Die Bremsen gehören zu den wichtigsten Komponenten eines Fahrzeugs. Damit sie auch im autonomen Fahrbetrieb zuverlässig funktionieren, ist eine genaue Abschätzung der Bremskraft notwendig. Die dafür erforderlichen Sensoren an allen relevanten Stellen zu installieren, ist mit hohem Kosten- und Installationsaufwand verbunden. Daher hat Hitachi Astemo im Rahmen einer Studie einen Ansatz auf Basis künstlicher Intelligenz entwickelt, mit dem die Klemmkraft geschätzt wird - physische Sensoren werden somit nicht benötigt.

Da Bremsen zu den wichtigsten Sicherheitssystemen von Fahrzeugen zählen, werden sie besonders sorgfältig konzipiert und gefertigt. Die Funktion ist dennoch sehr einfach: Während der Fahrt betätigt die fahrende Person das Bremspedal. Die entstehenden Kräfte werden auf die Bremsbeläge übertragen; entsprechend werden die Bremsbeläge gegen die Bremsscheibe oder den Rotor gepresst. Durch die Reibung und Klemmkraft ergibt sich ein Bremsmoment, das das Fahrzeug abbremst. Die Reibung erhöht die Temperatur der Scheiben und Beläge, was sich unmittelbar auf den Reibwert der Bremse und somit auf die erforderliche Klemmkraft auswirkt. Diese Korrelation zwischen Klemmkraft und Temperatur der Bremsscheibe und -beläge ist hinlänglich bekannt - es wurden bereits mehrere physikalische Methoden entwickelt, um die Klemmkraft anhand des Bremspedaldrucks (und des Bremsens) zu schätzen. Daher sollte eine effektive Methode auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) die Temperatur der Bremsscheibe und -beläge unbedingt berücksichtigen. Hitachi Astemo hat daher zunächst ein KI-basiertes Modell zur Temperaturschätzung entwickelt, das verschiedene KI-Modelle integriert. Auf diesem Hybridmodell aufbauend wurde eine sensorlose Methode zur Schätzung der Klemmkraft erarbeitet.

Temperaturschätzung

Eine wichtige Eigenschaft des durch maschinelles Lernen (ML) trainierten Hybridmodells zur Temperaturschätzung ist seine Fähigkeit, sich schneller als andere Modelle von fehlerhaften Schätzungen der Temperaturen "zu erholen", indem diese nicht akkumuliert und weitergetragen werden. Bild 1 zeigt das Ergebnis eines herkömmlichen thermischen Modells zur Bremstemperaturschätzung (Brake Thermal Model, BTM), bei dem sich ein Fehler, der sehr früh während der Fahrt entstand (etwa beim 2500sten Ereignis), auf die Schätzung während der gesamten weiteren Fahrt auswirkt. BTM-Test steht für ein spezielles Bremsverfahren, zum Beispiel die Beschleunigung bis zu einer bestimmten Geschwindigkeit und das kontinuierliche Abbremsen bis zum Stillstand. Die Ground Truth als Referenz setzt sich aus Messdaten der am Rotor angebrachten Temperatursensoren zusammen. Das herkömmliche physikalische Modell erholt sich bei dem gleichen Bremsverfahren von einer fehlerhaften Schätzung nicht mehr. Im Vergleich hierzu bereinigt das ML-Hybridmodell eine zur Ground Truth fehlerhafte Temperaturschätzung (circa beim 10.000sten Ereignis) bereits wenige Messungen später (circa um das 12.500ste Ereignis). Es trägt den Fehler dadurch nicht weiter fort.

Bild 1
figure 1

BTM-Test mit Schätzung der Rotortemperatur auf Basis von KI-Modellen im Vergleich zu einem konventionellen phyikalisch-thermischen Modell und zur Ground Truth (© Hitachi Astemo)

Bild 2 zeigt Temperaturabschätzungen für verschiedene Fahr- und Bremsmuster. Um die KI-basierte Schätzung validieren zu können, wurden weitere Testmethoden herangezogen. Zusätzlich zum BTM-Test, Bild 2 (a), wird mit dem Gross-Vehicle-Mass(GVM)-Test, Bild 2 (b), die Bruttomasse des Fahrzeugs berücksichtigt und darüber hinaus mit dem Light-Loaded-Vehicle-Mass(LLVM)-Test, Bild 2 (c), das Gewicht der fahrenden Person, des vollen Tanks und der Messausrüstung. Alle in Bild 1 und Bild 2 dargestellten Tests wurden bei einer normalen Fahrt und mit Messungen in einem zeitlichen Abstand von 0,055 s durchgeführt.

Bild 2
figure 2

KI-basierte Schätzung der Rotortemperatur für einen BTM-Test (a), einen GVM-Test (b) und einen LLVM-Test (c) im Vergleich zur jeweiligen Ground Truth (© Hitachi Astemo)

Die Ergebnisse zeigen, dass das ML-Hybridmodell zur Temperaturschätzung (hier kombiniert aus zwei oder mehreren KI-Modellen) in der Lage war, den Temperaturtrend selbst bei einem sehr steilen Abfall an der Bremsscheibe zu verstehen und abzubilden. Die Annäherung an die Messergebnisse der Ground Truth verdeutlicht, wie detailliert und exakt das entwickelte Modell Temperaturänderungen selbst bei sehr kleinen und schnellen Änderungen abschätzen kann. Zum Beispiel zeigt Bild 2 (c) eine fehlerhafte Messung bei Ereignis 3000, den das KI-Modell aber bis zum Ereignis 4000 wieder ausgeglichen hat. Mit einer Abweichung von nur ± 20 °C nimmt das Modell die Schätzung präzise und robust vor.

Konventionelle Klemmkraftschätzung

Die vorangehenden Ergebnisse der Temperaturschätzung sind in ihrer Genauigkeit vielversprechend für zukünftige Methoden der Klemmkraftermittlung auf Basis von KI. Die tatsächlich benötigte Klemmkraft, um ein Fahrzeug zu bremsen oder am Wegrollen zu hindern, entscheidet darüber, was ein elektromechanisches Bremssystem (EMB) aufbringen muss - insbesondere bei autonom fahrenden Fahrzeugen ohne menschliche Korrekturen. Die Klemmkraft muss in einem EMB-System in Echtzeit präzise geschätzt werden, damit das Fahrzeug den gewünschten Bremsvorgang präzise umsetzt. Die Installation physischer Sensoren ist jedoch in der Massenproduktion teuer und wirkt sich negativ auf den ökologischen Fußabdruck aus. Daher werden seit einigen Jahren physikalische Modelle zur Schätzung der Klemmkraft in EMB entwickelt und eingesetzt. Die Mehrheit dieser physikalischen Modelle ignoriert jedoch, dass Verschleiß und Temperatur der Bremskomponenten die Klemmkraft beeinflussen. Die meisten Anwendungen, die diese Effekte berücksichtigen, verwenden thermische Modelle, um die Temperatur der Bremskomponenten für eine genaue Klemmkraftabschätzung zu bestimmen. Da das Phänomen der Erwärmung und Abkühlung der Bremsscheibe und des Bremsbelags und der Abnutzung der Bremsteile im Laufe der Zeit eine große Komplexität annimmt, erreichen diese physikalischen Modelle jedoch keine zufriedenstellende Genauigkeit. Diese konventionellen Modelle neigen wie beim BTM dazu, Fehler über die gesamte Messdauer weiterzutragen, was sich zu signifikanten Fehlern aufsummieren kann.

KI-basierte Entwicklungsansätze

Die Ergebnisse der konventionellen Klemmkraftschätzung beruhen auch auf Messungen mit physikalischen Sensoren durch ein auf dem Bremssattel oder an anderer Stelle angebrachtes Messgerät. Die Schätzung erfolgt mithilfe eines Kennfelds. Sie ist jedoch vereinzelt falsch, da die Kennfelder bei verschiedenen Temperaturen variieren. Die Erstellung von Kennfeldern für alle möglichen Temperaturen ist eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche Aufgabe. Bild 3 (a) und Bild 3 (b) veranschaulichen die Regelung auf Basis eines gemappten Kennfelds, aber auch Variationen von möglichen Kennfeldern, Bild 3 (c). Demgegenüber stellt Bild 4 ein Diagramm der von Hitachi Astemo entwickelten Regelung dar: Aus der eingangs beschriebenen KI-basierten Temperaturschätzung für Bremsscheiben und -beläge werden Parameter zur KI-basierten Schätzung der Klemmkraft extrahiert. Auf diese Weise berücksichtigt das Modell die Temperatur der Bremsscheiben und -beläge inhärent. Da der Verschleiß der Bremsbeläge die Klemmkraft auch beeinflusst, hat Hitachi Astemo einen KI- basierten Ansatz entwickelt, mit dem dieser Effekt ebenfalls präzise geschätzt wird. Der Ansatz wird allerdings nicht in diesem Beitrag vorgestellt. Alternativ kann der Verschleiß der Bremsbeläge auch mit einem sogenannten Touchpoint-Ansatz bestimmt werden.

Bild 3
figure 3

Regelkreisdarstellung mit konventioneller Klemmkraftschätzung (a); schematische Darstellung eines gemappten Kennfelds (b) und skizzierte mögliche Kennfelder dank unterschiedlicher Temperaturverläufe (c) (© Hitachi Astemo)

Bild 4
figure 4

Diagramm der von Hitachi Astemo konzipierten Regelung (© Hitachi Astemo)

Datenbasierter Ansatz mit KI und ML

Bild 5 zeigt das in dieser Studie eingesetzte Ablaufdiagramm zur Verwendung von KI und ML. Die einfließenden Daten beinhalten extrahierte Messungen eines Prüfstands mit Testdynamometer, der mehrere reale Szenarien simuliert, und dem standardisierten Reibwerttest "AK-Master" [1]. Dieser Standard-Reibwerttest dient zur Erfassung verschiedener Bremsszenarien auf Prüfständen, denen Bremssysteme unter realen Fahrbedingungen und Belastungen ausgesetzt sind. Zusätzlich wurden die Daten von zwei Testfahrten im Abstand von drei Monaten mit einem Peugeot P84 PHEV verwendet, mit denen strukturierte numerische Daten generiert wurden. Diese Daten wurden segmentiert, bereinigt und in eine tabellarische Form umgewandelt, um sie für ML nutzen zu können. Zu den Originaldaten des Prüfstands und der Testfahrten zählen die Parameter der Bremsscheibe und des Bremsbelags, die Temperatur der Umgebung und der Bremsscheibenkühlung, die Bremsbetätigung, der Weg des Bremspedals, die zurückgelegte Strecke, die verstrichene Zeit, die Fahrzeuggeschwindigkeit und seine Geschwindigkeit beim Abbremsen.

Bild 5
figure 5

Ablaufdiagramm zur Implementierung von Klemmkraftschätzungen mithilfe von KI und ML (© Hitachi Astemo)

Mit einem sogenannten Feature Engineering können aus den vorhandenen neue zusätzliche Merkmale auf Basis von Physik, Logik und Expertenwissen abgeleitet werden. Mit diesen kann das ML-Modell versteckte Muster erkennen.

Die KI- oder ML-Modelle mit Dutzenden oder Hunderten dieser Merkmale zu "füttern", führt jedoch nicht zwangsläufig zu einem besseren Ergebnis. Effektiver ist es, für die KI reelle Parameter einzulesen, die konkret auf das Messziel hinweisen. In dieser Studie wurden daher nur Merkmale mit einer bestimmten Relevanz verwendet, um das ML-Modell in die Lage zu versetzen, die Zielgröße abzuschätzen. Dazu wurden mehrere ML-Modelle angelernt, getestet und zu einem Hybridmodell zur Klemmkraftschätzung kombiniert. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass sich die zusammengesetzten ML-Modelle gegenseitig unterstützen und die Fehler oder Schwächen der anderen Modelle ausgleichen. Die trainierten ML-Modelle wurden validiert und für weitere Untersuchungen verwendet.

Ergebnisse der Klemmkraftschätzung

Nachdem das ML-Hybridmodell zur Klemmkraftschätzung mit den beschriebenen Daten angelernt wurde, konnte es einige Monate später getestet werden. Für die Tests wurden mehrere Algorithmen verwendet, darunter LassoCV und eine Ensemblemethode für Lasso [2] sowie XGBoost [3] und Lightgbm. Ziel war es, die Klemmkraft innerhalb einer Toleranz von ± 500 N schätzen zu können. Bild 6 (a) und Bild 6 (b) zeigen die Klemmkraft für ein wechselhaftes Bremsszenario mit bis zu 30.000 N erforderlicher Klemmkraft, bei dem sich eine zur Ground Truth im Vergleich zum physikalischen Modell deutlichere Übereinstimmung zeigt. In den Diagrammen Bild 6 (c-k) finden sich drei Szenarien, die das ML-Hybridmodell zur Klemmkraftschätzung in den Bereichen von 5000 bis 30.000 N mit den jeweils angewendeten Algorithmen darstellen. Insgesamt zeigen die prozentualen Angaben der Übereinstimmung vom ML-Hybridmodell zur Ground Truth in allen Bremsszenarien, dass das Ziel erreicht wurde.

Bild 6
figure 6

Vergleiche der mit den unterschiedlichen Algorithmen getesteten Ergebnisse aus dem trainierten ML-Hybridmodell zur Ground Truth und zum physikalischen Modell (© Hitachi Astemo)

Fazit

Bei elektromechanischen Bremsen ist die zum Anhalten oder Abbremsen eines Fahrzeugs erforderliche Bremskraft eine Übersetzung des Verzögerungswunschs der fahrenden Person in elektrischen Strom, den der Motor einer EMB zum "Festklemmen" der Bremsscheibe nutzt. Insbesondere braucht ein autonom fahrendes Fahrzeug in seinem Regelkreis realitätsnahe Daten, um den menschlichen Handlungsspielraum zuverlässig zu ersetzen. Die Bremskraft kann nicht nur mithilfe eines physikalischen Ansatzes oder einer Nachschlagetabelle bestimmt werden, da komplexe Effekte während des Bremsvorgangs ablaufen. Hierzu trägt hauptsächlich das Phänomen der Erwärmung und Abkühlung der Bremsscheibe und des Bremsbelags während der Fahrt bei. Bei gleichem Pedalweg der fahrenden Person oder gleicher Bremsanforderung variiert beispielsweise die zum Anhalten eines Fahrzeugs erforderliche Klemmkraft aufgrund der unterschiedlichen Temperaturen des Bremssystems. Die Ausstattung aller Räder mit Sensoren in der Massenproduktion ist kostspielig in der Umsetzung sehr komplex. Daher wurde eine neue Methode zur genauen Schätzung der Temperatur der Bremsbeläge und -scheiben mithilfe von KI entwickelt. Diese wird wiederum eingespeist in eine KI-Methode, die in Kombination mit anderen Fahrzeugdaten die zum Anhalten oder Verlangsamen eines Fahrzeugs erforderliche Bremskraft genau schätzt. Diese Lösung wurde anhand von Daten aus realen Verkehrsszenarien entwickelt, getestet und validiert und übertrifft aktuelle physikalische Ansätze in ihrer Präzision und Immunität gegenüber Fehlmessungen. Zudem ist der Entwicklungsaufwand für elektromechanische Bremssysteme im Vergleich zum Einsatz von traditionellen Simulationen oder physikalischen Ansätzen geringer.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Degenstein T.: Kraftmessung in Scheibenbremsen. Darmstadt, Technische Universität, Dissertation, 2007

  2. [2]

    Pedegrosa, F. et al.: Scikit-learn: Machine Learning in Python. In: Journal of Machine Learning Research 12 (2011), S. 2825-2830

  3. [3]

    Xgboost developers: XGBoost Documentation. Online: https://xgboost.readthedocs.io/en/stable/, aufgerufen: 13. Januar 2022