1 Einleitung

Gewaltenteilung und Demokratie sind nicht nur Kernkonzepte der Politikwissenschaft – sie sind auch eng aufeinander bezogen, denn repräsentative Demokratien, die demokratischen Standards genügen, müssen auf einem gewaltenteiligen System beruhen. Jede nicht-diktatorische Herrschaftsform steht vor dem Problem, wer in letzter Instanz die „Wächter“ bewachen wird (‚quis custodiet ipsos custodes‘). Um Missbrauch durch die Herrschaftsträger zu verhindern soll Herrschaftsmacht – verstanden als die mit der Ausübung politischer Herrschaft verbundenen Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenzen – zwischen verschiedenen Trägern geteilt sein (Steffani 1962). Dieser normative Anspruch ist in der gängigen Praxis repräsentativer Demokratien in die formal-institutionelle Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative übersetzt. Diese Trennung erlaubt gegenseitige Kontrolle, Ausgleich und Mäßigung der Herrschaftsmacht. Und indem die Herrschaftsorgane einander einschränken und kontrollieren, entsteht auch für die Bürger ein politischer Raum, in dem sie individuelle Entscheidungen treffen und auch abweichende Positionen vertreten können (Montesquieu 1986 [1748]: Teil 2).

So gängig diese Verbindung von Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie normativ und praktisch in allen westlichen Staaten sein mag, so ist sie seit mehreren Jahrzehnten Wandlungsprozessen unterzogen. Ein zentraler Faktor für Veränderung ist dabei die Europäische Integration, die in den EU-Mitgliedstaaten und besonders in ihren politischen Systemen vielfältige Anpassungsprozesse auslöst. Zum einen erfordert die nationale Umsetzung europäischer Politikvorgaben Anpassungen der jeweiligen politischen Systeme (Goetz und Meyer-Sahling 2008). Umgekehrt müssen nationale Akteure zunehmend die EU als Handlungsebene einbeziehen (Bartolini 2005). Dies betrifft nicht nur Regierungen und Ministerialbürokratien, für die die Mitarbeit an politischen Prozessen in Brüssel schon zur Routine geworden ist (Beichelt 2007), sondern auch die nationalen und regionalen Parlamente (Christiansen et al. 2014; Kropp et al. 2012). Anpassungsprozesse betreffen damit oftmals auch die Kontrolle und Beschränkung von Herrschaftsmacht, also die Gewaltenteilung.

Ein prominentes Beispiel ist die Rolle des Bundestags in der Euro-Finanzhilfenpolitik. Hier entschied das Bundesverfassungsgericht im Spätsommer 2011 nach Streitigkeiten zwischen der Regierung und den Abgeordneten und mit implizitem Bezug auf Normen der Gewaltenteilung, dass die Beteiligungsrechte der Legislative zu wahren seien (siehe dazu Kneip, Wimmel und Wiesner in diesem Band). In anderen EU-Staaten – und ohne Eingreifen der Judikative – wurden dagegen im Zuge der Krise die Kompetenzen der nationalen Legislativen reduziert. In der Konsequenz verschiebt sich in solchen Fällen durch Einflüsse der EU-Ebene die Balance in der Gewaltenteilung nationaler repräsentativer Demokratien, ohne dass diese auf EU-Ebene vollständig kompensiert werden (kann). Vielmehr ist Herrschaftsmacht im EU-Mehrebenensystem nicht eindeutig zu lokalisieren, sondern zwischen Ebenen und Institutionen geteilt. Praktische Eingriffe in die Gewaltenteilung der Mitgliedstaaten können dann entweder innerhalb der Mitgliedstaaten selbst (z. B. wie beschrieben bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) oder auch seitens der EU-Ebene (bei Kritik durch die EU-Kommission oder Urteilen des EuGH) kritisiert und beantwortet werden. Vor diesem Hintergrund fragen wir in dem vorliegenden Sonderheft: Wie gestalten sich heute Gewaltenteilung und Demokratie im Mehrebenensystem der Europäischen Union (EU) und in den politischen Systemen ihrer Mitgliedstaaten? Welches sind dabei Konsequenzen für die derzeitige, faktische Ausgestaltung von Demokratie und Gewaltenteilung? Und was folgt daraus für ihre zukünftige Entwicklung?

Ausgehend von den Kernkategorien Gewaltenteilung und Demokratie zielt der vorliegende Band dabei auch darauf, ihre Passfähigkeit und Reichweite für das EU-Mehrebenensystem zu diskutieren. Theoretisch und konzeptionell bedarf dies der Verknüpfung zentraler Erkenntnisse der Teildisziplinen Vergleichende Politikwissenschaft und Europaforschung. Dabei stellen gerade die Anpassungsprozesse in Folge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise eine Herausforderung dar.Footnote 1 Was in der eher umgangssprachlichen Debatte und im Deutschen unter „Eurokrise“ gefasst wird, betrifft neben ökonomischen und integrationstheoretischen Aspekten noch eine dritte, wesentliche Dimension, nämlich auch die politische Steuerung der Krisenfolgen in der Eurozone. Damit ist eine Legitimationskrise verbunden: zwischen 2008 und 2013 sanken die Vertrauens- und Unterstützungswerte der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern stark ab. Vor diesem Hintergrund nehmen zahlreiche Beiträge die aktuellen Entwicklungen um die Wirtschafts- und Finanzkrise zum Ausgangspunkt, um Demokratie und Gewaltenteilung im EU-Mehrebenensystem zu diskutieren.

Im Folgenden wenden wir uns zunächst den Begriffen der Demokratie und Gewaltenteilung zu, bevor wir drei zentrale Charakterisierungen von Gewaltenteilung in repräsentativen Demokratien einführen. Auf dieser Basis konzeptionalisieren wir den Zusammenhang von Demokratie und Gewaltenteilung in drei Dimensionen des EU-Mehrebenensystems und bieten abschließend einen Überblick über Struktur und Beiträge des Sonderheftes.

2 Gewaltenteilung und Demokratie: Begriffe, Charakterisierungen und Dimensionen

Wenden wir uns zunächst den Begriffen der Demokratie und der Gewaltenteilung zu. Gleich zu Beginn ist festzustellen: Es gibt keine einheitliche Definition der Demokratie, sondern vielmehr eine Ideen- und Begriffsgeschichte von mehreren tausend Jahren. Die gängigen Einführungsbücher in die Politikwissenschaft unterscheiden verschiedene Demokratiekonzepte, wie etwa die der athenischen Polis, der direkten Demokratie, der Rätedemokratie, und der repräsentativen Demokratie, die in diesem Band im Vordergrund steht. Die repräsentative Demokratie hat in diesem Zusammenhang eine ambivalente Rolle. Theorie und Praxis repräsentativer Demokratie wurden und werden aus normativer Sicht und basierend auf einem starkdemokratischen Ideal kritisiert, weil Repräsentation in ihrem Entstehungskontext elitär angelegt war und eben nicht auf eine möglichst breite Partizipation setzte (siehe dazu etwa Manin 1997; Urbinati 2006). Andererseits ist der Typus der repräsentativen Demokratie heute in der Praxis derartig vorherrschend, dass er in den einschlägigen Demokratieindizes wie Freedom House zum qualitativen Maßstab wird. Ohne die theoretisch-konzeptionelle Diskussion hier fortsetzen zu können, lässt sich der Typus repräsentativer Demokratie mit einem gewaltenteiligen System als ein möglicher kleinster gemeinsamer Nenner, oder aber als Mindeststandard in der konzeptionellen Diskussion um Demokratie fassen.

Der Begriff der Gewaltenteilung beschreibt eine Form der Organisation demokratischer Herrschaft und formuliert gleichzeitig ebenfalls einen normativen Anspruch: Demnach soll Herrschaftsmacht in der institutionellen Anlage und in der praktischen Umsetzung kontrolliert, gemäßigt und ausgeglichen werden. Ziel ist die Begrenzung von Herrschaftsmacht bei Sicherung von Freiheit und Gleichheit. In repräsentativen Demokratien geschieht dies in der Regel durch eine Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, die verfassungsrechtlich festgeschrieben und formal in allen politischen Systemen Europas angelegt ist.

Wie gestaltet sich nun der conceptual link zwischen repräsentativer Demokratie und Gewaltenteilung? Während das vorliegende Sonderheft eine Vielfalt möglicher Zugänge und Ansätze zum Verständnis von Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie im EU-Mehrebenensystem präsentiert, lassen sich drei nicht-ausschließliche Charakterisierungen benennen, die alle Zugänge gemeinsam haben, und mit denen Herrschaftsmacht in repräsentativen Demokratien systematisch beschrieben und erfasst werden kann. Konzeptionell lassen sich so nicht nur a) verschiedene Aspekte von Herrschaftsmacht erfassen, sondern auch b) getrennte von geteilter Herrschaftsmacht sowie c) formale Ausformungen von der faktischen Praxis der Teilung und Kontrolle unterscheiden.

  1. a)

    Gewaltenteilung geht immer von Kontrolle, Mäßigung und Ausgleich der Herrschaftsmacht aus. Oft ist es aber notwendig, den Aspekt der Herrschaft zu präzisieren, auf den Bezug genommen wird. Diese kann sich auf unterschiedliche Teile des Politikzyklus beziehen, wie zum Beispiel Entscheidungskompetenzen oder Durchsetzungskraft in der Implementation. Eine Charakterisierung muss also die Frage beinhalten, worauf sich die konkreten Einflussmöglichkeiten und Formen der Machtausübung beziehen.

  2. b)

    Historisch dominierte lange die Vorstellung, dass eine strikte Gewaltentrennung mit hoher Unabhängigkeit und Eingriffsrechten eines Organs in die jeweils anderen Gewalten eine gute Voraussetzung für effektive Kontrolle von Herrschaftsmacht ist. Diese Perspektive dominiert noch heute in präsidentiellen Systemen, bspw. den USA. Die Trennung der Gewalten ist jedoch je nach Systemtypus unterschiedlich stark ausgeprägt. Anders als in präsidentiellen Systemen sind in parlamentarischen Demokratien Legislative, Exekutive und Judikative stärker verzahnt, es existieren vielfältige Mechanismen der Machtverschränkung. Beispielsweise steht einer parlamentarischen Regierungskontrolle gouvernementale Parlamentskontrolle gegenüber. Wir können also systematische Unterscheidungen in Bezug auf die Frage vornehmen, ob und wie stark Herrschaftsmacht getrennt oder aber geteilt ist (Steffani 1979).

  3. c)

    Weil aber ein gleicher oder ähnlicher Grad der Trennung von Herrschaftsmacht mit sehr unterschiedlichen Kontrollpraktiken einhergehen kann, interessiert sowohl bei Gewaltentrennung als auch bei Gewaltenverschränkung aus analytischer Perspektive immer auch die Praxis der Trennung bzw. Teilung, und die tatsächliche Begrenzung der Macht des Staates (Persson et al. 1997). Interpretiert man Gewaltenteilung vor diesem Hintergrund nicht eng, sondern fragt nach den faktischen und oftmals dynamischen (Holtmann 2004) „checks and balances“, so stellt sich die Frage, wie diese aufgestellt sind, auf welche konkreten Beziehungen von Herrschaftsmacht sie fokussieren und wie dicht und funktionsfähig sie sind.

Wie stellen sich vor diesem Hintergrund die Ausformungen und Beziehungen von Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie im EU-Mehrebenensystem dar? Hierzu unterscheiden wir im Folgenden drei unterschiedliche Dimensionen der Trennung und Verschränkung von Herrschaftsmacht: interne, horizontale und vertikale. In jeder Dimension können wir die eben eingeführten Charakterisierungen nutzen, um konkrete, vorliegende Herrschaftsmacht mit Bezug auf verschiedene Herrschaftsaspekte, als getrennt oder geteilt, sowie formal oder praktisch zu erfassen. Innerhalb der einzelnen Dimensionen interessiert uns weiterhin die spezifische Verknüpfung von Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie, besonders vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklungen und Veränderungen des EU-Mehrebenensystems:

  • Die interne Aufsplittung einer Organgewalt auf unterschiedliche Institutionen eines politischen Systems ist von der Idee der Teilung von Herrschaftsmacht zwischen den Gewalten zu unterscheiden. Die Konstellation im politischen System der EU verdeutlicht diese Unterscheidung: Während das Konzept der Gewaltenteilung explizit davon ausgeht, dass Herrschaftsmacht unter den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative institutionell aufgeteilt bzw. getrennt ist, finden wir hier eine interne Teilung der Funktionen der Gewalten vor. Legislative und Exekutive lassen sich in der EU-polity zwar ausmachen, nicht aber einzelnen Institutionen exklusiv zuordnen. Sie werden von stärker intergouvernemental und stärker supranational orientierten Institutionen gemeinsam erbracht (Tömmel 2014). Die Entscheidung über Gesetzestexte ist zwischen Rat und Parlament geteilt, während die Kommission mit einem quasi Initiativmonopol für europäische Gesetzgebung ausgestattet ist (siehe Hartlapp/Metz/Rauh in diesem Band)Footnote 2. Auch für den Europäischen Gerichtshof wird häufig diskutiert, ob und inwieweit er durch seine Urteile gesetzgebende Wirkung erlangt (Martinsen 2015).Footnote 3 Exekutivfunktionen liegen hingegen nicht nur beim Rat, sondern auch bei der Kommission, die mit der Implementation und Überwachung gemeinschaftlicher Politiken betraut ist. Nur die klassischen Funktionen der Judikative finden sich beim Europäischen Gerichtshof vereint – hier fehlt ein intergouvernemental orientierter Gegenpart. Kurz, auf Ebene der EU finden wir keine Trennung, sondern eine extreme Form der Verschränkung der Gewalten, die damit eine Reihe von Fragen aufwirft: So wird die Diskussion, was diese interne Verschränkung der Gewalten auf EU-Ebene für die repräsentative Demokratie bedeutet, seit Beginn der Debatte um das „Demokratiedefizit“ in den 1990er Jahren geführt (für viele: Follesdal und Hix 2006; Moravcsik 2004). Häufig wird die Verwobenheit der Funktionen der Gewalten dabei aus grundsätzlichen Erwägungen heraus kritisch bewertet. Eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten scheint schwieriger umzusetzen, wenn diese nicht klar voneinander abgegrenzt sind. Wie aber gestaltet sich die Verschränkungspraxis, also die faktische Ausprägung von Gewaltenteilung im EU System? Welche Beziehungen und Konflikte können wir beobachten (siehe Hartlapp, Metz und Rauh in diesem Band)? Lassen sich diese mit der Begrifflichkeit der vergleichenden Regierungslehre fassen oder bedarf es zusätzlicher Beschreibungen, wie bspw. Verfahrensmacht und Entscheidungsmacht (siehe Tömmel in diesem Band)? Überspannt Herrschaftsmacht in der Praxis dieser Verschränkungen formal angelegte interne Trennungen? Führen in der EU andauernde Prozesse des Austarierens zu Instabilität, oder sind sie vielmehr Bedingung der Stabilität (siehe Benz in diesem Band)?

  • Gleichzeitig, und das ist die zweite Dimension, interessieren auf den einzelnen Ebenen die horizontalen Beziehungen zwischen den Gewalten. Diese Dimension kommt dem klassischen Begriff der Gewaltenteilung am nächsten. Jede Gewalt hat spezifische Funktionen: Die Legislative formuliert Gesetze, die Exekutive führt (politische) Entscheidungen aus und die Judikative spricht Recht. Im EU-Mehrebenensystem geht nun einerseits die Politikgestaltung mit ihrem großen Interpretations- und Auslegungsbedarf mit einer Aufwertung der Judikative einher (siehe allgemein Brodocz 2009), andererseits beobachten wir in der Gesamtheit eine Schwächung der nationalen Legislativen gegenüber den anderen Gewalten. Auf nationaler Ebene sind die Kontrollmöglichkeiten der Parlamente bei gleichzeitig zunehmender Legislativtätigkeit der nationalen Exekutiven über den EU-Ministerrat auch nach dem Lissabonner Vertrag nach wie vor grundsätzlich eher schwach ausgeprägt. Jedoch haben gerade im Zug der Krise in der Eurozone einige Parlamente, wie etwa der Deutsche Bundestag, neue Kontroll- und auch Entscheidungskompetenzen hinzugewonnen (siehe Wimmel und Abels in diesem Band). Die Parlamente der Empfängerstaaten der Finanzhilfen wurden dagegen in ihren Entscheidungskompetenzen noch weiter beschränkt (siehe Wiesner in diesem Band). Analysen, welche die horizontale Dimension der Gewaltenteilung in den Mittelpunkt stellen, interessieren sich entsprechend für Zuwächse oder Verluste von Kontrollmacht einzelner Gewalten auf den jeweiligen Ebenen. Im Mittelpunkt steht in diesem Band dabei die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen und in welchen Konstellationen die Legislativen, d. h. Parlamente, relativ mehr oder weniger Einfluss und Kontrolle (über andere Gewalten in ihrem jeweiligen System) (wieder-)erlangen können. Wenn die Governance der Wirtschafts- und Finanzkrise die horizontale Kräfteverschiebung verstärkt, wie lässt sich dies hinsichtlich formaler Regeln und konkreter Praktiken fassen – und zwar sowohl zwischen den EU-Organen (Bauer und Becker in diesem Band) als auch auf der Ebene der Nationalstaaten, wo sich Tendenzen von Re-Parlamentarisierung, aber auch von De-Parlamentarisierung ausmachen lassen (Kropp und Buzogany, Wimmel und Wiesner in diesem Band)? Kurz, welche Rolle haben Parlamente als nationale Legislativen und zentrale Orte der repräsentativ-demokratischen Willensbildung im EU-Mehrebenensystem, und wie verändert sich diese aktuell?

  • Schließlich ist Herrschaftsmacht nicht eindeutig auf der nationalen oder supranationalen Ebene zu lokalisieren. Repräsentative Demokratie und Gewaltenteilung sind in der EU mithin nicht allein horizontal, also auf den Ebenen der EU und der Mitgliedstaaten, ausgeprägt, sondern auch vertikal, durch die Beziehungen zwischen den einzelnen Ebenen. Die nationale und teilweise auch die subnationale Ebene beeinflussen formal die Regierungsmacht der supranationalen Ebene und andersherum (Benz und Zimmer 2010). Nationale Regierungen kontrollieren EU-Institutionen bspw. bei der Ernennung der Kommissionsmitglieder und in Verhandlungen, aber auch über formale Klagemöglichkeiten, bspw. über Nichtigkeitsklagen bei Kompetenzüberschreitungen (Bauer und Hartlapp 2011). Die EU-Institutionen ihrerseits kontrollieren Mitgliedstaaten bei der Umsetzung und Anwendung gemeinschaftlicher Regeln. In der Literatur zu Mehrebenensystemen gilt diese Dimension der Gewaltenteilung mit ihrer vertikalen Verschränkung von Herrschaftsmacht als notwendig im Umgang mit den heterogenen Interessen der Ebenen – in föderalen Systemen ebenso wie in der EU (Benz 2009). Für die demokratische Praxis rückt damit aber immer auch die Frage nach den Auswirkungen des Mehrebenensystems auf Gewaltenteilung und Demokratie in den Systemen der Mitgliedstaaten, sowie die vertikale Beziehung zwischen den Ebenen in den Mittelpunkt.

Die vertikalen Verflechtungen im EU-Mehrebenensystem und ihre Auswirkungen auf Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie stehen entsprechend im Mittelpunkt verschiedener Beiträge, die aktuelle Entwicklungen, Dynamiken und Wechselbeziehungen in den Fokus nehmen. Dabei lassen sich in den nationalen Systemen unterschiedliche Reaktionen und Adaptationsstrategien diagnostizieren. So bedroht das Krisenmanagement in der Eurozone in den Geber- und vor allem in den Empfängerstaaten zentrale Aspekte nationalstaatlicher repräsentativer Demokratie und Gewaltenteilung, oder setzt sie sogar außer Kraft (siehe Wiesner in diesem Band). Dies wird von Gerichten auf den unterschiedlichen Ebenen kritisch bewertet (siehe in diesem Band Kneip, Kranenpohl und Wimmel) und wirft die Frage auf, wie sich vertikale Zurechenbarkeiten und Verantwortlichkeiten in Mehrebenensystemen positiv ausgestalten lassen (siehe in diesem Band Behnke, Benz und Conceição-Heldt)?

Alle drei Dimensionen – die innere Teilung, die horizontale Ausprägung auf den einzelnen Ebenen, und die vertikale Dynamik zwischen den Ebenen – prägen Gewaltenteilung und Demokratie im EU-Mehrebenensystem und sind miteinander verwoben. So ist etwa die Exekutivmacht des Rats immer auch mit der Legitimation über die nationale Ebene verbunden. Analytisch lassen sich die Dimensionen jedoch voneinander abgrenzen. Der Sonderband ist daher so strukturiert, dass wir zunächst eine analytische Verdichtung von Gewaltenteilung und Demokratie in drei Beiträgen vornehmen, bevor wir uns – immer mit Blick auf die drei zu unterscheidenden Dimensionen – Entwicklungen im EU-System und auf nationaler Ebene zuwenden.

3 Die Beiträge des Sonderheftes

Im ersten Teil des Bandes werden zunächst die Konzepte der Gewaltenteilung und Kontrolle von Herrschaftsmacht grundsätzlich sowie für das EU-Mehrebenensystem diskutiert. Hans-Joachim Lauth konkretisiert das Konzept der Gewaltenteilung mit einem spezifischen Fokus auf Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit (accountability). Er stellt die Grundsatzfrage, wer wen aus welchen Gründen, in welcher Weise, und mit welchen Kompetenzen in einem demokratischen Kontext kontrollieren solle. Seine Zuspitzung betont, dass die Komplexität des EU-Mehrebenensystems besondere Anforderungen stelle. Es seien nicht nur formale, sondern auch informelle Beziehungen zu berücksichtigen. Adressaten und Akteure der Kontrollen seien aufgrund der Kompetenzüberlappungen nicht klar zu trennen; es sei von einem multiplen Kontrollgeflecht mit wechselnden Akteuren zu sprechen.

Die Komplexität des EU-Mehrebenensystems ist empirischer Ausgangspunkt für Arthur Benz. In einer konzeptionellen Erweiterung der skizzierten Dimensionen interner, horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung charakterisiert er Gewaltenteilung in Mehrebenensystemen als komplexe Verflechtung, nämlich a) einer vertikalen Gewaltenteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten, b) einer Gewaltenteilung zwischen Parlament und Exekutive und c) einer horizontalen Gewaltenteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Die so entstandene Machtbalance wird aktuell durch Überzentralisierung oder Desintegration, Exekutivdominanz oder Blockadepolitik von Parlamenten oder von Asymmetrie in der horizontalen Dimensionen gefährdet, weil diese als destabilisierende Dynamiken wirken. Benz argumentiert jedoch, dass die EU in Ansätzen über Mechanismen verfügt, die diesen destabilisierenden Tendenzen entgegenwirken können, um die Gemeinwohlorientierung der Agenda-Macht der Kommission und der Entscheidungsmacht der Regierungen unter Abwägung nationaler und europäischer Interessen zu prüfen (parlamentarisches Monitoring, Subsidiaritätskontrolle, interparlamentarische Beziehungen). Die Aufrechterhaltung der aktuell gefährdeten Gewaltenbalance in Europa erfordert aber eine Stärkung dieser Mechanismen.

Auch Ingeborg Tömmel konstatiert Veränderungen in der Machtbalance des EU-Mehrebenensystems. Ausgehend von der Feststellung, dass dessen Ausprägung von der klassischen Lehre der Gewaltenteilung durch die interne Verschränkung abweiche, betrachtet sie den Ausgleich zwischen den Organen und Ebenen der EU über das Zusammenspiel von Initiativmacht und Entscheidungsmacht, sowie die Übertragung der letzteren auf zwei Organe, die unabhängig voneinander bestellt werden, als eine EU-spezifische Form der Gewaltenteilung. Sie betont, dass dieser Ausgleichsmechanismus angesichts jüngerer Entwicklungen außer Kontrolle gerät. In der Ausgestaltung der Politikfelder Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Innen- und Justizpolitik sowie Währungsunion dominiert der Rat; die Mitwirkung von Kommission und Parlament ist eng begrenzt, und Initiativ- wie auch Entscheidungsmacht sind mithin stark auf den Rat konzentriert. Dies beschneidet nicht allein die Einflussmöglichkeiten des EP, sondern auch die der Kommission.

Dieser erste Teil des Sonderbandes zeigt deutlich, dass und wie die Begriffe Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie unterschiedliche Facetten aufweisen, aber auch, wo und in inwieweit sie miteinander verwoben sind bzw. aufeinander verweisen. Deutlich wird auch, dass Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie im EU-Mehrebenensystem besonderen Herausforderungen gegenüberstehen.

Im zweiten Teil des Sonderbandes geht es schwerpunktmäßig um die praktische Ausprägung der Gewaltenteilung im EU-Mehrebenensystem entlang der internen und horizontalen Dimension. Die in diesem Teil versammelten Beiträge diskutieren die Institutionen im politischen System der EU, informelle Praktiken und ihre formalen Eingriffsrechte in die Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten anderer Organe.

Die ersten beiden Beiträge stellen die Europäische Kommission in den Mittelpunkt und fragen nach Begrenzung und Balance ihrer Herrschaftsmacht durch formale Regeln und praktische Prozesse. Den Auftakt macht ein Beitrag von Frank Decker und Jared Sonnicksen, die das Verhältnis von Europäischem Parlament und Kommission als Ausgangpunkt nehmen, um zu fragen, ob die Union sich auf den Weg zu einem parlamentarischen Regierungssystem begeben hat, oder ob sie sich noch auf dem Pfad zum präsidentiellen System befindet. Die detaillierte empirische Analyse des Bestellungsverfahrens für den Kommissionspräsidenten und das weitere Kollegium der Kommission, sowie der Tatbestand der parlamentarischen Abberufbarkeit der Exekutivspitze führt zu einer Charakterisierung der EU-polity als zunehmend parlamentarisiertes System. Die Autoren konstatieren, dass parlamentarische Kontrollkompetenzen des EP gegenüber der Kommission zugenommen haben, dass die Parlamentarisierung aber gleichzeitig durch einen Mangel an parteipolitischer Durchdringung der Handlungsentscheidungen begrenzt ist. Schließlich zeigt die Zurückhaltung der europäischen Regierungschefs, die Spitzenkandidaten im Europawahlkampf als Anwärter auf den Posten des Präsidenten der Europäischen Kommission anzuerkennen, deutlich, dass Kompetenzen, Einflussmöglichkeiten und institutionelle Rollen in der EU nicht fix sind. Vielmehr unterliegen sie dem ständigen Bestreben der politischen Akteure, ihre Handlungskompetenzen auszudehnen oder zu begrenzen.

Miriam Hartlapp, Julia Metz und Christian Rauh unterstreichen mit ihrer Analyse der Agenda-Setting Macht der Kommission, dass die faktische Verschränkung der Herrschaftsmacht auch in Bereichen formal geteilter Macht groß ist. Die Komplexität des europäischen Institutionen- und Mehrebenensystems und der inter-institutionelle Gesetzgebungsprozess mäßigen die Macht der Kommission, denn ohne Antizipation nationaler und gesellschaftlicher Interessen ist funktionale Politikgestaltung im EU-Mehrebenensystem kaum denkbar. Gleichwohl lassen sich aus einer disaggregierten Perspektive auf die EU Kommission Unterschiede feststellen. Ob legislative und judikative Organe der EU sowie weitere gesellschaftliche Akteure bei der Positionsbildung berücksichtigt werden, wer also die Kommission kontrolliert und mit wem sie ihre Macht teilt, hängt systematisch von der jeweils dominanten Prozesslogik ab: empirisch lassen sich funktionale, an Kompetenzen orientierte oder ideologie-basierte Prozesse identifizieren.

Mit dem Beitrag von Michael Bauer und Stefan Becker schwenkt unsere Aufmerksamkeit zum Europäischen Parlament und seinen Kompetenzen sowie den realen Einflussmöglichkeiten gegenüber den anderen Organen des EU-Systems. Im Mittelpunkt steht Haushaltspolitik und die Frage, wie stark eine der Prärogativen nationaler Parlamente – Budgetkompetenz – in der EU-polity ausgeprägt ist. Durch die detaillierte Analyse der Kernbereiche Mehrjähriger Finanzrahmen (MFR) und Jahreshaushaltsverfahren gelingt den Autoren ein überraschender Befund: Während die Legislativmacht des Europäischen Parlaments im historischen Verlauf der Integration und besonders mit dem Vertrag von Lissabon aufgewertet wurde, sind gerade die rechtlichen Veränderungen im Haushaltsverfahren ursächlich für faktische Machtreduktion. Den mitgliedstaatlichen Regierungen kann das Parlament aufgrund fehlender interner Präferenzhomogenität, organisatorischer Kapazitäten die zu Informationsdefiziten führen, situativer Faktoren der aktuellen Krise und fehlender Koalitionsmöglichkeiten mit Mitgliedstaaten gegenwärtig nur bedingt entgegentreten.

Der folgende Beitrag von Eugénia da Conceição-Heldt richtet sich auf neue Konstellationen des Regierens in der EU polity, die durch die Wirtschafts- und Finanzkrise induziert wurden. Sie untersucht die Zurechenbarkeit von Verantwortung im EU-Mehrebenensystem während der Einrichtung und Durchführung der Hilfsprogramme für Eurostaaten im Zuge der Staatsschuldenkrise. Ihr Vergleich einer Delegationsbeziehung (Europäische Kommission – Rat der Europäischen Union) mit einer Treuhänderbeziehung (Europäische Zentralbank – Eurostaaten) zeigt, dass in der Delegationsbeziehung hierarchische und überwachende Kontrollmechanismen durch formalisierte, ministerielle Gremien dominieren. Der größere Ermessensspielraum und die stärker informellen Kontrollmechanismen über peer Organisationen und öffentliche Meinung in der Treuhänderbeziehung führen hingegen zu einem Verlust an substantieller Zurechenbarkeit.

Schließlich widmen sich zwei Beiträge der Judikative und nehmen eine deutliche Mehrebenenperspektive ein. Sascha Kneip identifiziert zentrale Prinzipien demokratischer Qualität. Vor diesem Hintergrund stellt er die Frage, ob und inwieweit die EU-Urteile des Bundesverfassungsgerichts diese Prinzipien auf nationaler Ebene und mit Bezug auf die EU stärken konnten. Er argumentiert, das Bundesverfassungsgericht habe mit seinen Urteilen die Dimensionen Wettbewerb, Transparenz und Kontrolle gestärkt: die Verfassungsidentitätskontrolle sichert demokratische Teilhabe und die Verantwortlichkeit der Regierenden, indem demokratische Politikbereiche benannt werden, die in der (nationalstaatlichen) demokratischen Selbstbestimmung verbleiben müssen. Komplementär dazu schützt die Ultra-Vires-Kontrolle vor Kompetenzübergriffen durch Organe der Europäischen Union und die jüngst etablierte parlamentarische ‚Integrationsverantwortung‘ zielt darauf, dass nichtlegitimierte Kompetenzverluste erst gar nicht entstehen. Insgesamt kann die Kontrolllücke, die die nationalen Parlamente zum Teil lassen (müssen), prinzipiell durch die Verfassungsgerichtsbarkeit wieder geschlossen werden. Kneips verhalten optimistisches Fazit ist denn auch, dies habe das Demokratiedefizit des EU-Mehrebenensystems zumindest ein kleines Stück weit entschärft.

Uwe Kranenpohl betrachtet die interne Verschränkung justizieller Kontrolle im EU-Mehrebenensystem und fragt dabei nach der Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit für die demokratische Qualität. Im EU-System besteht dabei eine Kompetenzkonkurrenz verschiedener Gerichte und Ebenen: dies betrifft vor allem Konkurrenzen zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten, aber auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK). Kranenpohl unterscheidet in der Konkurrenz eine Kompetenzdimension der anzuwendenden Rechtskreise und eine Interpretationsdimension inhaltlicher Deutungskompetenz. Während der EuGH in der vertikalen Machtteilung in der Kompetenzkonkurrenz schon aufgrund der Konstellation der europäische Verträge Gewinner ist, ist dies in der Kompetenzkonkurrenz zwischen EuGH und EMRK nicht eindeutig. Auch in der Interpretationsdimension geraten die nationalen Gerichte zunehmend unter Druck, besonders durch die Einführung Grundrechtsrelevanter Tatbestände in die Jurisdiktion des EuGH und die Einführung der Individualrechtbeschwerde vor dem EMRK. Jedoch weist Kranenpohl nach, dass der EuGH versucht, sich der intra-justiziellen Kontrolle des EMRK so weit möglich zu entziehen. Insgesamt, so urteilt er, stärkt die Konkurrenz zwischen den Gerichten das einzelne Individuum gegenüber politischen Akteuren, während das Kompetenzgerangel gleichzeitig die Rechtssicherheit im EU-Mehrebenensystem reduziert.

Die Frage nach Demokratie und Gewaltenteilung im Mehrebenensystem der EU berührt wie beschrieben nicht allein die EU-Ebene. Daher nimmt das Sonderheft die Auswirkungen in den Blick, die die europäische Integration auf die politischen Systeme in den Mitgliedstaaten hat, und damit auch auf Gewaltenteilung und Demokratie im komplexen Zusammenspiel horizontaler und vertikaler Trennung und Verschränkung. Darauf fokussiert der dritte Teil des Bandes. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei die Frage, wie die Folgen der neuen Governance-Instrumente in der Finanzkrise zu bewerten sind. Die Beiträge thematisieren neben den offenen und sichtbaren Herausforderungen auch die bislang kaum thematisierten Verschiebungen beispielsweise im Verwaltungsalltag des Krisenmanagements.

Zunächst thematisiert Gabriele Abels verschiedene Konzeptionen von Parlamentarismus im Mehrebenensystem. Sie betont dabei, es gebe eine Abnahme des Teilungsgrades von Herrschaftsmacht in der vertikalen Dimension zwischen den Ebenen: es sei nicht nur ein Funktionswandel von Parlamenten im Mehrebenensystem zu konstatieren, sondern auch insgesamt eine Aushöhlung zentraler Funktionen von Parlamenten. Diese Dynamik wird besonders mit Blick auf subnationale Parlamente deutlich. Jedoch sind Parlamente nicht allein passiv Erleidende; sie kämpfen vielmehr um ihre Kompetenzen und erringen neue Kompetenzen. Auf dieser Basis diskutiert Abels das Konzept eines komplexen Mehrebenenparlamentarismus als Lösungsstrategie. Durch dynamische Netzwerkbeziehungen zwischen Parlamenten, und zwar sowohl horizontaler als auch vertikaler Art, könnten parlamentarische Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten im Mehrebenensystem gestärkt werden.

In den anschließenden drei Beiträgen stehen EU-induzierte Veränderungen auf nationaler Ebene im Fokus. Alle Beiträge befassen sich mit Umgangsweisen, Strategien und Kompetenzen nationaler Organe im Zusammenhang mit den neuen Governance-Strukturen der Finanzkrise. Diese bringen verschiedene Veränderungen und Kompetenzverteilungen mit sich, die in einigen Fällen – nicht aber in allen – zu Lasten der Parlamente gehen.

Nathalie Behnke betrachtet die 2011 und 2013 eingeführten nationalen Berichtspflichten im Rahmen des ‚Europäischen Semesters‘, die durch den so genannten ‚Two-Pack‘ ergänzt wurden. Anknüpfend an Erkenntnisse der Verwaltungsforschung zu administrativer Koordination und zur Europäisierung nationaler Verwaltungen zeigt sie auf, dass durch die eng getakteten Berichtspflichten und den inhaltlichen Austausch zwischen nationaler und europäischer Fach-Bürokratie die vertikale und horizontale Koordination zunimmt und die nationalen Exekutiven insgesamt gestärkt wurden. Innerhalb der nationalen Exekutiven kommt es aber in der Konsequenz zu einer Machtkonzentration. Im deutschen Beispiel konnten die Bundeskanzlerin und das Bundesfinanzministerium ihre Positionen innerhalb der Exekutive, aber auch gegenüber den Bundesländern stärken.

Andreas Wimmel untersucht, ob und inwieweit die rot-grüne Opposition ihre legislative Vetoposition im Bundestag genutzt hat, um die Euro-Rettungspolitik unter den Bedingungen von Parteienwettbewerb und politischem Konflikt zu beeinflussen. Mit Hilfe einer Prozess-Analyse von Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition weist er nach, dass die Führungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zwei wichtige Forderungen als Voraussetzung für eine Zustimmung zum „Fiskalpakt“ und zum ESM-Vertrag durchsetzen konnten. Dieses Ergebnis veranschaulicht, dass sogar Oppositionsparteien in nationalen Parlamenten unter speziellen institutionellen Kontexten als Vetospieler im Mehrebenensystem der EU zu berücksichtigen sind.

Sabine Kropp und Aron Buzogany argumentieren in ihrem Beitrag ebenfalls, dass in den EU-Mitgliedstaaten veränderte Formen parlamentarischer Kontrolle entstünden. Am Beispiel der Parlamente in Schweden, Ungarn und Deutschland und deren Mitwirkung in Angelegenheiten der EU diskutieren sie, dass die europäische Integration horizontale Gewaltenteilung und Verschränkung zwischen Legislative und Exekutive in den Systemen der Mitgliedstaaten nachhaltig verändere. Parlamentarische Kontrolle werde vielfältiger und mehrdimensional, verändere sich je nach den Interessen und Themen der nationalen und europäischen Agenda, und könne von verschiedenen Fraktionen im Parlament ausgehen. Kontrolle speise sich zunehmend aus „Mitregieren“, Netzwerken und Kommunikation.

Claudia Wiesner diskutiert im abschließenden Beitrag des Bandes die Auswirkungen der Governance der Finanzhilfenpolitik mit Blick auf das gesamte EU-Mehrebenensystem. Sie konstatiert, dass auf der EU-Ebene mit den neuen Verträgen zum ESM und zum Stabilitätspakt eine neue intergouvernementale Parallelstruktur zum Institutionensystem des Lissabonner Vertrages geschaffen wurde, die zu einem formalen Ausschluss des Europäischen Parlaments in diesem Politikbereich führte. Die durch die Krisen-Governance induzierten Veränderungen haben darüber hinaus – je nachdem, in welcher Rolle der betreffende Staat in der Finanzhilfenpolitik ist (Geber oder Empfänger) – unterschiedliche Auswirkungen: in den Empfängerstaaten wurden die Kompetenzen der nationalen Parlamente faktisch erheblich beschnitten, in den Nehmerstaaten war dies aber nicht der Fall, es kam sogar zu einer Stärkung des deutschen Bundestages. Zusätzlich entwickelten sich neue horizontale Mitentscheidungsbeziehungen zwischen den nationalen Parlamenten.

Insgesamt zeigen sich also in der Governance der Finanzkrise Ungleichgewichte und Herausforderungen für Demokratie und Gewaltenteilung auf allen Ebenen und in den Wechselbeziehungen des EU-Mehrebenensystems. Dabei unterstreichen die Beiträge in Teil drei des Bandes, dass der Integrationsprozess auf nationaler Ebene die etablierten Arrangements von checks and balances aufgeweicht hat und dass die Qualität neu entstehender horizontaler und vertikaler Verflechtungsmuster in der Summe skeptisch zu bewerten ist – trotz der neu entstanden Kontrollmechanismen.

In der Zusammenschau der drei Teile ist festzustellen, dass der Europäische Integrationsprozess mit Blick auf repräsentative Demokratie und Gewaltenteilung zu deutlich sichtbaren Verschiebungen in der institutionell festgeschriebenen und funktionalen Machtverteilung nationaler politischer Systeme geführt hat. Institutionelle Neuerungen versuchen diese Verschiebungen wieder in eine Balance zu bringen. Dabei bewerten einige Beiträge diese Veränderungen potenziell oder in der aktuellen Praxis positiv, andere betonen hingegen die insgesamt abnehmenden Möglichkeiten zur Kontrolle und Mäßigung von Herrschaftsmacht im EU-Mehrebenensystem: Damit leistet das Sonderheft über die Europaforschung und den Vergleich politischer Systeme hinaus auch einen Beitrag zu den ‚großen Fragen‘ nach Demokratie und Legitimität von Herrschaft.