1 Einleitung

Seit etwa einem Jahrzehnt beschäftigt sich die deutsche Politikwissenschaft intensiver mit zwei Gegenstandsbereichen, die in der Zunft zuvor aus dem Blick geraten waren: der Bedeutung von Rechtstaatlichkeit für die demokratische Qualität eines Gemeinwesens und – damit verbunden – der Rolle von Gerichten bei der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit. Dies gilt auch für die Europäische Union (EU), wobei sich im europäischen Mehrebenensystem komplexe und teilweise überlappende gerichtliche Zuständigkeiten und Kompetenzansprüche herausgebildet haben. Der Beitrag untersucht die Struktur dieser intrajustiziellen Kompetenzkonflikte, die Machtposition der beteiligten Akteure und die Potentiale zur Sicherung von Rechtsstaatlichkeit in der EU.

Dazu wird zunächst das Verhältnis von Rechtstaatlichkeit und Demokratie sowie rechtlicher und politischer Kontrolle kurz diskutiert (2) und die Situation im Mehrebenensystem skizziert (3). Dabei ist zu beachten, dass die Gerichte in verschiedenen Dimensionen um Kompetenzen konkurrieren (4), was sich in der bisherigen Entwicklung widerspiegelt (5). Besondere Beachtung verdient das Gutachten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Möglichkeit eines Beitritts der EU zur Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) (6). Abschließend wird betrachtet, wie stark die Gerichte damit in einem Kooperations- oder Konkurrenzverhältnis stehen und welche Implikationen dies für Gewaltenteilung und Rechtstaatlichkeit im europäischen Mehrebenensystem hat (7.).

2 Rechtliche und politische Kontrolle

Den einzelnen Verästelungen der Diskussion um das Verhältnis von Rechtstaatlichkeit und Demokratie kann hier nicht nachgegangen werden,Footnote 1 doch scheinen zwei Entwicklungen bedeutsam gewesen zu sein: Zum einen bestätigte sich im Rahmen der Forschung zu den – teilweise gescheiterten – Transformationsprozessen in Mittel- und Osteuropa die zentrale Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit.Footnote 2 Zum anderen bildete sich etwa um die DVPW-Themengruppen „Verfassung und Politik“ sowie „Politik und Recht“ ein Forschungsnetzwerk heraus, dessen Mitglieder bei allen Unterschieden in Forschungsperspektive und -methode eint, Gerichtshandeln und seine politischen Implikationen nicht einfach als ‚verlängerte Werkbänke‘ des politischen Prozesses zu betrachten.

Einher geht diese Entwicklung mit einer deutlichen Aufwertung judikativer Checks und Balances in der Debatte um Gewaltenteilung bzw. accountability. So sieht etwa Hans-Joachim Lauth Kontrolle nicht nur „als konstitutiv für das Demokratieverständnis“ (Lauth 2007: 46) an, sondern auch die den Gerichten und anderen Justizakteuren zugewiesene rechtliche Kontrolle gegenüber der politischen in einer zentralen Funktion: „Die rechtliche Kontrolle bildet dabei den unverzichtbaren Kern der Gewaltenteilung“ (69). Einen wesentlichen Unterschied stelle dabei die starke Bindung der rechtlichen Kontrolle an (juristisch gesprochen) Tatbestandsmerkmale dar, während politische Kontrolle demgegenüber interpretationsoffen erscheine (59).

So treffend die skizzierte Unterscheidung unterschiedlicher Handlungslogiken von politischer und rechtlicher Kontrolle grundsätzlich ist, muss sie mit Blick auf die gerichtlichen Akteure im europäischen Mehrebenensystem doch modifiziert werden.Footnote 3 Zwar findet rechtliche Kontrolle „ihren Bezug in der gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Rahmensetzung des politischen Prozesses“ (Lauth 2007: 63), doch darf nicht übersehen werden, dass gerade Begriffe des Verfassungsrechts sehr allgemein und deutungsoffen gehalten (Brodocz 2002; Ebsen 1985: 48 ff.), wenn sie nicht sogar im Zuge der Verfassungsgebung durch „dilatorische Formelkompromisse“ (Schmitt 2010: 31) bewusst offengelassen wurden. Damit muss, „was die Verfassung im Einzelfall ihrem Wortlaut nach offenzulassen scheint, […] das Gericht im Wege konkretisierender Normausfüllung mit möglichst plausiblen Argumenten ‚nachliefern‘“ (Schneider 1999: 11) – und somit ‚Interpretation‘ leisten, die mithin mehr oder minder ‚politische‘ Aspekte aufweist (Kranenpohl 2009).Footnote 4

Die entsprechenden Prozesse werden seit den 1970er Jahren mit den Begriffen „Verrechtlichung“ und „Justizialisierung“ kritisch begleitet (Voigt 1980) – eine Entwicklung, die auch in der EU und den Internationalen Beziehungen beobachtet wird (Abbott et al. 2000). Der mit Verrechtlichung einhergehende Zugewinn von Sicherheit hinsichtlich der Verhaltenserwartungen der beteiligten Akteure wird allerdings meist mit einer Transparenzeinbuße politischer Entscheidungen erkauft: Verrechtlichung schafft ein Geflecht von Berücksichtigungszwängen, die die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik zunehmend verengen; durch Justizialisierung werden Gerichte zu Mitgestaltern politischer Entscheidungen, ohne dass dies dem Publikum notwendigerweise bewusst wird. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch rechtliche Kontrolle auf die Erhöhung der Transparenz gerichtet sein kannFootnote 5 – so etwa wenn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Behandlung der Griechenlandhilfe im Plenum des Deutschen Bundestages verlangt (Kellermann und Kranenpohl 2012: 408 f., vgl. auch Wimmel in diesem Band). Mitunter macht das Gericht sogar seinen eigenen Entscheidungsprozess zumindest ‚teiltransparent‘ (Kranenpohl 2010: 316 ff.). Diese ‚Teiltransparenz‘ dient etwa im Fall des BVerfG auch dazu, die rechtlichen Kontrollakte legitimatorisch abzusichern. Selbst wenn ein Gericht ein solch hohes Ansehen wie das BVerfG genießt (Patzelt 2015; Schaal 2000; Vorländer und Schaal 2002), kann es sich nicht sicher sein, dass seine Entscheidungen auch tatsächlich implementiert bzw. befolgt werden.

3 Gerichtliche Kompetenzkonkurrenzen im europäischen Mehrebenensystem

Von Beginn an bestand mit dem vom EuGH propagierten ‚Anwendungsvorrang‘ des Europarechts (EuGH, 26/62, 05.02.1963, van Gend & Loos) ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen nationalen VerfassungsgerichtenFootnote 6 und dem EuGH, das sich gut an der verschlungenen ‚Solange-Rechtsprechung‘ des BVerfG ablesen lässt (Ooyen 2014). Mit der Ausweitung der Kompetenzen der EU seit dem Vertrag von Maastricht hat sich das Verhältnis aber noch verschärft, so dass seit geraumer Zeit Wissenschaft und Publizistik einen „Kampf der Gerichte“ (Peters 2005) zu beobachten meinen. Zudem ist mit der Einführung der Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den 1990er Jahren noch ein weiterer justizieller Akteur hinzugetreten (Ooyen 2006).

Nun sind Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten kein spezifisches Phänomen des europäischen Mehrebenensystems. Ein Blick in die junge Bundesrepublik Deutschland zeigt etwa, dass sich das BVerfG, welches formal nur einer der sechs Gerichtshöfe des Bundes ist, seine faktische Suprematie durch die „Konstitutionalisierung“ der gesamten deutschen Rechtsordnung unter dem Banner einer „objektiven Wertordnung“ des Grundgesetzes (Kranenpohl 2010: 352 ff.) erst erkämpfen musste. Zwar beansprucht das BVerfG, keine „Superrevisionsinstanz“ zu sein und insofern die Rechtsprechung der Gerichte – und damit auch der anderen Bundesgerichte – lediglich dann zu überprüfen, wenn eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (BVerfGE 18, 85) naheliege. Es ist aber weithin unbestritten, dass sich Karlsruhe die Fachgerichtsbarkeiten über seine ausgefeilte Grundrechtsjudikatur faktisch untergeordnet hat. Ein wichtiger Verbündeter waren dabei die Gerichte der Vorinstanzen, welche die konkrete Normenkontrolle auch dazu nutzten, die jeweiligen fachgerichtlichen Obergerichte zu umgehen. Dieses Phänomen lässt sich im EU-Mehrebenensystem ähnlich beim Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV beobachten (Burley und Mattli 1993: 62 ff.).

Trotz dieser Parallelen zu anderen Mehrebenensystemen bestehen beim Konkurrenzverhältnis im europäischen Mehrebenensystem doch zwei wesentliche Unterschiede: So beziehen sich die Gerichte mit nationalem Verfassungsrecht, Europarecht und Völkerrecht – anders als im nationalen Rahmen – auf unterschiedliche Rechtskreise. Vor allem aber rekurrieren alle in ihrer Rechtsprechung zunehmend auf individuellen Grundrechtsschutz.Footnote 7 Sehr deutlich ist dies beim EGMR, der über die Einhaltung der EMRK und der Zusatzprotokolle durch die Signatarstaaten wacht. Die grundrechtlichen Verbürgungen waren aber auch jene Rechtsmaterie, mit der etwa das BVerfG seine faktische Suprematie über alle nationalen Rechtsgebiete begründet hat. Diese Mehrgleisigkeit der Grundrechtskontrolle war weitgehend unproblematisch, solange sich Straßburg darauf konzentrierte, fundamentalen grundrechtlichen ‚Defiziten‘ in EMRK-Signatarstaaten entgegenzuwirken. Inzwischen treten aber immer häufiger auch Differenzen mit nationalen Verfassungsgerichten zutage, die traditionell grundrechtsaffin und grundrechtsdogmatisch aktiv sind. Dabei offenbaren sich Unstimmigkeiten über die „Deutungsmacht“ (Vorländer 2006) über der verbürgten Rechte und ihre wechselseitige Bedingtheit (Kranenpohl 2016).

Dagegen gestaltete sich das Verhältnis zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten zunächst relativ spannungsfrei, da Luxemburg lange Zeit nicht auf einen Grundrechtskatalog rekurrieren konnte. Zugleich mühte sich der Europäische Gerichtshof aber schon früh um eine ‚Konstitutionalisierung‘ des Europarechts (Burley und Mattli 1993: 60 ff.), sodass der Gerichtshof zunächst auf die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ zurückgriff, die er aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ermittelte (EuGH, 29/69, 12.11.1969, Stauder; 11/70, 17.12.1970, Internationale Handelsgesellschaft). Später kam auch noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EuGH, 36/75, 28.10.1975, Rutili) hinzu. Diese Maßnahmen konnten diesen Mangel zwar lindern, aber nicht grundsätzlich beheben. Damals hätte man noch vereinfacht konstatieren können: Gegenüber dem EuGH unterlagen die nationalen Gerichte zwar dem europarechtlichen ‚Anwendungsvorrang‘, aber Luxemburg kümmerte sich wenig um ‚klassische‘ Grundrechte und konnte diese auch nur im Lichte mitgliedstaatlicher Grundrechtsdogmatik ableiten. Gegenüber dem EGMR bestand zwar eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der Entscheidungen, aber Straßburg entschied nur wenig und dann oft im Einklang hinsichtlich des Schutzes ‚klassischer‘ Grundrechte.

Inzwischen sind aber wesentliche Änderungen eingetreten: Durch die Ausweitung der EU-Politiken unterliegen mittlerweile viel mehr grundrechtsrelevante Tatbestände der Jurisdiktion des EuGH. Dieser ist bei der Interpretation grundrechtlicher Fragen auch nicht mehr auf die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten oder die EMRK zurückgeworfen. Seit der rechtlichen Verbindlichkeit der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon kann Luxemburg auf einen eigenen Grundrechtekorpus zugreifen und entwickelt im Gefolge der Entscheidung Åkerberg Fransson (EuGH, C-617/10, 26.02.2013)Footnote 8 deutlich stärkere Aktivitäten im Grundrechtsbereich. Der EGMR hat durch die Einführung der Individualbeschwerde hingegen Zugriff auf eine große Zahl von Verfahren erhalten, die sich oft deutlich komplexer in Form „mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse“ (BVerfGE 128, 326, Sicherungsverwahrung III) gestalten und damit einen wesentlich größeren Interpretationsspielraum für vertretbare Rechtsauffassungen öffnen. Die nationalen Gerichte sind damit in zweifacher Weise unter Druck geraten.

4 Dimensionen der Kompetenzkonkurrenz

Die Kontroversen der Gerichte lassen sich analytisch in zwei grundsätzliche Argumentationshaltungen hinsichtlich der Checks und Balances der Judikative unterscheiden, die man als Kompetenzdimension und als Interpretationsdimension bezeichnen kann. In der Kompetenzdimension rekurrieren die Richter auf die Frage, welche Rechtsmaterie Vorrang genießt, wenn unterschiedliche Rechtskreise (hier also Europarecht und mitgliedstaatliches Recht) divergieren – und daraus folgend, welche Kompetenzverteilung zwischen den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten besteht.

In der Interpretationsdimension steht dagegen in Frage, wie eine Norm richtig auszulegen ist. Dies ist allerdings schon deshalb problematisch, weil sich die unterschiedlichen Gerichte gar nicht auf einen einheitlichen Normtext beziehen können. So sind schon die Textfassungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und Grundrechtecharta nicht identisch (Groussot und Gill-Pedro 2013); erst recht gilt dies für die Grundrechtsnormen der Mitgliedstaaten. Verstärkt wird dieses Problem noch durch die unterschiedlichen Sprachfassungen, in denen die europäischen Normtexte vorliegen. Die Gerichte suchen das offenkundige Problem unterschiedlicher Normkorpora zwar dadurch zu lösen, dass sie bei allen textlichen Unterschieden eine weitgehende Identität der verbrieften Rechte postulieren, doch verdeutlicht dies nur die Brisanz, die damit letztlich der Rechtsauslegung zukommt. Angesicht der Tatsache, dass gerade die Begrifflichkeiten von Grundrechtskatalogen hochgradig auslegungsbedürftig sind, erscheint die Aufgabe noch prekärer. Als Konsequenz ergeben sich damit im Fall von Divergenzen für ein Gericht im postulierten ‚Kooperationsverbund‘ grundsätzlich zwei strategische Handlungsoptionen: Entweder kann es seinen Kompetenzvorrang behaupten oder es kann argumentieren, die betreffenden Normen ‚besser‘ zu interpretieren.

Dass Gerichte durchaus beide Argumentationshaltungen einnehmen können, zeigt ein Blick auf das BVerfG. Bezeichnenderweise agiert der Erste Senat als ‚Grundrechtssenat‘ in seiner Rechtsprechung deutlich stärker im Interpretationsdiskurs, wenn er sich im Rahmen seiner ‚Caroline-Rechtsprechung‘ auf einen Diskurs über ein angemessenes Verhältnis von Meinungsfreiheit und Privatsphäre einlässt und die Rechtsprechung des EGMR würdigt. Dagegen verharrt die ‚Europa-Rechtsprechung‘ des Zweiten Senats als ‚Staatsrechtssenat‘ mit seinen Argumentationsfiguren der ‚Ultra-vires-Kontrolle‘ und ‚Identitätskontrolle‘ (BVerfGE 123, 267, Lissabon) letztlich in kompetenzrechtlichen Erörterungen. Selbst seine Begründung zur angemessenen Würdigung der Straßburger Rechtsprechung in Sicherungsverwahrung III (BVerfGE 128, 326) bleibt mit der Floskel, dass EGMR-Entscheidungen „rechtserheblichen Änderungen“ gleichstehen können, im Diskursraum der Kompetenzdimension, obwohl sich doch gerade bei diesen Fallkonstellationen angeboten hätte, in einen Interpretationsdiskurs einzutreten.Footnote 9

5 Die Entwicklung der Kompetenzkonkurrenz im europäischen Mehrebenensystem

Berücksichtigt man die zwei unterschiedlichen Dimensionen der Kompetenzkonkurrenz im europäischen Mehrebenensystem, also zwischen unterschiedlichen Rechtskreisen und Interpretationsdimensionen, so zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH zunächst relativ gut austariert war. In der Kompetenzdimension konnte sich Luxemburg zwar auf den Anwendungsvorrang berufen, der aber kompetenzrechtlich – und wohl eher grundsätzlich als tagespraktisch – durch das Prinzip der Einzelermächtigung eingehegt war. Vor allem aber war der Europäische Gerichtshof bei der Entscheidung von Grundrechtsfragen interpretatorisch auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten – und damit die diese interpretierenden Verfassungsgerichte – verwiesen, so dass in der Interpretationsdimension zumindest die aktiven Verfassungsgerichte im Vorteil waren. Luxemburg konnte allerdings dadurch gegensteuern, dass ihm die Rechtstraditionen und -kulturen der Mitgliedstaaten Auswahlmöglichkeiten eröffneten (Mattli und Slaughter 1998: 200 ff.) und auch die Straßburger Rechtsprechung des EGMR zunehmend herangezogen wurde. Schließlich erwarb der Europäische Gerichtshof durch die Ausweitung der Politiken der EU über Zeit Zuständigkeit für immer mehr Rechtsbereiche (Burley und Mattli 1993: 43).

Zu einer tiefgreifenden Änderung dieses Verhältnis von Checks und Balances zwischen mitgliedstaatlichen und europäischen Gerichten kam es allerdings durch den Lissabon-Vertrag. Zum einen wurde die bereits auf dem Gipfel von Nizza 2000 als politisches Dokument verabschiedete Charta der Grundrechte (Hoffmeister 2014: 120) Bestandteil des Primärrechts (Art. 6 I EUV). Damit verfügt jetzt auch der Europäische Gerichtshof über einen grundrechtlichen Normkorpus, zu dessen Interpretation er exklusiv autorisiert ist. Die aktivistische Linie der Entscheidung Åkerberg Fransson (EuGH, C-617/10, 26.02.2013) ist ein Hinweis darauf, dass Luxemburg seine Interpretationshoheit auszudehnen sucht.Footnote 10

Das Verhältnis der nationalen Verfassungsgerichte zum EGMR entwickelte sich anders. Zwar kann sich Straßburg kompetenzrechtlich auf eine völkerrechtliche Umsetzungspflicht berufen, diese wirkt sich aber schwächer aus als der Anwendungsvorrang, da lediglich dem aktuell gerügten Konventionsverstoß abgeholfen werden muss. Gerade in Deutschland kommt dies aber mittlerweile einem Kompetenzvorrang gleich: Schon 2004 hat das BVerfG konstatiert, dass „die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention […] und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ zur in Artikel 20 Absatz 3 GG verbürgten Bindung an Recht und Gesetz gehörten (BVerfGE 111, 307 – Görgülü). Wie bereits erwähnt, ging Karlsruhe in Sicherungsverwahrung III noch einen deutlichen Schritt weiter und stellt Straßburger Entscheidungen, welche „neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten“ (BVerfGE 128, 326), nunmehr rechtserheblichen Änderungen gleich.

Gleichwohl befindet sich das BVerfG aber stärker in einem Kompetenzkonflikt über Interpretationsdiskurse mit dem EGMR. Deutlich zeigte sich dies bei den ‚Caroline-Entscheidungen‘: Karlsruhe bestätigte in einem von Caroline von Monaco angestrengten Verfahren 1999 zwar das „Persönlichkeitsrecht am eigenen Bild“, betonte aber auch die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte. Diese beschränkten sich nicht auf die politische Berichterstattung und schlössen „bloße Unterhaltung“ nicht aus (BVerfGE 101, 361, Caroline I [390]). Dieser Ansicht folgte der EGMR 2004 aber nicht. In seiner Abwägung des Verhältnisses zwischen dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) und der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) betonte er statt dessen, dass die Berichterstattung über das Privatleben „justified by considerations of public concern“ und „a matter of general importance“ sein müsse (EGMR, v. Hannover/Deutschland, 59320/00, Nr. 60). In einem erneuten Verfahren betonte das BVerfG zwar seine Auffassung, zog dazu aber ausführlich die Straßburger Rechtsprechung heran (BVerfGE 120, 180, Caroline III). Damit führten die beiden Gerichte eher einen „Dialog“ (Oellers-Frahm 2001) über die ‚richtige‘ Auslegung einzelner Grundrechtsnormen und die angemessene Lösung von Konflikten über konkurrierende Grundrechte.

Anders als die nationalen Verfassungsgerichte zu ihnen hatten die beiden europäischen Gerichtshöfe zunächst ein Nichtverhältnis zueinander. Dies war vor allem kompetenzrechtlich bedingt, denn da die EU nicht Mitglied der Menschenrechtskonvention war, hatte Straßburg auch keinen direkten Zugriff auf die EU. Allerdings erhob der EGMR den Anspruch, die nationale Umsetzung europäischen Rechts gegebenenfalls auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention zu prüfen (EGMR, Bosphorus/Irland, 30.06.2005, § 56).Footnote 11 Da sich Luxemburg, solange die EU über kein eigenständiges Grundrechtsdokument verfügte, zunehmend auf die Konvention und die entsprechende Rechtsprechung bezogen, übte Straßburg diese indirekte Prüfung aber zurückhaltend aus.

Dies wandelte sich grundlegend mit dem Lissabon-Vertrag, denn dieser verfügte neben der rechtlichen Verbindlichkeit der Grundrechtecharta in Art. 6 II EUV auch den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Nach Abschluss des Ratifikationsprozesses hätte Luxemburg damit – wie die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte – die ‚völkerrechtliche Verbindlichkeit‘ von Entscheidungen des EGMR anerkennen müssen (Obwexer 2012), was sicher eine Einbuße der Deutungsmacht (Vorländer 2006) des EuGH bedeutet hätte. Im Ergebnis hätten sich die Luxemburger Richter wohl einem ähnlichen Problem gegenübergesehen wie das BVerfG: Sie hätten gegenüber Straßburg in einen Interpretationsdiskurs eintreten müssen, damit die faktische Unterordnung durch die völkerrechtliche Verbindlichkeit nicht mit einer übermäßigen Beeinträchtigung der Interpretationshoheit über den zu ‚eigener‘ Verfügung stehenden EU-Normkorpus einhergegangen wäre.

Doch der Beitrittsprozess der EU zur EMRK gestaltete sich kompliziert. Zunächst formulierte der Europäische Gerichtshof 2010 in einem ‚Reflexionspapier‘ Anforderungen, die ein „ordnungsgemäßes Funktionieren“ des EU-Gerichtssystem auch nach einem Beitritt garantieren sollten (Gerichtshof der Europäischen Union 2010). Im Folgejahr signalisierte eine gemeinsame Erklärung der Präsidenten der beiden Gerichtshöfe Einvernehmen hinsichtlich dieser Frage (Costa und Skouris 2011). Obwohl sich die Beitrittsverhandlungen wegen komplexer Probleme in die Länge zogen (Obwexer 2012), konnten die Verhandlungsdelegationen gleichwohl im Frühjahr 2013 einen umfangreichen Entwurf für ein Beitrittsabkommen vorlegen (Europäische Union und Europarat 2013). Auch die Generalanwältin Juliane Kokott mahnte in ihrem Bericht zum von der Europäischen Kommission im Juli 2013 angeforderten Gutachten des EuGH über die Vereinbarkeit des Beitrittsübereinkommens mit den EU-Verträgen nach Art. 218 Abs. 11 AEUV „lediglich einige vergleichsweise geringfügige Modifizierungen bzw. Ergänzungen“ (EuGH, Gutachten 2/13, Schlussantrag, 13.06.2014, § 279) an. Kurz vor Weihnachten 2014 erklärte der Europäische Gerichtshof dann jedoch die Beitrittsübereinkunft für nicht vereinbar mit dem Primärrecht der EU (EuGH, Gutachten 2/13, 18.12.2014).

6 Thou shalt have no other courts before me“ oder: Wie sich der europäische Gerichtshof intrajustiziellen Kontrolle entziehen will

Michl (2014).

Die Entscheidung wurde im juristischen Fachdiskurs überwiegend abgelehnt,Footnote 13 wobei vor allem drei Argumente der Luxemburger Richter kritisch beurteilt wurden:

  1. 1.

    Der Europäische Gerichtshof perhorresziert anhand hypothetischer Probleme die Gefahr, dass durch Entscheidungen des EGMR das Schutzniveau der Grundrechtecharta unterschritten werden könnte (Tomuschat 2015: 139; Wendel 2014). Schon in Melloni (EuGH, C-399/11, 26.02.2013) hatten die Richter aber die umgekehrte Tendenz gezeigt, eher den Schutz individueller Grundrechte gegenüber einheitlicher europäischer Rechtsanwendung zurücktreten zu lassen (Besselink 2014).

  2. 2.

    Luxemburg hält auch eine mögliche Kontrolle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) durch den EGMR nach Unionsrecht für unzulässig, obwohl dieser Bereich der Jurisdiktion des EuGH weitgehend entzogen ist.

  3. 3.

    In ähnlicher Weise wollen die Richter offenkundig auch im Bereich der Regelungen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) eine mögliche Straßburger Jurisdiktion unterbinden. Dabei stellen sie insbesondere auf die „fundamentale Bedeutung“ des „Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens“ im RFSR ab (EuGH, Gutachten 2/13, 18.12.2014, § 191), wie sie für die Regelungen zum Europäischen Haftbefehl wie auch des europäischen Asylregimes vorausgesetzt wird.

Stellt man in Rechnung, dass der Europäische Gerichtshof schon 1996 den ersten Versuch eines Beitritts der EU zur EMRK unterbunden und eine primärrechtliche Ermächtigung verlangt hatte (EuGH, Gutachten 2/96, 28.03.1996, § 35), könnte man vermuten, dass Luxemburg auch mit dem aktuellen Gutachten jede Möglichkeit unterbinden will, dem EGMR einen kompetenzrechtlichen Zugriff zu ermöglichen. Insbesondere mit Blick auf die Ausführungen zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erhält man den Eindruck, Luxemburg nehme eher eine grundrechtliche Kontrolllücke in Kauf, als diese Kompetenz einem anderen Gericht auch nur ansatzweise einzuräumen (Michl 2014). Zu einer ähnlichen Einschätzung kann man auch mit Blick auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts kommen, denn: „es kann nicht im Sinne einer effektiven Menschenrechtskontrolle sein, einen wie auch immer gearteten Kontrollausschluss in einem der grundrechtssensibelsten Bereiche des Unionsrechts schlechthin herbeizuführen“ (Wendel 2014). Insgesamt vermittelt der Europäische Gerichtshof mit dieser in Form und Inhalt unerwartet deutlichen Zurückweisung den Eindruck, dass er unwillig ist, sich in irgendeiner Form einer möglichen Jurisdiktion Straßburgs zu unterwerfen.

Zugleich ist aber weiterhin zu beachten, dass sich alle Gerichte – zumindest meist – der prekären Folgebereitschaft bewusst sind, mit der ihr Handeln stets konfrontiert ist. So überrascht es wenig, dass die Gerichte in Kompetenzkonflikten trotz aller Differenzen meist in freundlichem Ton miteinander umgehen. Nationale und europäische Gerichte betonen ausdauernd ihr „Kooperationsverhältnis“ (BVerfGE 89, 155 [156]). Umso bemerkenswerter ist es, dass die Gerichte in ihrer Argumentation Konzilianz ‚zurückzufahren‘ scheinen: So vermittelt das Gutachten des EuGH zum Beitrittsübereinkommen mit dem EMRK – anders als etwa die Stellungnahme der Generalanwältin Kokott – im Ergebnis den Eindruck, dass ein EMRK-Beitritt der EU faktisch unmöglich bleiben soll. Bezeichnend ist insbesondere, dass die Luxemburger Richter eher dazu bereit sind, grundrechtliche Schutzlücken in der GASP in Kauf zu nehmen, als eine andere Jurisdiktion zuzulassen. So weit geht das BVerfG sicher nicht, doch ist es offensichtlich, dass es sich bei der Vorabentscheidungsvorlage an den EuGH im OMT-Verfahren (BVerfGE 134, 366) eher um ein Danaergeschenk als eine Einladung zur Kooperation handelt. Bezeichnenderweise ignoriert der Europäische Gerichtshof in seiner Antwort die zahlreichen vorgebrachten Argumente geflissentlich (EuGH, C-62/14. 16.06.2015, Gauweiler). Schließlich ist auch nicht zu erwarten, dass der EGMR angesichts des Gutachtens aus Luxemburg seine Bosphorus-Rechtsprechung zurücknehmen wird. Eine Passage im Vorwort zum Jahresbericht des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 2015: 6) lässt eher wahrscheinlich erscheinen, dass Straßburg das Handeln der EU nach Scheitern des EMRK-Beitritts noch intensiver unter die Lupe nehmen wird (Lock 2015).

7 Konsequenzen für Gewaltenteilung und Rechtstaatlichkeit im europäischen Mehrebenensystem

Welche Implikationen hat diese justizielle Konkurrenz für Gewaltenteilung und Rechtstaatlichkeit im europäischen Mehrebenensystem? Die Bilanz fällt ambivalent aus. So ist nicht zu übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt im Zusammenwirken von nationalen Verfassungsgerichten, EuGH und EGMR – nicht nur umfassende grundrechtliche Schutzstandards deklariert wurden, sondern sich auch effektive Mechanismen zu ihrer gerichtlichen Kontrolle herausgebildet haben. Hinsichtlich des Schutzes des Individuums hat die ‚Vervielfachung‘ der Beschwerdemöglichkeiten, die Optionen, um Schutz nachsuchen zu können, eher erhöht.Footnote 14 Soweit ein ‚Interpretationsdiskurs‘ geführt wird, scheint dieser auch eher den Einzelnen gegenüber staatlichem Handeln zu stärken. Im Falle von Grundrechtskonkurrenzen verhält es sich naturgemäß anders, doch scheint auch hier die richterliche Vielstimmigkeit insgesamt eher zu einer ‚Schärfung‘ der Argumente und einer Hinterfragung traditioneller Argumentationsfiguren beizutragen. Insofern kann man wohl zumindest mit Blick auf den Schutz des Individuums einen Kontrollzuwachs konstatieren. Allerdings argumentieren die beteiligten Gerichte nicht nur im ‚Interpretationsdiskurs‘, sondern streiten zugleich auch über ihre Kompetenzen. Dies beinhaltet eine beträchtliche Einbuße von Rechtssicherheit, die eines der wesentlichen Elemente von Rechtsstaatlichkeit ist. Dies könnte auch die Möglichkeit eröffnen, im Zuge von „forum shopping“ (Streinz 2014) Zugang zu jenem Gericht zu suchen, von dem man sich eine Entscheidung entsprechend der eigenen Interessen erwartet. Insbesondere mit Blick auf den EuGH konnten entsprechende strategische Erwägungen von Privaten konstatiert werden (Mattli und Slaughter 1998: 186 ff.). Letztendlich könnte auch die Gefahr bestehen, dass die über ihre Kompetenzen streitenden Gerichte sich von den politischen Institutionen ‚funktionalisieren‘ lassen.

Insofern ist die interne Teilung der Judikative bedenklich, denn die betroffenen Gerichte scheinen die überlappenden Rechtskreise des europäischen „Grundrechtsföderalismus“ (Kingreen 2013) weniger als Chance für die gemeinsame Sache denn als Risiko für den eigenen Gestaltungsspielraum zu begreifen. Es ist zu hoffen, dass die vom EuGH im Gutachten zum EMRK-Beitritt dokumentierte Bereitschaft, eher Schutzlücken als ‚fremde‘ Jurisdiktion akzeptieren zu wollen, kein Menetekel ist.