Nicht optimal arbeitende Bremskolben, -beläge und -scheiben können zu einer schlechteren CO2-Bilanz des Fahrzeugs führen und das Geräuschverhalten negativ beeinflussen. Anaxam, Audi Sport und das Paul Scherrer Institut haben ein Prüfverfahren entwickelt, bei dem mittels Neutronenbildgebung die Mikrobewegung einzelner Bremskomponenten zur Optimierung des Restbremsmoments sichtbar gemacht werden kann.

Nach einem Bremsmanöver mit einer Pkw-Scheibenbremsanlage entsteht in der Regel ein Restbremsmoment nach Lösen der Bremse, auch Offbrake-Phase genannt. Grund hierfür ist eine ungünstige Konstellation von nicht vollumfänglich zurückgestellten Bremskolben und Bremsbelägen in die Ausgangsposition sowie dem dynamischen Runout der Bremsscheibe (Lüftspiel). Bei Mehrkolbenbremssätteln kommt erschwerend hinzu, dass sich die Bremskolben meist nicht synchron verhalten. Aus dem Restbremsmoment resultiert ein Fahrwiderstand durch Reibverluste, der mit in die Gesamt-CO2-Emissionsbilanz des Fahrzeugs eingeht. Auch das Geräuschverhalten (Noise, Vibration, Harshness, NVH) kann durch das Restbremsmoment negativ beeinflusst werden. Um das Lüftspiel bestimmen und optimieren zu können, müssen auch kleine Bewegungen im Bremskolben sichtbar gemacht werden.

Neutronenbildgebung

Bauraumbedingt kann ein taktiles Messverfahren nicht genutzt werden, weshalb die zerstörungsfreie Prüfmethode der Neutronenbildgebung [1, 2, 3] eingesetzt wurde. Sie funktioniert ähnlich wie die Bildgebung mit Röntgenstrahlung und folgt dem Prinzip der Transmissionsmessung: Ein Objekt wird einer definierten Strahlung ausgesetzt. Mit einem Detektor hinter dem Objekt wird bestimmt, zu welchem Anteil das Material die Strahlung abgeschwächt hat. Der Grad der Abschwächung hängt von der elementaren Zusammensetzung der Materialien ab. Im Gegensatz zu Röntgenstrahlung können Neutronen auch Elemente mit hoher Dichte wie Metalle leicht durchdringen, weisen aber eine hohe Sensitivität für leichte Elemente wie beispielsweise Wasserstoff auf [4]. Die Aluminiumlegierung, aus der der Bremssattel im Wesentlichen besteht, ist für Neutronen nahezu transparent, während die wasserstoffhaltige Bremsflüssigkeit den Neutronenstrahl schon bei geringen Schichtdicken stark abschwächt. Die hohen Abschwächungsunterschiede zwischen dem Aluminium und der Bremsflüssigkeit ermöglichen daher, Mikrobewegungen der Bremskolben zu visualisieren und in der Folge das Lüftspiel zu bestimmen. Die Untersuchungen wurden am Paul Scherrer Institut (PSI) an der Neutra-Strahllinie durchgeführt [5], einem Bildgebungsinstrument mit einem thermischen Neutronenspektrum, das von der Spallationsneutronenquelle SINQ gespeist wird [6].

Generell wird bei der Neutronenbildgebung zwischen zwei Verfahren unterschieden: Die Neutronenradiografie ermöglicht zweidimensionale Untersuchungen, die Neutronentomografie dreidimensionale. Für die qualitative und auch quantitative Ermittlung der Kolbenbewegungen wird die zweidimensionale Neutronenradiografiemethode eingesetzt. Mittels der sogenannten Referenzierung, einer speziellen Auswertmethode, ist es im Nachgang möglich, die Mikrobewegungen zu bestimmen.

Maßgeschneiderter Bremsenprüfstand

Um die im Fahrbetrieb vorherrschenden Bedingungen für die Messungen so realitätsnah wie möglich nachzubilden, wurde ein Prüfstand angefertigt. Ziel war es, mit dessen Hilfe die Parameter Bremsdruck p (0 bis 100 bar) und Bremssatteltemperatur T (20 bis 90 °C) zu variieren, um den Bremsvorgang so genau wie möglich zu imitieren.

Zur Erzeugung der Bremsdrücke wurde eine Hydraulikeinheit mit Drucktank, Bypassventil, Proportionalventil und zugehöriger Steuereinheit entwickelt, Bild 1 (links). Der Drucktank stabilisiert die Hydraulikdrücke im System. Das Bypassventil dient zur schnellen Drucklosstellung der Bremsanlage. Durch das Proportionalventil können die Bremsdrücke präzise eingeregelt werden. Die Regelungs- und Steuereinheit steht außerhalb der Strahlline. Sie steuert die Hydraulikeinheit und ermöglicht die Programmierung der gewünschten Druckverläufe.

Bild 1
figure 1

CAD-Modell des Bremsenprüfstands integriert an der Strahlline des PSI als Seitenansicht (links), Foto vom Prüfstand an der Strahlline in Strahlrichtung (rechts) (© Anaxam)

Die Bremssatteltemperatur wird mittels Heizlüfter eingestellt. Hierfür wurde eine Isolationsbox um die Bremskomponenten gebaut, Bild 1 (rechts). Um die Bremssatteltemperatur genau zu regeln, wurde ein Entlüftungsventil des Bremssattels durch einen Temperatursensor ersetzt. So ist es möglich, die Leistung des Heizlüfters auf Basis der Bremsflüssigkeitstemperatur und damit die Bremssatteltemperatur zu regeln.

Neutronenradiografie und Bestimmung der Kolbenbewegung

Bild 2 a) zeigt ein Foto des Sechskolbenbremssattels, der bei den Experimenten verwendet wurde. Bild 2 b) zeigt eine Übersichtsneutronenradiografie des Bremssattels. Die geometrische Auflösung liegt maximal bei 30 μm. Das Bild entstand im drucklosen Zustand bei einer Bremssatteltemperatur von 20 °C. Der Bremssattel, der aus einer Aluminiumlegierung besteht, stellt sich sehr transparent dar. Bild 2 c) zeigt einen einzelnen Kolben im Detail. Alle wasserstoffhaltigen Materialien, wie der Kolbendichtring und die Bremsflüssigkeit, sind deutlich zu erkennen. Der Bremskolben selbst, der auch aus einer Aluminiumlegierung besteht, hebt sich im Bild ebenfalls leicht vom Bremssattel ab.

Bild 2
figure 2

Bremssattel im Messsetup (a), Neutronenradiographie des Bremssattels bei p = 0 bar und T = 20 °C (b), hochauflösende Neutronenradiographie eines einzelnen Kolbens (c) (© Anaxam)

Für die quantitative Auswertung der Kolbenbewegung wird auf das Verfahren der Referenzierung zurückgegriffen [4]. Für das folgende Beispiel wird eine Bremssattelseite mit drei Kolben betrachtet. Es wird eine Neutronenradiografieaufnahme bei konstanter Temperatur mit Druckbeaufschlagung, Bild 3 (a), sowie eine Aufnahme bei drucklosem Zustand, Bild 3 (b) gemacht. Durch die Division der druckbeaufschlagten durch die drucklose Aufnahme wird ein Bild generiert, das nur noch die Nettoveränderungen darstellt, Bild 3 (c). Im vorliegenden Fall bewegen sich die Bremskolben bei Druckbeaufschlagung nach links, und das Bremsflüssigkeitsvolumen hinter dem Kolben vergrößert sich entsprechend. In der Auswertung wird das unveränderte Material des Kolbens und der Bremsflüssigkeit aus dem Bild "herausgekürzt", und es verbleibt ausschließlich das Signal der Bremsflüssigkeitszunahme. Daraus lässt sich auf die Kolbenbewegung schließen. Diese kann somit quantifiziert werden.

Bild 3
figure 3

Neutronenradiographie bei p = 100 bar und T = 20 °C (a), Neutronenradiographie bei p = 0 bar und T = 20 °C (b), referenzierte Neutronenradiographieaufnahme, die durch Division der Aufnahme von 100 bar : 0 bar entsteht und die Kolbenbewegung visualisiert (c), quantitative Auswertung der jeweiligen Kolbenbewegung (d) (© Anaxam)

Anhand der referenzierten Aufnahme, Bild 3 (c) lässt sich dann über die Auswertung mit horizontalem Boxprofil und die Bestimmung der Halbwertsbreite der jeweilige Kolbenweg vermessen, Bild 3 (d).

Vergleichsmessung zweier Baustände

Um ein gesamtheitliches Verständnis zu bekommen, wurden im ersten Schritt Messreihen bei verschiedenen Bremsdrücken und Bremssatteltemperaturen durchgeführt. So konnte die Reproduzierbarkeit der Messmethode bewertet und der Einfluss beider Parameter auf das Lüftspiel untersucht werden. Es zeigte sich, dass die Reproduzierbarkeit gegeben ist. Die ermittelten Kolbenbewegungen sind ausreichend genau und entsprachen den erwarteten Werten. Zu erkennen war, dass mit zunehmendem Bremsdruck das Lüftspiel zwischen Bremssattelinnen- und -außenseite divergiert. Ursache ist die bauartbedingte "Sattelaufweitung" bei Druckbeaufschlagung. Die Mikrobewegungen der Bremskolben können also verlässlich auf dem Prüfstand mit ausreichender Genauigkeit erfasst werden.

Im zweiten Schritt wurden zwei verschiedene Bremssattelkonfigurationen (Baustände) untersucht und verglichen. Hierbei wurde das Lüftspiel durch eine Modifikation der Kolbendichtringe (Bremssattelinnenseite) verändert, um den Kolbenweg zu erhöhen. Die Untersuchungen wurden bei verschiedenen Bremsdrücken und Bremssatteltemperaturen durchgeführt. Die geometrischen Modifikationen am Bremssattel zeigten sich unmittelbar auch bei der Auswertung mittels Neutronenradiografie. Bild 4 stellt beispielhaft die Auswertung für p = 20 bar und T = 50 °C der beiden Baustände dar. Bild 4 (links) zeigt den Bremssattel mit reduziertem Kolbenweg (Bremssattelinnenseite) und Bild 4 (rechts) den Bremssattel mit erhöhtem Kolbenweg (Bremssattelinnenseite). Die Kolben auf der Bremssattelinnenseite bei Baustand 2 weisen einen um circa 0,1 mm erhöhten Kolbenweg auf. Die Messresultate zeigen deutlich, dass die vorgenommene Modifikation das angestrebte Ergebnis liefert.

Bild 4
figure 4

Vergleich von Baustand 1 mit reduziertem Kolbenweg auf der Bremssattelinnenseite (links) und Baustand 2 mit erhöhtem Kolbenweg auf der Bremssattelinnenseite (rechts); die Messungen wurden bei p = 20 bar (referenziert auf p = 0 bar) und T = 50 °C aufgenommen (© Anaxam)

Zusammenfassung und Ausblick

Die vorgestellte Messmethode der Neutronenradiographie) eignet sich, um Mikrobewegungen von einzelnen Bremskolben bei unterschiedlichen Bremsdrücken und Bremssatteltemperaturen zu visualisieren und quantifizieren. Die Messergebnisse belegen, dass die Bremskolben in Summe ein identisches Verhalten bezüglich Rückstellung aufweisen. Allerdinge ergeben sich Differenzen in Bezug auf die Rückstellgeschwindigkeit. Zusätzlich wurden zwei Baustände verglichen, die durch die Modifikation der Kolbendichtringe unterschiedliche Kolbenwege (Lüftspiele) haben sollten. Die Resultate der Messungen zeigten den gewünschten Optimierungseffekt.

Um den realen Bremsvorgang noch genauer nachzubilden, ist es zukünftig vorstellbar, die aktuell statisch montierte Bremsscheibe dynamisch anzutreiben. Hiermit könnte das periodische Touchieren der im Normalfall Runout-behafteten Bremsscheibe nachgebildet werden. Letzteres kann beim Rollback unterstützend sein und würde die Untersuchung noch realitätsnäher machen.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Grünzweig, C.; Mannes, D.; Kaestner, A.; Schmid, F.; Vontobel, P.; Hovind, J.; Lehmann, E.: Progress in industrial applications using modern neutron imaging techniques. In: Physics Procedia 43 (2013), S. 231-242

  2. [2]

    Grünzweig, C.; Mannes, D.; Kaestner, A.; Vogt, M.: Visualizing the soot- and ash distribution in diesel particulate filters using neutron imaging. In: MTZworldwide 4/2012, S. 326

  3. [3]

    Grünzweig, C.; Wagner, M.; Ruf, J.; Helmer, D.: Visualisation of the oil distribution in a wet-running multi-disc clutch by dynamic neutron radiography. In: ATZworldwide 4/2013, S. 224

  4. [4]

    Anaxam (Hrsg.): Periodensystem der Elemente, Wechselwirkung von Neutronen und Röntgenstrahlen mit Elementen. Online: https://www.anaxam.ch/sites/default/files/media/downloads/2020-11/periodensystem-de-anaxam.pdf, Zugriff: 13. Oktober 2022

  5. [5]

    Lehmann, E. H.; Vontobel, P.; Wiezel, L.: Properties of the radiography facility NEUTRA at SINQ and its potential for use as European reference facility. In: Nondestructive Testing and Evaluation 16 (2001), Nr. 2-6, S. 191-202

  6. [6]

    Blau, B.; Clausen, K. N.; Gvasaliya, S.; Janoschek, M.; Janssen, S.; Keller, L.; Zaharko, O.: The swiss spallation neutron source SINQ at Paul Scherrer Institut. In: Neutron News 20 (2009), Nr. 3, S. 5-8