1 Einleitung

Der Parlamentarismus wurde erst im Laufe einer jahrhundertelangen Entwicklung in den Dienst einer Demokratisierung gestellt (siehe auch die Einleitung in diesem Band). Er ist heutzutage das „leitende Funktionsprinzip“ (Marschall 2005, S. 17) zur Rechtfertigung politischer Herrschaft. Parlamente verkörpern die Idee der Volkssouveränität und gehören in repräsentativen Demokratien zum Kernbestand politischer Institutionen. Parlamenten wird dabei eine Reihe von zentralen Funktionen zugesprochen. Diese lassen sich mit Patzelt (2003, S. 13–49) aufteilen in einerseits regierungsbezogene Funktionen, wie die Wahl und Kontrolle der Regierung, die Gesetzgebungsfunktion und der institutionelle Selbsterhalt, andererseits repräsentationsbezogene Funktionen. Zu letzteren gehören die expressive Artikulationsfunktion und die Sicherung der Responsivität, des Weiteren die Kommunikation und Vernetzung mit der Bürgerschaft.

Obgleich insgesamt ein Erfolgsmodell, so ist doch anzumerken, dass der Parlamentarismus heute unter erheblichen Anpassungsdruck geraten ist, insofern Parlamente nicht (mehr) oder nur noch eingeschränkt in der Lage sind, diese umfassenden Funktionen in hinreichendem Maße zu erfüllen. In diesem Kontext ist die Diagnose eines Zeitalters des „Post-Parlamentarismus“ (Benz 1998) oder gar einer „Post-Demokratie“ (Crouch 2008) weit verbreitet und findet v. a. in Bezug auf die parlamentarische Dimension des EU-Mehrebenensystems großen Widerhall. In den Debatten über das Demokratiedefizit der EU entpuppt sich das Legitimationsdefizit primär als „parlamentarisches Defizit“ (Lord 2013, S. 236 ff.). Dieses Defizit zielt nicht nur auf die institutionelle Machtposition der Parlamente auf den verschiedenen Ebenen ab, sondern beinhaltet ebenso die Problematik einer unzureichenden Politisierung von EU-Politik (z. B. Mouffe 2013, Rauh und Zürn 2014) und eines eingeschränkten Parteienwettbewerbs um Politikpositionen (vgl. Hix 2006). Das damit einhergehende Legitimitätsdefizit betrifft ebenso das Europäische Parlament wie auch die Mitwirkung nationaler und ggf. auch regionaler Parlamente in EU-Angelegenheiten. Als Folge von „passiven“ Europäisierungseffekten (Auel 2011) finde, so das vielfach vorgetragene Argument, eine Aushöhlung zentraler Funktionen insbesondere der Parlamente in den Mitgliedstaaten statt. V. a. die Legislativfunktion sei eingeschränkt und könnte auch nicht durch erweiterte Kontrollrechte gegenüber der Exekutive ausgeglichen werden (vgl. auch von Achenbach 2014). Der in der Folge erreichte Grad der Exekutivlastigkeit europäischer Politik hat – wie Neyer (2014, S. 163) kritisch anmerkt – „ein mit der Idee der Volkssouveränität nur noch schwer zu vereinbarendes Ausmaß“ erreicht. Diese Entwicklung verschärft sich zudem durch das intergouvernementale Krisenmanagement der letzten Jahre.

Ich werde in diesem Beitrag argumentieren, dass die pauschale Annahme eines Niedergangs im Lichte der empirischen Befunde der Parlamentarismusforschung der letzten Jahre so nicht haltbar ist und zumindest stärker differenziert werden muss. Vieles spricht dafür, dass v. a. im Gefolge des Lissabon-Vertrags die Parlamente der verschiedenen Ebenen einem umfassenden Funktionswandel unterworfen sind, der durch eine Gleichzeitigkeit von De- und Re-Parlamentarisierung gekennzeichnet ist. Während etwa die Legislativfunktion des Europäischen Parlaments weiter ausgebaut wird, wird sie für die mitgliedstaatlichen Parlamente de facto eingeschränkt (siehe dazu Wiesner in diesem Band). Zugleich wird die Kontrollfunktion von Parlamenten in spezifischer Weise auf nationaler und EU-Ebene ausgeweitet (siehe dazu Kropp/Buzogany und Wimmel in diesem Band). Die effektive Nutzung dieser Kontrollfunktion erfordert jedoch von den nationalen Parlamenten die Entwicklung einer Funktion als Netzwerker, die für Parlamente nur mit großen Schwierigkeiten zu entwickeln ist (vgl. Benz in diesem Band). Die Repräsentationsfunktion gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, auf die ich mich allerdings nicht weiter beziehen werde, ist sowohl für das Europäische Parlament defizitär, wie die niedrige Wahlbeteiligung von 43 % zeigt, als auch – in EU-Angelegenheiten – für die Parlamente der Mitgliedstaaten, insofern Europapolitik in nationalen Wahlkämpfen eine bislang eher marginale Rolle spielt. Meine zentrale These lautet, dass dieser Funktionswandel pauschal weder zu einer Renaissance noch zu einem Niedergang des Parlamentarismus führt, sondern die funktionalen Ungleichzeitigkeiten und Ungleichmäßigkeiten für die Parlamentarisierung der EU-Polity konstitutiv sind. Damit gibt es sowohl Gewinner als auch Verlierer dieser Entwicklung (siehe auch Wiesner in diesem Band). Bezogen auf die Strukturen der institutionellen Gewaltenteilung zwischen Parlamenten und Exekutiven lässt sich insgesamt feststellen, dass aufgrund der Defizite hinsichtlich der Legislativ- und Kontrollfunktion die parlamentarische Dimension nach wie vor schwächer ist als die exekutive Dimension, dass aber sehr wohl beachtliche Parlamentarisierungsschritte unternommen wurden.

Im Folgenden will ich zunächst die Debatte über den Niedergang des Parlamentarismus skizzieren und sodann die Neuerungen durch den Lissabon-Vertrag, der häufig als „Vertrag der Parlamente“ bezeichnet wird, darstellen. Da die nationalparlamentarische Dimension in vielen Studien bereits ausführlich dargestellt wird, will ich hier auf die Mitwirkungsrechte für bestimmte Regionalparlamente vertiefend eingehen, da sie in der Forschung bislang vernachlässigt werden. Ich werde schließlich die empirischen Entwicklungen mithilfe des Konzepts des Mehrebenenparlamentarismus (Maurer) bzw. „multi level parliamentary fields“ (Crum/Fossum) einordnen und bewerten.

2 Postparlamentarismus: Vom Niedergang des Parlamentarismus in Folge des europäischen Integrationsprozesses

Gemeinhin wird angenommen, dass erstens das Europäische Parlament kein „echtes“ Parlament ist, da es sowohl zentrale repräsentationsbezogene Funktionen – als Beleg dient v. a. die niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen – als auch die regierungsbezogenen Funktionen – v. a. Mitwirkung bei der Wahl der Kommission, eingeschränkte Legislativ- und Kontrollreche – nur teilweise effizient ausfüllen kann. Zweitens gilt mit Bezug auf die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, dass diese als „Integrationsverlierer“ (Pehle und Sturm 2008, S. 160) zu betrachten sind, die nationalen Regierungen sind hingegen „Integrationsgewinner“ (170), da diese auf EU-Ebene über den Rat der EU als Unionsgesetzgeber agieren und somit legislative Funktionen für sich in Anspruch nehmen können.

Die Begleitung des Integrationsprozesses durch eine (nachgelagerte) Parlamentarisierung ist im europäischen Integrationsprozess durchaus von Anfang an angelegt. Die Parlamentarische Versammlung wurde mit den Gründungsverträgen der 1950er Jahre installiert; die Idee eines Ausbaus parlamentarischer Legitimation durch ein aus Direktwahlen hervorgehendes supranationales Parlament war frühzeitig angedacht. Gleichwohl genoss diese keine sehr hohe Priorität, insofern Europapolitik Bestandteil der Außenpolitik war und hier die Exekutiven ein Primat innehatten. Erst in den 1970er Jahren entstand ein Reformwille in Richtung Parlamentarisierung. Im Kontext eines Ausbaus des Haushalts der damaligen Europäischen Gemeinschaften wurde die Notwendigkeit einer parlamentarischen Haushaltskontrolle und in der Folge eines demokratisch gestärkten Parlaments auf supranationaler Ebene gesehen. Dieses kognitive Muster, wonach Haushaltsfragen ein Vorrecht von Parlamenten sind („power of the purse“) war in den Mitgliedstaaten etabliert und diese Funktionslogik wurde auf die supranationale Ebene übertragen. Rittberger (2009, 2012) argumentiert, dass insgesamt eine Logik des „copy and paste“ den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments vorangetrieben hat. Diese Entwicklungen mündeten bekanntermaßen in die ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 1979.

In den nachfolgenden Jahren zeigte sich, dass die Erwartungen an eine stärker parlamentarisch vermittelte demokratische Legitimation der EU nicht erfüllt werden konnten. Ein zentrales Problem der Parlamentarisierungsstrategie ist, inwiefern Kompetenzgewinne für Parlamente einer Ebene zu Lasten von Parlamenten einer anderen Ebene gehen, oder ob es vorstellbar ist, dass auf allen Ebenen gleichzeitig eine Parlamentarisierung stattfindet. Angesichts der repräsentationsbezogenen Funktionsdefizite konnte durch die Direktwahlen des Europäischen Parlaments die demokratische Legitimation der supranationalen Ebene nicht entscheidend verbessert werden; der defizitäre Charakter als „nationale Nebenwahlen“ bleibt weitgehend bestehen, weil sie als weniger wichtig wahrgenommen werden, da aus ihnen keine echte Regierung hervorgeht (vgl. Träger 2014; Hobolt 2015). Hinzu kommt, dass gerade „euroskeptische“ Parteien die Europawahlen teils als Sprungbrett für nationale Wahlkämpfe nutzen (z. B. AfD, UKIP, Front National) mit entsprechenden Effekten auf den nationalen Parteienwettbewerb.

Seit Anfang der 1990er Jahre wird verstärkt danach gefragt, inwiefern eine Stärkung der Kompetenzen nationaler Parlamente in EU-Angelegenheiten notwendig und möglich ist. Denn, so die Erkenntnis, eine „compounded representative polity“ (Benz 2003, 2011), wie sie die EU darstellt, kann schlechterdings nicht nur durch einen Repräsentationskanal hinreichend legitimiert werden – und erst recht nicht, wenn dieser Kanal defizitär ist. Hingegen wird die Funktionsbilanz der nationalen Parlamente gemeinhin positiver bewertet als die des Europäischen Parlaments. Dies hängt mit dem Modus parlamentarischen Regierens zusammen, der es den Parlamenten – bei allen teils gravierenden Unterschieden zwischen ihnen – gleichwohl ermöglicht, (a) über die Kreations- und Kontrollfunktion auf die nationalen Exekutiven Einfluss zu nehmen und (b) über die engere Bindung an die Wähler/innen ihre Kommunikations- und Vernetzungsfunktion wahrzunehmen und die Responsivität zu verbessern.

Erstmals wurde mit dem Maastricht-Vertrag von 1992 die Rolle der nationalen Parlamente unionsrechtlich ausgebaut. Dies setzte sich in nachfolgenden Vertragsreformen fort und mündete im Lissabon-Vertrag in einem allgemeinen Mitwirkungsrecht (Art. 5 EUV) der nationalen Parlamente und in ihrer Pflicht, „aktiv zur guten Arbeitsweise der Union“ (Art. 12 EUV) beizutragen. In den Protokollen Nr. 1 und Nr. 2 zum Lissabon-Vertrag sind ferner allgemeine Mitwirkungs- und Informationsrechte sowie spezifische Rechte zur Prüfung von EU-Akten in Bezug auf Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit fixiert. Mit diesen unionsrechtlichen Veränderungen gehen auch institutionelle und kognitiv-behaviourale Veränderungen in den nationalen Parlamenten einher. Diese sind in der Literatur in den letzten Jahren umfangreich dokumentiert worden (siehe Abschn. 3). Gleichwohl wird vielfach bezweifelt, dass durch die neuen Rechte und Entwicklungen ein echter Wandel zustande kam. Bei allen Notwendigkeiten der Differenzierung gelten nationale Parlamente vielen Beobachter/innen auch heute noch nicht als starke Institutionen in EU-Angelegenheiten (vgl. für viele Goetz und Meyer-Sahling 2008; Raunio 2011; Buzogány und Stuchlik 2012; Winzen 2012; Neuhold und Smith 2015). Vor allem dadurch, dass die nationalen Regierungen im Rat als Unionsgesetzgeber fungieren, sind sie dem kontrollierenden Zugriff durch die nationalen Parlamente weitgehend entzogen, denn diese können nur begrenzt auf die europapolitische Willensbildung ihrer Regierung ex ante Einfluss nehmen und das Verhalten der Regierungen im Rat bestenfalls ex post überwachen. Deshalb muss bezweifelt werden, dass trotz Ausbaus der Kontrollrechte die nationalen Parlamente auf EU-Ebene ein gleich hohes Legitimationsniveau wie in der nationalen Gesetzgebung entwickeln können (vgl. von Achenbach 2014, S. 442 ff.); zudem entzieht sich die Arbeitsebene des Rates der nationalparlamentarischen Kontrolle (450). In der Summe könne somit der Verlust an legislativen Mitwirkungsrechten durch eine inzwischen verbesserte Kontrollfunktion nationaler Parlamente nicht ausgeglichen werden.

Im Hinblick auf die regionalen oder subnationalen Parlamente – zumindest insofern sie selber mit legislativen Kompetenzen ausgestattet sind – verschärft sich die Problemlage nochmals bzw. wird das Strukturproblem der nationalen Parlamente in spezifischer Weise reproduziert: „Hier finden sich hinsichtlich der Veränderungen von Kompetenzen der Parlamente und der Mitwirkung der Exekutiven auf der nächsthöheren Ebene analoge Muster, wie sie für das Verhältnis der nationalen Ebenen zur supranationalen EU-Ebene gelten“ (Abels und Eppler 2011, S. 25). Mitwirkungsrechte der regionalen Ebene in EU-Angelegenheiten werden (auf der nationalen bzw. supranationalen Ebene) über die regionalen Exekutiven wahrgenommen, doch deren Kontrolle durch regionale Parlamente ist defizitär (vgl. die Beiträge in Abels und Eppler 2015). Diese Prozesse können für subnationale Parlamente gar noch gravierender sein als für nationale Parlamente, insofern sie v. a. in föderalen und regionalisierten Staaten „durch innerstaatliche Zentralisierungs- und Unitarisierungstendenzen noch weiter verstärkt werden“ (Abels und Eppler 2011, S. 21). Nichtsdestotrotz werden Regionalparlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen bislang als „quantité négligeable“ behandelt (siehe Abschnitt. 3).

In der Gesamtschau zeigt sich bereits hier ein widersprüchliches Bild aus Parlamentarisierung der EU-Politik in Bezug auf das Europäische Parlament einerseits und Aushöhlung parlamentarischer Kompetenzen in den Mitgliedstaaten andererseits. Dieses Dilemma wurde mit dem Maastricht-Vertrag adressiert, wird aber erst mit dem Lissabon-Vertrag in umfassenderem Sinne angegangen.

3 Lissabon-Vertrag: Renaissance des Parlamentarismus unter neuen Vorzeichen?

Der Lissabon-Vertrag kodifiziert weitere Schritte für eine umfassendere Parlamentarisierung der EU. Art. 10 Abs. 1 EUV gibt vor, dass die „Arbeitsweise der Union […] auf der repräsentativen Demokratie [beruht]“. Somit wird der Parlamentarismus – durchaus im Sinne Marschalls – zum leitenden Funktionsprinzip der Union erklärt. Damit einher geht ein Ausbau sowohl der Rechte des Europäischen Parlaments als Unionsgesetzgeber als auch seiner Kreationsfunktion bei der Installierung der Europäischen Kommission, die das Europäische Parlament bei den Wahlen 2014 erstmals stark genutzt hat (Stichwort Spitzenkandidaten).

Ferner wird im Lissabon-Vertrag die Rolle der nationalen Parlamente spezifiziert. Sie „tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei“ (Art. 12 EUV), indem sie erstens im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle (spezifiziert in Protokoll Nr. 1 und Nr. 2) am Gesetzgebungsprozess auf Unionsebene partizipieren (Art. 12 Abs. a, b und c EUV) und sich zweitens „an der interparlamentarischen Zusammenarbeit […] mit dem Europäischen Parlament […] beteiligen“ (Art. 12 Abs. f EUV). Der „Konferenz der Europa-Ausschüsse der Parlamente“ (kurz: COSAC) kommt eine wesentliche Rolle für die Ausgestaltung der interparlamentarischen Zusammenarbeit zu; so kann die Konferenz „jeden ihr zweckmäßig erscheinenden Beitrag“ an die EU-Institutionen herantragen sowie einen „Austausch von Informationen und bewährten Praktiken zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament“ fördern (Art. 10 Protokoll Nr. 1). Jedoch gehen die interparlamentarischen Beziehungen weit über die COSAC hinaus (vgl. Abels 2016).

Im Protokoll Nr. 2 ist das Verfahren der Subsidiaritätskontrolle näher ausgeführt. Das Verfahren gewährt den nationalen Parlamenten erstmals direkte Mitwirkungsrechte auf Unionsebene; es ist in der Literatur vielfach analysiert und zumeist kritisch kommentiert worden (vgl. Abels 2013; Buzogány und Stuchlik 2012). Bemerkenswert ist, dass hier neben den nationalen Parlamenten erstmals auch Regionalparlamenten – sofern sie mit Gesetzgebungskompetenzen ausgestattet sind – ein Mitwirkungsrecht zugesprochen wird. Allerdings obliegt es den nationalen Parlamenten, „ihre“ jeweiligen Regionalparlamente zu konsultieren (Art. 6 Protokoll Nr. 2). Dieses Mitwirkungsrecht, wenngleich eingeschränkt, hat in den acht betroffenen Mitgliedstaaten mit insgesamt 74 Regionalparlamenten (Belgien, Deutschland, Finnland, Großbritannien, Italien, Spanien, Österreich, Portugal) gleichwohl Reformprozesse ausgelöst. Auch für die Regionalparlamente lässt sich als Trend beobachten, dass sie ihre Aktivitäten darauf ausrichten, einerseits auf nationaler Ebene ihre Informations- und Kontrollrechte gegenüber den jeweiligen Regionalregierungen auszubauen und für die Nutzung dieser Rechte unterstützende Strukturen zu schaffen; andererseits versuchen sie vielfach, auch direkt auf der EU-Ebene stärker mitzuwirken (vgl. die Beiträge in Abels und Eppler 2015). In der Gesamtschau zeigt sich, dass sie für diese anspruchsvollen EU-bezogenen Aufgaben aber noch weniger gut aufgestellt sind als ihre „großen Schwestern“: die nationalen Parlamente. Ressourcenmangel ist einer der wesentlichen Gründe, aber auch die Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen, die Ausgestaltung zweiter Kammern etc. spielt hierfür eine wichtige Rolle. Diese dritte Ebene gilt es jedenfalls in der künftigen Forschung stärker zu berücksichtigen, da sie zu einer demokratischen Fundierung von EU-Politik durch die größere Bürgernähe beizutragen vermag.

Mit Blick auf den Lissabon-Vertrag lässt sich konstatieren, dass dieser erstmals ein komplexeres Verständnis von Parlamentarismus kodifiziert, welches sich nicht auf einen Kanal demokratischer Legitimation beschränkt. Ferner kommt der interparlamentarischen Kooperation eine Schlüsselrolle zu.

4 Mehrebenenparlamentarismus als konzeptioneller Ausweg und als Herausforderung

Auf die oben skizzierte Komplexität wurde in der Forschung mit dem Begriff bzw. Konzept des Mehrebenenparlamentarismus (MEP) reagiert (vgl. Abels und Eppler 2011). Geprägt wurde der Begriff von (Maurer 2002) und diente zunächst eher als Metapher für seine empirische Beobachtung, wonach „durch die sukzessive Ausdehnung der EP-Befugnisse und die Sanktionierung nationalparlamentarischer Partizipationsrechte der Versuch unternommen wurde, den Mehrebenencharakter der europäischen Politik in seiner parlamentarischen Dimension institutionell zu verfestigen“ (Maurer 2009, S. 26). MEP ist demnach zunächst einmal ein heuristisches Konzept und verweist auf den Umstand, dass es auf unterschiedlichen politischen Ebenen Parlamente gibt, die zunächst Aufgaben auf ihrer jeweiligen Ebene übernehmen (für eine ausführliche Diskussion dieser und ähnlicher Konzepte vgl. Abels und Eppler 2011, S. 28 f.). Darüber hinaus agieren Parlamente aber auch ebenenübergreifend. Maurer unterscheidet zwischen einer supranationalen parlamentarischen Sphäre, in der das Europäische Parlament verortet ist und die durch die Mitwirkungsrechte im EU-Gesetzgebungsprozess gekennzeichnet ist, und einer nationalparlamentarischen Sphäre, die hauptsächlich durch parlamentarische Kontrollrechte gegenüber der eigenen nationalen Regierung dominiert wird (vgl. Maurer 2012, S. 49). Durch die Interaktion von Europäischem Parlament und nationalen Parlamenten entsteht eine interparlamentarische Sphäre, in der verschiedene Interaktionsformate genutzt werden (vgl. Abels 2016).

Während bei Maurer die interparlamentarische Sphäre von der Motivation geprägt ist, die parlamentarische Kontrollfunktion auszubauen, stehen im Konzept des „multi-level parliamentary field“ (MLPF) von Crum und Fossum (2009) Prozesse der Deliberation im Mittelpunkt interparlamentarischer Beziehungen. Crum und Fossum zufolge können die Dynamik dieser Beziehungen und Prozesse der Strukturbildung über das an Powell und DiMaggio sowie an Bourdieu angelehnte Konzept des organisationalen Feldes besser erfasst werden: „The field is defined by the joint function that its constitutive institutions are supposed to serve, namely democratic representation. Thus, the field can encompass a wide range of parliamentary institutions at different levels within the EU“ (Crum und Fossum 2009, S. 260). Für dieses Feld ist Folgendes charakteristisch: „it takes on certain properties and dynamics that are of a structural character and that therefore cannot be reduced to its individual components“ (260). So sei das Feld zwar nicht frei von Machtbeziehungen im Sinne ungleicher Ressourcenausstattung und Einflussmöglichkeiten, aber nicht notwendigerweise hierarchisch strukturiert. Es können zudem multiple Formen der Vernetzung existieren (vgl. auch Eppler 2011).

Diese Konzepte werden in die weitreichendere Debatte über die Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation der EU eingebettet. Sie betonen die komplexe Legitimationsarchitektur der EU, welche die Grundlage für eine Demokratisierung durch Parlamentarisierung bildet. Nur eine Berücksichtigung der verschiedenen Legitimationskanäle und ihrer Verschränkung ermöglicht es, dass Parlamente die ihnen zugewiesenen regierungs- sowie repräsentationsbezogenen Funktionen möglichst effektiv erfüllen können. Dies erfordert allerdings eine aktive und ebenenübergreifende interparlamentarische Vernetzung. Sprungk (2010, 2011, 2013) zufolge ist es genau diese neue Netzwerkerfunktion, von deren Entwicklung die Handlungsmacht oder Ohnmacht von (nationalen) Parlamenten im Sinne aktiver Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten zukünftig abhängt. Dabei erweist sich diese neue Funktion als eine anspruchsvolle, für welche die Parlamente entsprechende institutionell-administrativ, behaviourale und ressourcenmäßige hohe Voraussetzungen mitbringen müssen. Dass dies nicht in allen nationalen Parlamenten gleichermaßen der Fall ist, belegen neuere Studien (vgl. Neuhold und Smith 2015). Somit sind einem Zuwachs an Mitgestaltungsoptionen für die nationalen (aber auch für die regionalen) Parlamente vielfältige Grenzen gesetzt. Doch auch für das Europäische Parlament, das für die Netzwerkbildung ein wichtiger Impulsgeber war (vgl. Abels 2016), stellt diese Rolle eine Herausforderung dar.

Der zentrale Anreiz für den Ausbau der interparlamentarischen Sphäre ist die verdichtete Deliberation, die zuvörderst der Verbesserung der Informationsgrundlage dient. Diese ist wiederum Voraussetzung für die effektive Ausübung der Kontrollfunktion von Parlamenten gegenüber „ihren“ Exekutiven. Denn gerade diese wird durch das Handeln der Regierungen im Mehrebenensystem zumindest stark herausgefordert, wenn nicht gar systematisch unterlaufen. Dies hat Konsequenzen für die Legislativfunktion. Nationale (und analog dazu regionale) Parlamente büßen legislative Rechte ein durch die Verlagerung von Kompetenzen auf die jeweils höhere Ebene, auf der dann wiederum die Exekutiven eine wichtige Rolle einnehmen. Das Instrument der Subsidiaritätskontrolle gibt ihnen erstmals die Möglichkeit, in engen Grenzen direkt als „gatekeeper“ (Raunio 2011) bzw. „Integrationswächter“ (Sprungk 2011) gegenüber der EU-Ebene aufzutreten und Gesetzesvorlagen der EU zu verhindern, ohne auf die eigene Exekutive angewiesen zu sein. Genau aus diesem Grund entstand der starke Anreiz für eine Intensivierung bestehender und für den Aufbau neuer Vernetzungsstrukturen (vgl. Maurer 2012), denn diese Rechte können Parlamente aufgrund der fixierten Einspruchsquoren (ein Drittel bzw. ein Viertel der Parlamente bzw. Kammern müssen begründete Einwände erheben) nur kollektiv nützen (vgl. Cooper 2012). Zudem handelt es sich hier bislang um ein Abwehrinstrument, aber nicht um ein positives Gestaltungsinstrument. Reformvorschläge gehen deshalb in die Richtung, den nationalen Parlamenten neben der sog. „gelben“ und „orangenen Karte“ auch eine echte „rote“ sowie eine „grüne Karte“ an die Hand zu geben. Den nationalen Exekutiven gibt dieses Handlungsinstrument der nationalen Parlamente jedenfalls auf EU-Ebene eine weitere Option, um ggf. mit Verweisen auf Parlamentsvorbehalte „daheim“ Kompromisse in den intergouvernementalen Verhandlungsprozessen zu erzielen. Dies verdeutlicht die Komplexität der exekutiv-legislativen Gewaltenteilungsstrukturen im EU-Mehrebenensystem (vgl. Tömmel in diesem Band).

Bei der weiteren Ausgestaltung der interparlamentarischen Sphäre ist stärker als bislang zu beachten, dass – auch wenn das Ausgangsmotiv ein kooperatives war – diese nicht zwingend kooperativ ausgestaltet sein muss, sondern auch kompetitiv sein kann. Dies betrifft zum einen durchaus die horizontalen Beziehungen zwischen nationalen Parlamenten und zeigt sich etwa auch in den aktuellen Debatten über ein Eurozonen-Parlament, zum anderen die vertikalen Beziehungen zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament, die das Herzstück der interparlamentarischen Sphäre bilden. Der von Neunreither (2005) schon früh konstatierte Befund kompetitiver Strukturen wird durch neue Studien bestätigt (vgl. Hefftler und Gattermann 2015, S. 111). Auch im Modell des „multi-level parliamentary field“ (Crum und Fossum 2009) geht es darum, Gestaltungsansprüche über die parlamentarische Dimension des Integrationsprozesses auch gegeneinander durchzusetzen. Während nationale Parlamente im Kompetenztransfer auf die EU-Ebene eine Aushöhlung ihrer Legislativkompetenzen sehen und hierauf mit einem Ausbau von Kontrollinstrumenten reagieren, stellt die verstärkte nationalparlamentarische Mitwirkung in EU-Angelegenheiten für das Europäische Parlamente ebenfalls ein Problem dar, insofern es eigene, hart erkämpfte Legislativ- und Kontrollkompetenzen abzusichern gilt. Es hat immer wieder gefordert, dass „die strikte Trennung der parlamentarischen Kontrollebenen, um etwaige Eingriffe der Parlamente in die Vorrechte des EP gegenüber Kommission und Ministerrat zu verhindern“ (Maurer 2012, S. 224 f.), gewahrt werden müsse. Diese „implicit rivalry“ (Ruiz de Garibay 2013) ist geradezu ein Kernproblem interparlamentarischer Beziehungen und vermindert die Anreize für den Ausbau der Sphäre. Ironischerweise ist dieses Kernproblem gerade in den intergouvernemental geprägten Politikfeldern, in der eine parlamentarische Kontrolle besonders notwendig ist, sehr ausgeprägt (Herranz-Surrallés 2014, S 963).

Das Konzept des Mehrebenenparlamentarismus erlaubt es somit, die Parlamentarisierung von EU-Politik präziser zu erfassen und an die allgemeine demokratie- und legitimitätstheoretische Debatte zu rückzubinden. Es wird deutlich, dass das empirische Feld von Machtstrukturen geprägt ist. Dies betrifft die Machtbalance und Machtverschiebungen zwischen Legislativen und Exekutiven auf allen Ebenen des EU-Mehrebenensystems. Es verdeutlicht aber auch, dass die Parlamentarisierungsstrategie nicht frei von Machtkonflikten zwischen Parlamenten ist (siehe auch Wiesner in diesem Band).

5 Zusammenfassung und Ausblick

Die klassischen parlamentarischen Funktionen, die sich mit der im nationalstaatlichen Rahmen stattgefundenen Parlamentarisierung entwickelt haben, sind im Prozess der europäischen Integration unter Anpassungsdruck geraten. Mit Kompetenztransfers und dem Agieren von Regierungen über verschiedene autoritative Ebenen hinweg ist für nationale (und regionale) Parlamente ein Kontrollproblem entstanden, welches gravierende Konsequenzen für ihre Legislativfunktion hat. Der Verlust nationalparlamentarischer Legitimation kann zudem durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments nicht aufgefangen werden, zumal dessen Repräsentationsfunktion defizitär ist. Insbesondere die Sicherung der parlamentarischen Kontrollfunktion war schließlich der Ausgangspunkt für die Entwicklung von interparlamentarischen Beziehungen, um hierdurch die informationelle Schieflage zwischen Legislativen und Exekutiven besser auszubalancieren.

Auf allen parlamentarischen Handlungsebenen bestehen, wie dargestellt, in EU-Angelegenheiten Funktionsdefizite. Diesen Defiziten haben sich die nationalen und regionalen Parlamente gestellt und Reformen v. a. in Bezug auf die Kontrollfunktion ergriffen. Die Rolle von Parlamenten in EU-Angelegenheiten hat sich heute ausdifferenziert: Aus den „latecomers“ sind heute teilweise „policy-shapers“, Kontrolleure ihrer nationalen Regierung und/oder Mitspieler auf EU-Ebene geworden; teils sind sie aber Verlierer geblieben (Neuhold und Smith 2015; siehe auch Wiesner in diesem Band). Welche Rolle welche nationalen oder auch regionalen Parlamente erfüllen können, hängt von zahlreichen Faktoren ab (siehe dazu Kropp/Burzogany und Wimmel in diesem Band). Das Europäische Parlament gehört hingegen eindeutig zu den Gewinnern (für Einschränkungen siehe Bauer/Becker in diesem Band) und versucht diese Position – auch gegenüber den nationalen Parlamenten – abzusichern.

Zusammenfassend kann also weder pauschal ein Niedergang beklagt werden noch euphorisch von einer Renaissance des Parlamentarismus die Rede sein. Hingegen bestimmen funktionale Ungleichzeitigkeiten und Ungleichmäßigkeiten das Bild. Neu ist zudem, dass diese Herausforderungen nicht mehr von einzelnen Parlamenten zu bewerkstelligen sind, sondern nicht zuletzt EU-bezogene Instrumente wie die Subsidiaritätskontrolle eine Vernetzung von Parlamenten erforderlich machen, weshalb Cooper (2012) von den nationalen Parlamenten gar als „virtual third chamber“ spricht. Somit ist nicht die Stärkung einzelner Parlamente in der EU, sondern die Stärkung der legislativen Macht insgesamt die zentrale Aufgabe, um eine parlamentarisch abgesicherte demokratische Legitimation auch in Zukunft zu ermöglichen bzw. im ausreichenden Maße zu erreichen (vgl. Knutelská 2013). Dabei stellen sich allerdings Fragen nach der Kompetenzordnung in der EU, die aufs engste verknüpft sind mit den Strukturen der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung. Dies hat gravierende Folgen für die Parlamente auf allen Ebenen und für ihre Interaktion. Für eine solche Analyse bietet das Konzept des „Mehrebenenparlamentarismus“ eine fruchtbare Heuristik, um – wie Patzelt (2013, S. 58) jüngst gefordert hat –, die „Analyse und Entwicklung eines postnationalen Neoparlamentarismus“ empirisch und theoretisch zu erfassen.