Bremsenquietschen kann bei Kraftfahrzeugen, Fahrrädern oder Zügen auftreten. Als Merkmal außerhalb des menschlichen Komforthörbereichs müssen solche Geräusche bei der Weiterentwicklung dieser Mobilitätssysteme berücksichtigt werden. Das IPEK - Institut für Produktentwicklung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Tecosim erarbeiten gemeinsam ein Modell zur numerischen Analyse und Bewertung von reibinduzierten Schwingungen in Entwicklungsprozessen.

Da quietschende Bremsen außerhalb des menschlichen Komforthörbereichs liegen, werden sie als Qualitätsmangel wahrgenommen. Zur Vermeidung störender Geräusche werden bei der Entwicklung neuer Produktgenerationen die aktuellen Systeme analysiert. Die steigende Komplexität neuer Systeme aufgrund der zunehmenden Zahl an Einflussgrößen erfordert angepasste Entwicklungsmethoden, die nicht nur auf physischen Methoden basieren, sondern auch die Vorteile numerischer virtueller Simulationsmethoden berücksichtigen. Bei tribologischen Systemen spielen Einflussgrößen von verschiedenen Skalen, wie etwa die Oberflächenrauheit auf der Mikroebene oder die Bauteilgeometrie auf der Makroebene, eine Rolle und sollten im Entwicklungsprozess mitberücksichtigt werden. Daher ist das Ziel der entwickelten Simulationsmethode, den Einfluss der Oberflächenrauheit auf das Reibungszahlverhalten zu analysieren:

  • Auf Mikroebene werden die Reibungszahlen in einem Scheibe-Belag-Kontakt bei unterschiedlichen Belastungsbedingungen ermittelt.

  • Diese belastungsabhängigen Werte werden in ein Mehrkörpersimulationsmodell (MKS-Modell) integriert.

  • Deren Einflüsse werden durch Skalierung auf die Makroebene übertragen, wodurch die Auswirkungen der Reibungskräfte bewertet werden können.

Gekoppelte Simulationsmethode

Bei der Entwicklung von Bremssystemen werden nach wie vor Prüfstandsuntersuchungen zur Analyse von Bremsenquietschen durchgeführt. In einer physischen Untersuchung zeigen Bergman et al. [1], dass die Reibungszahl in einem Scheibenbremssystem mit der Anzahl an Bremsungen ansteigt. Die Modellierung von Scheibenbremssystemen erfolgt mithilfe analytischer und numerischer Modelle. Analytische Modelle berücksichtigen dabei in der Regel weniger Freiheitsgrade und werden auch als Minimalmodelle bezeichnet. Von Wagner trägt in [2] mehrere Minimalmodelle zusammen und zeigt, wie ein Grundverständnis der Anregungsmechanismen in Scheibenbremssystemen erlangt werden kann. Diese Modelle eignen sich für die physikalische Abbildung reibinduzierter Schwingungen. Sie sind aber aufgrund des hohen Aufwands zur Anpassung an das jeweilige zu entwickelnde System für industrielle Anwendungen nur beschränkt einsetzbar. Aus diesem Grund werden Simulationsmethoden benötigt, die mithilfe kommerziell verfügbarer Software in der Lage sind, unterschiedliche Skalen abzubilden und zu verbinden.

Im Projekt wird ein Ansatz verfolgt, der die Finite-Elemente(FE)-Methode und die MKS koppelt, um Einflussgrößen von unterschiedlichen Skalen zu berücksichtigen. Das Ziel dieser gekoppelten Simulationsmethode ist eine präzisere Abbildung der Scheibe-Belag-Kontakte. Durch die Kopplung von FE-Berechnungen mit MKS können niederskalige Einflussgrößen wie die Oberflächenrauheiten und höherskalige wie die Geometrie der Bauteile abgebildet werden. Damit steht eine Simulationsmethode zur Verfügung, die es erlaubt, eine Aussage zur Schwingungsanfälligkeit eines Systems zu treffen. So kann in frühen Phasen einer Entwicklung der Einfluss von Reibungseigenschaften und von Bauteilgeometrien auf das Schwingverhalten bewertet werden.

Die gekoppelte Simulationsmethode ist in Bild 1 mithilfe des Kopplungsansatzes nach Albers et al. [3] dargestellt. Mit "Umwelt" wird die Entwicklungsumgebung beschrieben. Die zuständige Person in der Produktentwicklung ist innerhalb der "Umwelt" mit Zugriff auf das virtuelle System platziert. Die Schnittstellen zwischen der Entwicklungsumgebung und dem virtuellen System stellen die Connectoren "Topographie" und "Materialdaten" dar. Auf der linken Seite startet die Simulationsmethode mit dem Einlesen der Oberflächen von Bremsscheibe und -belag. In "FEM - Struktur, Abaqus, Reibungsmodell" wird der Reibungszahlverlauf berechnet, der sich bei vorgegebener Pressung sowie Geschwindigkeit zwischen den Oberflächen einstellt. Das Ergebnis sind Reibungszahlverläufe auf der Mikroebene, die in einem MKS-Modell implementiert werden. In diesem wird die Bremsscheibe pseudodiskretisiert, um die beidseitigen Kontaktflächen in Einzelbereiche mit unterschiedlichen Eigenschaften zu unterteilen, Bild 2 (links). Die im MKS-Modell ermittelten Schwingungen werden in einer anschließenden dynamischen FE-Analyse genutzt, um die Systemantwort des Bremssystems, wie in der gekoppelten Simulationsmethode in Bild 1 dargestellt, zu bestimmen.

Bild 1
figure 1

Gekoppelte Simulationsmethode mit dem Übertrag der Daten von der Umwelt ins virtuelle System und den verwendeten Berechnungswerkzeugen FEM und MKS (© IPEK)

Bild 2
figure 2

Pseudodiskretisierung des Belags (links) und beispielhafte schematische Reibungszahlverläufe (rechts) (© IPEK)

Nach Abschluss der Berechnungen erfolgt die Validierung der Simulationsergebnisse anhand von Messungen auf einem Prüfstand. Dabei werden die real auftretenden Schwingungen des Bremssystems mit einem Laservibrometer gemessen und mit den berechneten Daten der Simulation verglichen.

Eingangsdaten

Die Eingangsdaten für das FE-Modell sind die Oberflächen der Kontaktpartner und deren Materialverhalten. Die Oberflächen von Bremsscheibe und -belag werden mit einem Weißlichtinterferometer eingelesen. Dabei wird nicht die vollständige Oberfläche gescannt, sondern lediglich ein repräsentativer Ausschnitt. Das Material der Bremsscheibe ist Gusseisen, das mit einem ideal-elastisch-plastischen Materialmodell abgebildet wird. Der Bremsbelag ist aus einer Vielzahl unterschiedlicher Materialien zusammengesetzt. Die Materialdaten des Bremsbelags stehen in diesem Projekt nicht im Fokus, weshalb Daten aus einem verknüpften internen Projekt genutzt wurden.

FE-Reibungsmodell

Bild 3 zeigt das FE-Reibungsmodell, bestehend aus den Oberflächen von Scheibe und Belag zur Bestimmung der Reibungszahlen. Während der Simulation gleitet der obere Körper der Bremsscheibe mit einer Geschwindigkeit v und einer Pressung p über den unteren Körper des Bremsbelags. Indem der obere Körper zyklisch zurückgesetzt wird, können beliebig lange Überfahrungen simuliert werden.

Bild 3
figure 3

FE-Reibungsmodell mit den realen Oberflächen von Bremsbelag und Bremsscheibe (© IPEK)

Das FE-Reibungsmodell hat zwei hervorzuhebende Merkmale. Das erste ist die Implementierung einer schubspannungsabhängigen Reibung zwischen beiden Körpern. Dadurch können die Körper erst gegeneinander abgleiten, wenn die kritische Schubspannung τmax an den einzelnen Knoten überschritten wird. Die Tangentialkräfte berechnen sich aus der über τmax definierten tangentialen Oberflächenspannung. Mit den so berechneten Kräften kann nach dem Reibgesetz von Amontons-Coulomb die Reibungszahl μmicro auf der Mikroebene bestimmt werden. Da μmicro auf der Mikroebene ermittelt wurde, bildet sie die Reibungsmechanismen auf ebendieser ab. Die makroskopische Reibungszahl beispielsweise des gesamten Bremskontakts berechnet sich dann nach der Skalierung auf die Makroebene in der MKS.

Das zweite Merkmal des FE-Modells ist die Berücksichtigung von Verschleiß. An den sich kontaktierenden FE-Knoten wird mit dem Ansatz nach Archard [4] mit einem Verschleißkoeffizienten, mit der Anpresskraft und dem Gleitweg eine Verschleißdistanz für jeden Knoten berechnet, um die der entsprechende Knoten geometrisch verschoben wird. Dies führt zu dauerhaften Veränderungen in der Oberfläche und damit zur Abbildbarkeit des Einflusses längerer Verschleißstrecken, die nicht ausschließlich auf plastischer Verformung basieren.

Reibungszahlkennfelder

Mit dem FE-Reibungsmodell werden Reibungszahlkennfelder in Abhängigkeit unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Anpressdrücke auf der Mikroebene bestimmt. Mithilfe dieses Modells wurde der Kontakt zwischen Bremsbelag und -scheibe berechnet und die Reibungszahlverläufe bei unterschiedlichen Pressungen und Geschwindigkeiten ermittelt.

In Bild 4 (a) ist die relative reale Kontaktfläche, die den Anteil der Oberfläche in Kontakt mit der Gegenfläche beschreibt, über der überfahrenen Distanz abgebildet. Sowohl mit steigender Distanz als auch mit steigendem Druck vergrößert sich die reale Kontaktfläche. In Bild 4 (b) ist die Verschleißtiefe über der überfahrenen Distanz abgebildet. Die Verschleißtiefe beschreibt die Annäherung der Profilmittellinien beider Körper. Die drei Kurven zeigen, dass der Kontaktdruck einen geringen Einfluss auf die Verschleißtiefenentwicklung hat, da alle drei Kurven dicht beieinanderliegen. In Bild 4 (c) ist der Verlauf der Reibungszahlen dargestellt. Die Reibungszahl berechnet sich als Quotient aus den Summen von Normal- und Tangentialkräften an den FE-Knoten. Gut sichtbar ist die Abhängigkeit der Reibungszahl vom Kontaktdruck. Die kontinuierlich ansteigende Reibungszahl korreliert mit der Kontaktfläche als Folge der schubspannungsabhängigen Reibbedingung. Die Reibungszahlen sind auf der Mikroebene berechnet und können daher nicht ohne Weiteres mit regulären Literaturwerten verglichen werden. Für den Transfer auf die Makroebene ist ein weiterer Schritt notwendig, der beispielsweise eine MKS oder eine Häufigkeitsverteilung umfasst. Das Diagramm in Bild 4 (d) ist aus den Berechnungen abgeleitet und zeigt die Interpolation der Reibungszahlen für unterschiedliche Drücke und Distanzen.

Bild 4
figure 4

Ergebnisse aus dem FE-Reibungsmodell (a-c); interpolierte Reibungszahlen auf der Mikroebene für die MKS (d) (© IPEK)

Die berechneten Reibungszahlkennfelder werden in ein MKS-Modell implementiert. Das Modell bildet das System aus Scheibe, Belag und Bremssattel auf der Makroebene ab. Entsteht beispielsweise am unteren Rand des Belags durch eine geringere Geschwindigkeit eine geringere Reibkraft als am oberen Rand, entsteht zwischen diesen Punkten im Material eine Spannung. Baut diese Spannung sich schnell auf oder ab, kann dies Schwingungen in der Scheibe auslösen.

Zur Validierung der Simulationsergebnisse wurden auch Untersuchungen auf einem Prüfstand am IPEK durchgeführt. Die Versuche umfassten die Messung der Schwingungen der Versuchsbremsscheibe im Bremssystem mit einem Laservibrometer.

Fazit

Mithilfe des FE-Reibungsmodells kann der Einfluss der Oberflächenrauheit, der Anpresskraft und der Geschwindigkeit auf das Reibungs- und Verschleißverhalten eines tribologischen Systems analysiert werden. Im vorgestellten Projekt wurde der Ansatz für die Nachbildung eines ungeschmierten Systems genutzt, um das Schwingverhalten des Bremssystems bewerten zu können. Die Parameter sind die reale Topographie, die Belastung, die Materialien, die Geschwindigkeit und die überfahrene Distanz. Hervorzuheben ist dabei die reale Topographie, die in der Simulation "verschlissen" wird. Somit sind auch Auswertungen des Modells hinsichtlich der Rauheitswerte nach den gängigen Normen möglich. Dadurch besitzt das Vorgehen großes Potenzial für den Einsatz computergestützter Berechnungsmethoden bei der Analyse tribologischer Systeme und dem Vergleich mit physischen Untersuchungen. In bisherigen Entwicklungsprozessen werden tribologische Untersuchungen oftmals mithilfe von physischen Versuchen durchgeführt. Die Anwendung des FE-Reibungsmodells ermöglicht es bereits in frühen Phasen der

Produktentwicklung, unterschiedliche Konzepte zu bewerten. Dabei können beispielsweise unterschiedliche Lastbereiche oder Materialien virtuell untersucht werden.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Bergman, F.; Eriksson, M.; Jacobson, S.: Influence of disc topography on generation of brake squeal. In: Wear, An International Journal on the Science and Technology of Friction, Lubrication and Wear (1999), Band 225-229, Teil 1, S. 621-628

  2. [2]

    von Wagner, U.; Hochlenert, D.; Hagedorn, P.: Minimal models for disk brake squeal. In: Journal of Sound and Vibration 302 (2007) Nr. 3, S. 527-539

  3. [3]

    Albers, A.; Reichert, S.; Serf, M.; Thorén, S.; Bursac, N.: Kopplung von CAE-Methoden zur Unterstützung des Produktentwicklers. In: Konstruktion 69 (2017), S. 76-82

  4. [4]

    Archard, J.F.; Hirst, W. The Wear of Metals under Unlubricated Conditions. In: The Royal Society 236 (1956), Nr. 1206, S. 397-410