. 5 werden diese Beobachtungen im Lichte der Hypothesen interpretiert.

2 Europäisches Semester und Two-Pack – das neue EU-Regelwerk zur Koordinierung von Wirtschafts- und Haushaltspolitik

Der Kern der neuen Governance-Mechanismen, die ab 2010 in Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise eingeführt wurden, findet sich im Wesentlichen in den Regelungen des Europäischen Semesters in Verbindung mit dem Two Pack. Allerdings handelt es sich hierbei keineswegs um völlig neue Instrumente, sondern vielmehr um eine Fortentwicklung der in der Lissabon-Strategie von 2000 angelegten Mechanismen.

2.1 Entstehungshintergründe von Europäischem Semester und Two-Pack

In 2000 versuchte man erstmalig, mit Hilfe eines Mix aus ‚soften’ Steuerungsinstrumenten die Koordination nationaler Politiken im Bereich der Konjunktur-, Arbeits- und Sozialpolitik zu verbessern. Unter dem Schlagwort der so genannten Methode der offenen Koordinierung (MOK) (für viele s. Benz 2007; Kaiser und Prange 2004; Borras und Jacobsson 2004) wurden Instrumente des Benchmarking, des ‚Naming, Shaming and Blaming’ eingeführt mit dem Ziel, die Politiken der Nationalstaaten stärker auf eine gemeinsame Zukunftsorientierung hin auszurichten. Die MOK verfehlte aber weitgehend die in sie gesetzten Erwartungen, und da sie in 2010 ohnehin reformiert werden sollte, bot die Ausweitung der Wirtschafts- und Finanzkrise die geeignete Folie, um die Instrumente der MOK auf Konjunkturförderung und finanzpolitische Konsolidierung hin zu konzentrieren und zugleich nachzubessern (Copeland und James 2014), was sich in einer ganzen Serie von Rechtsetzungsakten niederschlug:

  1. 1.

    Die auf Stärkung und bessere Koordinierung der wirtschaftlichen Aktivität der Mitgliedstaaten gerichtete ‚Strategie Europa 2020’ (im Folgenden: EU2020) zur Ablösung der Lissabon-Strategie wurde per Beschluss durch den Europäischen Rat am 17. Juni 2010 verabschiedet.Footnote 2 Der Beschluss führte auch das ‚Europäische Semester’ (im Folgenden: ES) als neuen Governance-Prozess ein mit dem Ziel, die wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Mitgliedstaaten stärker und konsequenter an die gesamteuropäischen Prioritäten rückzubinden. Um nachhaltiges, intelligentes und inklusives Wachstum in der EU zu sichern, sollen die nationalen Wirtschaftspolitiken in einem jährlichen Zyklus eng koordiniert werden.

  2. 2.

    Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (im Folgenden: SWP), der im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag von 1992 Stabilitätskriterien für Beitrittskandidaten festgelegt hatte und 1997 mit Blick auf die Schuldenbremsen weiter formalisiert worden war, hatte sich angesichts der Krise ebenfalls als verbesserungsbedürftig erwiesen. Er wurde im Dezember 2011 durch den so genannten ‚Six-Pack’ aktualisiert, ein Regelungspaket bestehend aus 4 Verordnungen von Rat und EP, einer Verordnung des Rates und einer Richtlinie des Rates (vgl. Henneke 2013, S 7). Durch den ‚Six-Pack’ wurden die Schuldengrenzen präzisiert, besser überwacht und durch ein abgestuftes Sanktionsverfahren unterstützt (präventiver Arm). Außerdem werden makroökonomische Ungleichgewichte einzelner Länder im Rahmen der ‚Excessive Deficit Procedure’ bekämpft (korrektiver Arm). Eine weitere Neuerung zur Stärkung der Kontrollmacht der EU ist die Umkehrung der Mehrheitserfordernisse im Rat beim Beschluss über ein Sanktionsverfahren. Infolge der Umstellung von ‚qualified majority voting’ zu ‚reverse qualified majority voting’ muss nicht mehr eine qualifizierte Mehrheit für die Einleitung eines Sanktionsverfahrens stimmen, sondern es gibt eine quasi-automatische Initiierung des Verfahrens, die nur durch eine qualifizierte Mehrheit ausgesetzt werden kann.

  3. 3.

    Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, dessen fiskalische Regelungen als ‚Fiskalvertrag’ bezeichnet werden, wurde als europavölkerrechtlicher Vertrag geschlossen, von 25 Mitgliedstaaten unterzeichnet und trat nach der Ratifikation durch 12 Mitgliedstaaten am 01.01.2013 in Kraft (Henneke 2013, S. 8). Hierdurch wurden die EU-Schuldengrenzen enger gezogen (maximale strukturelle gesamtstaatliche Neuverschuldung in Höhe von 0,5 % des BIP) und nationale Kontrollinstanzen geschaffen oder gestärkt. In Deutschland wurde in der Umsetzung des Fiskalvertrages die durch die Föko II eingeführte Schuldenbremse ergänzt und die Rolle des Stabilitätsrates aufgewertet, der nun auch die Einhaltung der EU-Schuldengrenzen überprüfen darf.

  4. 4.

    In 2013 wurde außerdem das bestehende Regelwerk für die Euro-Mitgliedstaaten durch die Verabschiedung des Two-Pack ergänzt. Hierbei handelt es sich um zwei Verordnungen des Rates, die die inhaltlichen Regeln zur Fiskalpolitik im Six-Pack um prozedurale Regeln zur besseren Koordination ergänzen, dadurch das Europäische Semester um einen weiteren Bericht im Halbjahresrhythmus komplementieren und die Zielsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes weiter unterstützen. Kernstück der Koordinierung sind die länderspezifischen Empfehlungen, die auf Basis der vorgelegten Berichte von der Kommission für die einzelnen Mitgliedstaaten ausgesprochen werden, und an denen die nachfolgenden Berichte gemessen werden.

2.2 Umsetzung von Europäischem Semester und Two-Pack

Im Frühjahr 2011 wurde das Europäische Semester (ES) erstmalig durchgeführt. Es beginnt, wenn die Kommission zum Jahresende ihren Jahreswachstumsbericht annimmt, in dem sie die wachstums- und arbeitsmarktpolitischen Prioritäten der EU für das kommende Jahr darlegt.Footnote 3 Im März zieht der Europäische Rat eine Bilanz über die makroökonomische Gesamtlage und die erzielten Fortschritte auf dem Weg zu den EU2020-Zielen und gibt politische Orientierungen zur Haushaltskonsolidierung, zu makroökonomischen und zu strukturellen Reformen. Praktisch zeitgleich wird von der Kommission für jeden Mitgliedstaat ein Analysebericht veröffentlicht, der die Wirtschaftslage, den Zeitplan für Reformen und Ungleichgewichtsprobleme des Mitgliedstaates untersucht. Im April – dies ist gewissermaßen die erste ‚Semester’-Stufe – legen die Mitgliedstaaten der Kommission zwei Berichte vor. Die wirtschaftspolitischen Ziele im Sinne der EU2020-Strategie und die Wege zu deren Erreichung sind im ‚Nationalen Reformprogramm’ dargelegt, die Pläne zur Haushaltskonsolidierung finden sich im ‚Stabilitätsprogramm’ (bzw. im ‚Konvergenzprogramm’ bei jenen Staaten, die sich in einem Haushaltssicherungsverfahren befinden). Diese Berichte werden von Experten in der Kommission geprüft, die daraufhin ‚länderspezifische Empfehlungen’ (LSE) verfassen. Diese Empfehlungen enthalten Handlungsvorschläge für die Mitgliedstaaten, wo sie in den kommenden 12 bis 18 Monaten Maßnahmen ergreifen sollten, um ihre wirtschafts- und haushaltspolitischen Mittelfristziele besser zu erreichen. Die LSE werden ca. Ende Juli vom Rat genehmigt und im Herbst im Europäischen Parlament debattiert.

Die zweite Stufe des ‚Semester’-Turnus wurde durch den ‚Two-Pack’ ab 2013 für die Euro-Mitgliedstaaten eingeführt. Sie folgt im Herbst, wenn die Euro-Mitgliedstaaten im Oktober der Kommission ihre Haushaltsentwürfe vorlegen müssen, noch bevor sie auf nationaler Ebene in die parlamentarische Phase gehen. Im November gibt die Kommission eine Stellungnahme zu jedem einzelnen Entwurf ab. Dabei prüft die Kommission insbesondere, ob die Haushaltsentwürfe den Anforderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts entsprechen. Diese Stellungnahmen werden von den Finanzministern im Ecofin-Rat noch einmal diskutiert, und erst dann werden die Haushaltspläne für das kommende Jahr in den nationalen Parlamenten verabschiedet.

Die enge Taktung dieser Berichtspflichten macht eine effiziente Koordination durch die federführenden Ministerien erforderlich. Diese müssen Informationen von anderen Ressorts sowie teilweise von den Bundesländern oder privaten Akteuren einholen, die Berichte verfassen und hierbei auch peinlich genau darauf achten, dass die Vorgaben der Kommission für das jeweilige Land aufgegriffen werden.

3 Effekte der Europäisierung nationaler Verwaltungen – Forschungsstand und Hypothesen

3.1 Das Konzept der Europäisierung

Unter dem Stichwort der ‚Europäisierung’ werden Anpassungsprozesse in den nationalen politischen Systemen untersucht, die in Reaktion auf Entwicklungen oder Reformen auf der EU-Ebene vollzogen werden (Featherstone und Radaelli 2003; Bretherton und Mannin 2013). Wesentliche Ergebnisse der Europäisierungsforschung deuten darauf hin, dass zwar einerseits von EU-Politiken ähnliche Impulse auf die Anpassungsprozesse der nationalen Systeme ausgehen, weshalb tendenziell eine Konvergenz der nationalen Strukturen und Prozesse vermutet wird (Knill und Lehmkuhl 1999; Holzinger und Knill 2005); andererseits wird dieser Trend zur Konvergenz abgeschwächt durch die Eigenheiten und Besonderheiten jedes Systems, die die Anpassungsprozesse pfadabhängig beeinflussen – der Anpassungsdruck wird desto größer, je geringer die Übereinstimmung zwischen nationalen Institutionen und den EU-Vorgaben ist (Börzel und Risse 2003).

Als institutionelle Anpassungen gelten beispielsweise die Einrichtung von Organisationseinheiten, die den Input seitens der EU verarbeiten sollen und erhöhte Koordinationserfordernisse auffangen, etwa Europaausschüsse in Parlamenten, Europaministerien oder Europaabteilungen in Ministerien. Auch die Veränderung von Abläufen, von Mitsprache- oder Vetorechten können Indikatoren für Europäisierung sein, wie bspw. in Deutschland die Neufassung des Art. 23 GG von 1994 verdeutlicht.

Während unterschiedliche Bereiche eines politischen Systems europäisiert sein können – etwa Parteien, Parlamente oder Medien (Hix und Goetz 2000; Goetz und Meyer-Sahling 2008), hat sich mit Blick auf die Europäisierung nationaler Verwaltungssysteme und Exekutiven ein florierender Forschungszweig entwickelt, in dem ländervergleichende Evidenz systematisch zusammengetragen wurde (Kassim et al. 2000; Kassim 2003). Die meisten dieser Studien fokussieren zeitlich auf die institutionellen Anpassungen nach Maastricht und der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion bis zur Jahrtausendwende. Ab 2000 wurden im Rahmen der so genannten Lissabon-Strategie mit der Methode der offenen Koordinierung neue Governance-Mechanismen eingeführt, die die Europäisierung nationaler Verwaltungen weiter vorantrieben. Die Effekte dieser Reformen wurden insbesondere in zwei Studien ausdrücklich herausgearbeitet: Klaus Goetz ging auf Basis einer Sichtung der existierenden Literatur davon aus, dass hierdurch 1) generell die nationale Exekutive gestärkt werde und somit der Entparlamentarisierung nationaler Politik Vorschub geleistet werde; dass 2) von der Stärkung der nationalen Exekutiven die Verwaltung mehr profitiere als die Regierung; dass sich 3) innerhalb der Ministerialverwaltung eine privilegierte ‚EU-Kernexekutive’ herausbilde und dass 4) die intergouvernementalen Beziehungen stärker zentralisiert würden (Goetz 2006, S. 473 ff.). Noch stärker fokussiert auf die KernexekutiveFootnote 4 ist die Untersuchung von Susanna Borras und Guy Peters, die in sieben Ländern vergleichend die Effekte der Lissabon-Strategie auf nationale Ministerialverwaltungen untersuchen. Sie finden heraus, dass 1) die relative Dominanz der Regierungszentrale gegenüber den anderen Ressorts zunimmt sowie dass 2) die Bedeutung der politischen Führung gegenüber der Ministerialbürokratie zunimmt (Borrás und Peters 2011, S. 530). Während die erste Hypothese mit Goetz’ Vermutungen gleichläufig ist – beide beobachten oder unterstellen einen Trend zur Zentralisierung innerhalb der Regierung, ist ihre zweite These widersprüchlich zu Goetz. Goetz unterstellt ein zunehmendes Gewicht der Bürokratie, Borras und Peters finden ein zunehmendes Gewicht der politischen Führung.

Im Vergleich zu diesen Befunden wurde Deutschland häufig eine Sonderrolle zuerkannt. Während Europäisierung in den meisten Ländern – allen voran Frankreich und UK – eine starke Zentralisierung von Macht innerhalb der Kernexekutiven bedeutete, galt Deutschland als Verwaltungssystem, in dem Koordinations- und Entscheidungsprozesse noch weitgehend dezentral organisiert waren (Derlien 2000; Bulmer et al. 2001; Große Hüttmann 2007). Allerdings wies Derlien (2000, S. 61) bereits auf eine wichtige Unterscheidung hin, die er mit dem ‚Specialist track’ einerseits und dem ‚Diplomatic track’ andererseits bezeichnete. Der ‚Specialist track’ in den Fachressorts folgt dem typisch deutschen Koordinationsschema der ‚negativen Koordination’ (Mayntz und Scharpf 1975) und ist weitgehend dezentral organisiert. Der ‚Diplomatic track’ kommt bei ‚High politics’ zur Anwendung, wo es um politikfeldübergreifende Richtungsentscheidungen oder die institutionelle Ordnung der EU geht. Hier ist eine Tendenz zur zentralen Koordination im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt zu erkennen (Derlien 2000, S. 61 ff.).Footnote 5

3.2 Europäisierung als Anpassung an erhöhten Koordinationsbedarf

Auch die jüngsten Reformen in Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise schafften wiederum Anpassungserfordernisse auf nationalstaatlicher Ebene. Im Wesentlichen lässt sich der durch die Reformen erzeugte Anpassungsdruck als erhöhter Koordinationsbedarf innerhalb der nationalen Exekutiven beschreiben, um die Anforderungen an die Berichte und die Umsetzung der Vorgaben innerhalb der gegebenen Zeitfenster zuverlässig zu garantieren und auf diese Weise Sanktionen der EU zu vermeiden. Um diesen Koordinationsbedarf zu bewältigen, werden institutionelle oder prozedurale Anpassungen vorgenommen.

In der verwaltungswissenschaftlichen Forschung spielt das Konzept der Koordination eine prominente Rolle (vgl. für viele Peters 1998, 2006). Die einschlägige Literatur bleibt jedoch zumeist bei der Beobachtung stehen, dass Koordination einerseits wichtig und andererseits schwer zu erreichen ist. Diskutiert wird erstens, ob Koordination einfacher innerhalb einer (großen) Organisation oder zwischen mehreren (kleineren) Organisationen zu erreichen ist. Während im Zuge der NPM-Ideologie die Agenturbildung mit dem Ziel der Schaffung vieler kleiner und autonomer Einheiten vorangetrieben wurde (vgl. für viele Hood et al. 1999; Pollit et al. 2001), schwang das Pendel dieses Trends dann wieder zurück und führte zu den Diskussionen über ‚Joined-up government’ (JUG) und ‚Whole of government’ (WOG) als mögliche Lösungen für die Koordinationsprobleme, die durch die exzessive Agenturbildung entstanden waren (Halligan 2007; Pollitt 2003). Letztlich sind dies Erwägungen analog zur betriebswirtschaftlichen Diskussion um ‚make-or-buy’, ob also Transaktionskosten höher sind, wenn innerhalb einer großen Organisation (hierarchisch) koordiniert werden muss oder zwischen mehreren Organisationen (mit Hilfe von Verträgen bzw. Marktmechanismen) Koordination erzeugt wird. Die Überlegungen zu den Vor- und Nachteilen von Agenturbildung im Hinblick auf Koordinationsprobleme haben eine asymmetrische Machtkonstellation im Blick (Ministerium – Agentur), die sich durch eine Principal-Agent-Beziehung versinnbildlichen lässt. Eine (Re-)Zentrierung von Kompetenzen in diesem Sinne bedeutet eine Stärkung der Linienverwaltung gegenüber aus- oder nachgelagerten Verwaltungseinheiten und eine Rückführung von vertragsähnlichen zu hierarchischen Koordinationsbeziehungen. Diese Konstellation ist aber innerhalb der deutschen Kernexekutive aufgrund des Mangels an Agenturen nicht von Bedeutung.

Hiervon zu unterscheiden sind zweitens intersektorale Koordinationserfordernisse innerhalb einer Regierung, also zwischen Akteuren, die auf Augenhöhe miteinander umgehen. Gemäß dem Konzept der ‚negativen Koordination’ lassen sich zwar durch dezentrale Entscheidungskompetenzen Transaktionskosten reduzieren (Mayntz und Scharpf 1975), aber keine komplexen Entscheidungen (etwa durch Log-Rolling oder Package Deals) realisieren. Eine Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen andererseits mit dem Ziel der Reduktion von Koordinationserfordernissen käme einer Hierarchisierung der Akteure gleich und deutete damit auf eine Tendenz zur Präsidentialisierung (Poguntke und Webb 2005), die zumindest nach dem Grundgesetz so nicht vorgesehen ist. Vielmehr sieht Art. 65 GG ein Spannungsverhältnis zwischen dem Kanzlerprinzip, dem Kabinettprinzip und dem Ressortprinzip vor, das in den politischen Aushandlungsprozessen der Regierung ausbalanciert werden muss.

Innerhalb möglicher administrativer Koordinationsbeziehungen muss drittens berücksichtigt werden, wie sich höhere Koordinationsbedarfe, die von extern an die nationalen Kernexekutiven herangetragen werden, auf das Verhältnis von politischer Führung und der administrativen Ebene in Ministerien auswirken, wie es in der ‚Executive politics’-Forschung analysiert wird (Dunleavy und Rhodes 1990; Peters et al. 2000; Dahlström et al. 2011). Ein höherer Koordinationsbedarf kann bspw. durch mehr autonome Kompetenzen der Arbeitsebene gedeckt werden, was verhindert, dass die politische Führung überlastet wird. Hierdurch verschiebt sich aber das Machtverhältnis zwischen Politik und Verwaltung zugunsten der Verwaltung. Dies würde die These von Goetz einer zunehmenden Macht der Bürokratie unterstützen. Umgekehrt ist es auch denkbar, wie Borras und Peters in ihrer Untersuchung herausgefunden haben, dass die Bedeutung politischer Entscheidungsrationalitäten gegenüber der bürokratischen Routine zunimmt. Einen dritten denkbaren Weg skizzieren Dahlström et al. (2011, S. 12), nämlich die (Partei-)Politisierung der Verwaltungseliten als Mechanismus, um sie enger an die politischen Vorgaben rückzubinden, ohne sie direkt kontrollieren zu müssen. Während sie selbst diese Strategie als ‚schwerfällig’ kritisieren, besteht ein eleganterer Weg in der Sensibilisierung von Spitzenbeamten für die politische Dimension ihrer Tätigkeit. Dies wird in der Politisierungsforschung in Abgrenzung zur Parteipolitisierung als ‚funktionale Politisierung’ bezeichnet (Mayntz und Derlien 1989; Schwanke und Ebinger 2006). Indem Spitzenbeamte die Zielvorstellungen der politischen Führung internalisieren, können sie administrative Handlungs- und Entscheidungsspielräume nutzen, ohne in einen Interessenkonflikt mit der politischen Leitung zu geraten. In dem Maße, wie also die Verwaltungselite funktional politisiert ist, stellt sich die Frage nach einer Bürokratisierung (im Sinne von ‚bureaucratic politics’, vgl. Allison und Halperin 1972) oder einer Politisierung von Entscheidungen nicht mehr als Gegensatz dar.

3.3 Effekte der Europäisierung – Hypothesen

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die neuen europäischen Governance-Mechanismen für die nationalen Ministerialverwaltungen einen erhöhten Koordinationsbedarf schaffen. Somit kann in diesem Sinne die Europäisierung als ein Auslöser für institutionelle oder prozedurale Anpassungsprozesse gesehen werden, um diesen erhöhten Koordinationsbedarf zu verarbeiten. Hierbei wird vermutet, dass auf verschiedenen Dimensionen der Koordination unterschiedliche Anpassungen beobachtet werden können. Während die Koordination zwischen Kernverwaltung (Ministerium, oberste Behörde) und nachgelagerten Behörden oder Agenturen für die deutsche Kernexekutive praktisch irrelevant ist (Döhler 2005), sind Veränderungen in der Koordination zwischen den Ressorts einer Regierung zu beobachten sowie innerhalb von Ministerien.

Hypothese 1

Innerhalb der Exekutive werden zwischen den einzelnen Ressorts Entscheidungskompetenzen zentralisiert mit dem Effekt einer Hierarchisierung im Kabinett. Diese Reaktion auf den erhöhten intersektoralen Koordinationsbedarf ist plausibler als eine verstärkte Dezentralisierung, da die Konzentration der neuen Governance-Mechanismen auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik diesen Politikfeldern eine deutlich herausgehobene Bedeutung zuerkennt.

Hypothese 2

Innerhalb der einzelnen Ressorts kommt es im Verhältnis zwischen politischer Führung und administrativer Elite zu einer verstärkten funktionalen Politisierung. Dieser Effekt ist wahrscheinlicher als eine einseitige Politisierung oder Bürokratisierung der Entscheidungen, da die engen zeitlichen Vorgaben der neuen Governance-Mechanismen eine schnelle Bearbeitung erfordern, die dann erreicht werden kann, wenn nicht für jede Unterschrift der hierarchische Dienstweg eingehalten werden muss. Die Verwaltung arbeitet zwar nicht freihändig, kann aber in Kenntnis (und Anerkenntnis) der politischen Zielvorgaben hinreichend nahe am Willen des Ministers agieren.

4 Effekte der Europäisierung in der bundesdeutschen Verwaltung – empirische Überprüfung

Im Folgenden werden die hier aus der Literatur abgeleiteten Hypothesen für Deutschland empirisch überprüft. Die Analyse basiert auf acht Experteninterviews, die in 2013 und 2014 mit Spitzenbeamten im BK, im AA, BMF, BMWi sowie in der Ständigen Vertretung Deutschlands in Brüssel geführt wurden. Die Interviews wurden teils persönlich, teils telefonisch basierend auf einem Leitfaden geführt und richteten sich gezielt auf die Wahrnehmung von Veränderungen in der ministeriellen Koordination als Folge von EU2020 und Two-Pack.Footnote 6

4.1 Bundesregierung – Zentralisierung und Verschiebung von Macht

In Hypothese 1 wird vermutet, dass sich ein Trend zur Zentralisierung von Macht innerhalb der bundesdeutschen Exekutive mit einer Hierarchisierung innerhalb des Kabinetts beobachten lässt. Dieser Befund wird durch die Empirie bestätigt und korrigiert zumindest teilweise die bisherige Einschätzung der deutschen Europapolitik als hochgradig dezentralisiert. Tatsächlich zeigen sich eine fortschreitende Machtkonzentration im Bundeskanzleramt (BK) sowie eine Machtverschiebung vom Auswärtigen Amt (AA) hin zum Finanzministerium (BMF) und dicht dahinter zum Wirtschaftsministerium (BMWi). Der Befund der Zentralisierung betrifft aber inhaltlich nur den ‚Diplomatic Track’, der um Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik aufgrund ihrer herausragenden politischen Bedeutung erweitert wurde. Auf eine Zentralisierung der Policies, die dem ‚Specialist Track’ zuzuordnen sind, finden sich keine Hinweise.

Nach Art. 65 GG ist das Kabinettprinzip grundlegend für die Zusammenarbeit der Bundesregierung. In der Europapolitik wurde jedoch das Kabinettprinzip in dem Sinne, dass der Bundeskanzler als ‚primus inter pares’ agiert, schon lange ausgehebelt. Stattdessen konzentrierte sich die Vorbereitung und Umsetzung von EU-Politiken auf einen kleinen Kreis von Ressorts unter der Führung des BK. Traditionell kam dem AA eine wichtige Rolle zu, solange Europapolitik im Wesentlichen als Außenpolitik und Diplomatie wahrgenommen wurde. Die Ständige Vertretung als Deutsche Botschaft in der EU repräsentiert dieses Verständnis auch heute noch institutionell. Das AA wird jedoch zunehmend durch das BMF und das BMWi verdrängt. Der Bedeutungsverlust des AA zeigt sich sehr deutlich daran, dass der Außenminister nicht mehr am Europäischen Rat beteiligt ist (Interview P1). Zwar kommt dem AA über die Ständige Vertretung und die Weisungsbefugnis in den Ausschuss der Ständigen Vertreter 2 (AStV2) noch eine gewisse Rolle zu, aber eher eine formal koordinierende als eine inhaltlich vorbereitende (Interview P4). „Das Kanzleramt bedient sich des AA’s allenfalls als verlängerter Schreibtisch bzw. Zulieferer“ (Interview P1).

Zwischen BMF und BMWi besteht ein latenter Machtkonflikt, auch wenn die Beteiligten die gute Kooperation zwischen beiden Häusern betonen. Zwar hat das BMWi formal weitgehende Kompetenzen, etwa auch die Weisungsrechte in den AStV1, aber de facto war in den vergangenen Jahren das BMF enger an den Informationsfluss aus dem BK angebunden, was vermutlich auch mit Persönlichkeiten und Parteizugehörigkeit zu tun hat. Während Schäuble und Merkel seit fünfzehn Jahren ein eingespieltes Team bilden, hatte das BMWi unter Rösler oder aktuell unter Gabriel als Koalitionspartner einen schwereren Zugang. „(W)ir wünschen uns da schon mehr Offenheit und mehr Beteiligung des BMWi“ (Interview P8). Demgegenüber ist das BMF schon aufgrund der GGO in allen Finanzfragen in der europapolitischen Koordination zu beteiligen, es hat im Ecofin und auch beim Wirtschafts- und Finanzausschuss ein starkes Gewicht, übernimmt die innerdeutsche Federführung und kann dort auch eigenständig die deutsche Position vorbereiten und vertreten (Interview P2, P8).

Einhellig wird eine große Machtkonzentration beim BK gesehen. Merkel mache zwar nie formell von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch, aber für alle Richtungsentscheidungen sowie auch bei der Erarbeitung der europäischen Reformstrategien ist das BK tonangebend (Interview P8). Dieser Machtanspruch wird von den anderen Ressorts nicht in Frage gestellt. „Es gibt einen Trend, in der Bundespolitik, und der hält schon seit einer Reihe von Jahren an. Und der hat eigentlich nicht mit Frau Merkel angefangen. Die Bundeskanzler interessieren sich zunehmend für die EU-Themen, und bündeln diese auch. Das hat’s schon unter Helmut Kohl gegeben, und das war unter Gerhard Schröder der Fall. Da ist einfach immer mehr ins Bewusstsein geraten, wie wichtig die Europapolitik für die gesamte Steuerung ist. Deshalb ist das auch stärker im Kanzleramt angesiedelt, das sie wirklich mit großem Engagement und natürlich auch vom politischen Gewicht her begleiten“ (Interview P2).

4.2 Ministerialbürokratie – funktionale Politisierung

In Hypothese 2 wurde vermutet, dass die erhöhten Koordinationsbedarfe innerhalb der Ministerien durch eine verstärkte funktionale Politisierung der Spitzenbeamten aufgefangen werden. In der Tat bestätigt sich der erhöhte Koordinationsbedarf sowie eine – auch von den Beamten selbst so wahrgenommene – stärkere Identifikation mit den Zielen und Strategien der politischen Führung.

Die erhöhten Koordinationsbedarfe ergeben sich durch die engere zeitliche Taktung der Berichtspflichten. Im Frühjahr müssen das Stabilitätsprogramm (das die mittelfristige Haushaltsplanung vorstellt und vom BMF erarbeitet wird) und das Nationale Reformprogramm (das die wirtschaftspolitische Planung vorstellt und vom BMWi erarbeitet wird) eingereicht werden. Hierbei arbeiten die jeweiligen Spiegelreferate dem anderen Ressort zu (Interview P7). Die im Oktober fällige Haushaltsübersicht ist zeitlich und inhaltlich eng an die Erstellung des Haushaltsplanes gekoppelt, und auch die Frühjahresberichte überlappen inhaltlich und zeitlich stark mit dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung (Interview P1, P7). Das erleichtert zwar die inhaltliche Arbeit, erhöht aber den zeitlichen Druck.

Der erhöhte Koordinationsaufwand wird teilweise durch mehr Personal (Interview P2) oder durch interne Umverteilung von Aufgaben aufgefangen (Interview P7), aber auch die Hierarchien werden als abgeflacht wahrgenommen, Konzepte werden in Team- und Projektarbeit entwickelt. Der Zugewinn an Autonomie auf der Arbeitsebene ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass in kurzer Zeit viele Informationen verarbeitet werden und Entscheidungen getroffen werden müssen, die schlicht aus Zeitgründen nicht jedes Mal den kompletten Dienstweg beschreiten können. Diese Freiräume täuschen aber nicht darüber hinweg, dass der Minister das letzte Wort hat, was von den Beamten jedoch solidarisch akzeptiert wird. „Ja, er ist der Minister. Das ist ganz einfach. Also man sollte, das unterschätzen sogar in der Regel Minister, man sollte die Loyalität des Apparates gegenüber der jeweiligen Leitung nicht unterschätzen. Die ist in aller Regel, durchaus auch aus Selbstinteresse, außerordentlich hoch“ (Interview P1).

Man sieht sich als ‚ehrlicher Ratgeber’ und versucht, den Minister bestmöglich zu unterstützen (Interview P2). Diese Beschreibungen decken sich fast wortgleich mit den Items, mit denen funktionale Politisierung in Umfragestudien gemessen wurde (Derlien und Mayntz 1989; Schwanke und Ebinger 2006). Die Antizipation der politischen Einschätzung der Hausleitung und die Akzeptanz des politischen Führungsanspruchs haben sich in Folge der Krise noch erhöht. „Wir haben eine Guidance, eine Leitung, wobei natürlich, das ist interaktiv. Es gibt natürlich ganz klare Leitlinien der Minister, die dann im Haus politisch umgesetzt werden. …Das BMF ist natürlich immer ein politisches Haus gewesen. Aber ich glaube, das Bewusstsein dafür ist nochmal gewachsen“ (Interview P3).

Auch die Solidarität wurde durch die Krise noch weiter verstärkt, die Zielsetzungen und Grundwerte der deutschen Europastrategie wurden internalisiert und werden aktiv mit getragen, was von einigen Beamten als ‚ideeller Wandel’ beschrieben wird. „Es hat sich schon etwas in den letzten Jahren verändert, ganz bestimmt. Das ist nicht nur die Frage der Organisation von Prozessen, sondern auch die Grundüberzeugung. Es hat sich die entscheidende Grundüberzeugung gebildet, dass man gesehen hat, dass eine Währungsunion ohne effektive wirtschaftspolitische Koordinierung nicht funktionieren kann“ (Interview P3).

Diese Beschreibung entspricht dem ‚Rally-round-the-flag-effect’ (Mueller 1970) in dem Sinne, dass eine massive externe Krise oder Bedrohung dazu führt, dass man interne Differenzen beiseitelegt und sich unkonditional hinter die politische Führung stellt. Die Beamten verlieren also subjektiv keine Autonomie, wenn sie die Präferenzen ihrer Hausleitung antizipieren, sondern gewinnen im Gegenteil sogar hierdurch große Handlungsspielräume. Aufgrund des ‚interaktiven’ Abgleichens von Vorstellungen der Arbeitsebene mit den Leitlinien der Politik entstehen Freiräume für die Gestaltung von Vorschlägen, die sehr weit autonom entwickelt werden können.

5 Schlussfolgerungen

Die Verschärfung bestehender und die Einführung neuer Governance-Mechanismen in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise sollten dazu dienen, die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen der Euro-Mitgliedstaaten enger zu koordinieren, um auf diese Weise präventiv für Stabilität und wirtschaftliches Wachstum in Europa zu sorgen. Die eng getakteten Berichtspflichten der Regierungen der Mitgliedstaaten an die Kommission auf Basis allgemeiner sowie länderspezifischer Vorgaben und die Überprüfung der Einhaltung von Grenz- und Zielwerten stellen einen massiven Eingriff in die autonome Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten dar. Hierdurch werden Machtverhältnisse sowohl zwischen den Gewalten als auch zwischen den Ebenen und im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander neu justiert.

Aber auch auf der nationalen Ebene führten diese Entwicklungen zu einer weitergehenden Europäisierung aufgrund der erhöhten Koordinationserfordernisse. Tendenziell nahm die Autonomie der Bundesregierung gegenüber dem Parlament sowie der Bundesebene gegenüber der Länderebene im Verlauf der Krise zu. Und selbst innerhalb der Exekutive haben sich Machtverhältnisse verschoben. In der Bundesregierung kam es zu einer Hierarchisierung zwischen den Ressorts, wobei das BK einen zunehmenden Führungsanspruch geltend macht, der weitgehend unwidersprochen hingenommen wird. Eine herausgehobene Position kommt infolge der Konzentration auf Wirtschafts- und Finanzpolitik außerdem dem BMF und dem BMWi zu, die das AA von seiner traditionell wichtigen Stellung in EU-Angelegenheiten erfolgreich verdrängt haben.

Innerhalb der Ministerien bewirkte die Krise eine Solidarisierung und starke Identifikation der Arbeitsebene mit den politischen Zielvorgaben. Hierdurch wurde ein faktisches Abflachen von Hierarchien und ein Zugewinn an Handlungs- und Entscheidungsautonomie der Arbeitsebene möglich, der sich aber weder als ‚Bürokratisierung’ noch als ‚Politisierung’ zutreffend beschreiben lässt, sondern als Autonomiegewinn im Schatten der Hierarchie aufgrund von funktionaler Politisierung. Beide Effekte – Zentralisierung und funktionale Politisierung – deuten auf eine fortschreitende Präsidentialisierung Deutschlands, womit es sich in den Kanon der anderen europäischen Staaten einreiht. Die Effekte der Europäisierung in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise stellen somit gesamteuropäisch gesehen keinen Bruch mit früheren Entwicklungen dar; speziell in Deutschland haben sie aber doch tiefgreifende Veränderungen angestoßen.

Die hier herausgearbeiteten Ergebnisse bieten allerdings keine Hinweise darauf, wie die generelle Machtverschiebung hin zu den Exekutiven, die sich in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise beobachten lässt, sowie konkret die zunehmende Schwierigkeit für die Parlamente, in Situationen, die einerseits durch hoch technische Komplexität gekennzeichnet sind und andererseits durch krisenhaften Zeit- und Entscheidungsdruck, parlamentarische Verantwortlichkeit effektiv einzufordern, durch stabilisierende Mechanismen wieder korrigiert werden kann (wie es Benz in diesem Band andeutet).