Derzeit befindet sich die Automobilindustrie im Umbruch, getrieben durch die Dominanz von Software und Elektronik, die die Basis für die Konnektivität, das autonome Fahren und Over-the-Air-Software-Updates bilden. Diese Veränderungen führen zu explodierenden Kosten für die Entwicklung und die Validierung. IPG Automotive beschreibt, wie die traditionellen Entwicklungsmethoden und -prozesse an diese Gegebenheiten angepasst werden müssen.

Durch den Einsatz von Continuous Integration, Testing und Deployment (CI/CT/CD) im gesamten Produktlebenszyklus, die Verwendung weniger zentraler Steuergeräte und die Trennung von Soft- und Hardwareentwicklung kann die Komplexität beherrscht werden, die durch den hohen Stellenwert von Software in zukünftigen Fahrzeugen unausweichlich ist, Bild 1. Grundsätzlich müssen etablierte Methoden aus der modernen Softwareentwicklung ein fester Bestandteil der Automobilentwicklung werden. Der Einsatz virtueller Prototypen (VP) erlaubt hochautomatisierte Tests von Fahrfunktionen über Millionen von Kilometern parallel auf HPC-Systemen oder in der Cloud − so wird eine hohe Testabdeckung erzielt. Darüber hinaus muss der Fokus künftig auf der Innovation liegen, anstatt viel Zeit in die manuelle Absicherung zu investieren. Der Einsatz einer virtuellen und automatisierten Validierung kann maßgeblich zur Erreichung dieses Ziels beitragen. Durch sie gewinnen Ingenieure Zeit, um sich wieder vermehrt auf den Bereich der Innovation zu konzentrieren.

Bild 1
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Anforderungen an einen modernen Entwicklungsprozess (© IPG Automotive)

Folglich ist eine Transformation des gesamten Entwicklungsprozesses erforderlich. Dabei existieren Parallelen zum letzten großen Umbruch der virtuellen Fahrzeugentwicklung: die Einführung des Computer-Aided Design (CAD), Bild 2, das mittlerweile fest im Entwicklungsprozess verankert ist. Während allerdings bei CAD die Hardware im Fokus steht, ist beim Computer-Aided Engineering (CAE) die Software entscheidend. Die Gemeinsamkeit beider Bereiche ist die Voraussetzung, dass sämtliche Daten zentral gespeichert und von allen Benutzern wiederverwendet werden können.

Bild 2
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Entwicklungssprünge im Bereich der virtuellen Fahrzeugentwicklung (© IPG Automotive)

Im Gegensatz zu geometrischen digitalen Zwillingen im Bereich CAD handelt es sich bei diesen Daten um funktionale VP, also vollwertige digitale Zwillinge realer Fahrzeuge. Sie ermöglichen die virtuelle Abbildung jedes Szenarios aus der realen Welt sowie das Systems Engineering, also die Entwicklung und Validierung des Gesamtsystems im Gesamtfahrzeug, in realistischen Szenarien.

VP sind entscheidend, um die modernen Softwareentwicklungsmethoden im Entwicklungsprozess zu verankern. Gleichzeitig bilden sie die Basis für OTA-Updates sowie eine agile Entwicklung und Validierung zwischen den Quality Gates. Das zu testende System wird dazu in einen VP integriert und als Gesamtsystem in realistischen Szenarien getestet - durchgängig in jeder Phase des Entwicklungsprozesses. Wegen des kurzen Zeitraums zwischen den Updates ist die Validierung neuer Softwareversionen auf Basis von realen Fahrzeugen nur bedingt umsetzbar. Entsprechend ist für die Bereitstellung von OTA-Updates eine besonders hohe Agilität erforderlich.

Validierung hochautomatisierter Fahrfunktionen

Auch bei der Entwicklung hochautomatisierter Fahrfunktionen haben Fahrzeughersteller heute einen großen Leidensdruck. Eine Ursache dafür ist, dass entsprechende Fahrfunktionen - in angemessenem Umfang - aufgrund der kaum zu überblickenden Menge von Tests und Parametern unmöglich rein im realen Fahrversuch getestet und validiert werden können.

Hinzu kommt, dass komplexe Szenarien mit mehreren Verkehrsteilnehmern im realen Verkehr nicht reproduzierbar sind. Vergleichbare Testergebnisse können daher nur schwer erzielt werden. Eine weitere Herausforderung ist die Identifizierung kritischer Szenarien, der sogenannten Corner Cases. Da Corner Cases extrem selten im Straßenverkehr auftreten, stellt zufälliges Testen in der realen Welt stets nur eine Stichprobe dar. Darüber hinaus bergen reale Tests häufig eine Gefahr für Mensch und Material. Auch die Festlegung notwendiger Freigabekriterien für hochautomatisierte Fahrfunktionen ist kein einfaches Unterfangen.

Eine mögliche Lösung stellt der virtuelle Fahrversuch dar. Eine Simulationsplattform wie CarMaker von IPG Automotive ermöglicht es, automatisierte Fahrfunktionen in einer Vielzahl relevanter und kritischer Fahrsituationen zu testen und abzusichern, Bild 3. In Kombination mit der agilen Softwareentwicklung ist die virtuelle Fahrzeugentwicklung ein mächtiger Wegbereiter, um den Anforderungen hochautomatisierter Fahrfunktionen gewachsen zu sein, den Leidensdruck bei der Entwicklung zu reduzieren und innerhalb kurzer Zeit getestete OTA-Updates bereitzustellen.

Bild 3
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Autobahnszenario in der Simulationsplattform CarMaker (© IPG Automotive)

Agile Softwareentwicklung

Aktuell wird die Simulation meist in isolierten Expertenteams innerhalb ihrer spezifischen Domäne eingesetzt. Für den Übergang von der herkömmlichen, hardwarebasierten Entwicklung zur virtuellen Fahrzeugentwicklung ist jedoch eine Infrastruktur unerlässlich, die eine domänenübergreifende Nutzung einer konsistenten Flotte von VP sowie deren zentrale Verwaltung ermöglicht. Diese Infrastruktur muss einen zeit- und ortsunabhängigen Zugriff ermöglichen sowie die Datenqualität und -reife über den gesamten Lebenszyklus gewährleisten. Die Basis dafür bilden funktionale, sogenannte nicht-geometrische Daten (NGD).

NGD spielen in der Simulation eine Schlüsselrolle. Sie beschreiben die Eigenschaften einzelner Komponenten − von der Schraubenmutter bis hin zu einem Gesamtsystem wie der Aufhängung. Während CAD-Daten in der Branche weitestgehend standardisiert sind und über eine entsprechende Tiefe verfügen, sind NGD kaum bis gar nicht standardisiert und breit gefächert. Eine Ursache dafür ist die Vielzahl an Möglichkeiten, ein Bauteil auf Basis von thermischen oder mechanischen Effekten zu beschreiben. Auch werden im Gegensatz zu CAD-Daten, für die meist ein einziges Tool verwendet wird, oft viele verschiedene CAE-Tools innerhalb eines Unternehmens eingesetzt.

Für einen intuitiven Zugriff wird also ein Überblick über alle verfügbaren NGD benötigt. Die Basis dafür bildet die Kategorisierung anhand grundlegender Metadaten wie der Datenquelle, des Erstellungsdatums und der Zugehörigkeit zu einer Fahrzeugvariante. Damit alle Änderungen nachvollziehbar in den Entwicklungsprozess einfließen können, ist eine Versionierung sämtlicher Daten erforderlich. Um das Vertrauen des Anwenders in diese Daten zu gewährleisten, wird zusätzlich eine Reifegradeinstufung benötigt. Durch die Verwendung einer einzigen zentralen Datenquelle sind alle Änderungen während des gesamten Entwicklungsprozesses nachvollziehbar. Dies ermöglicht eine domänenübergreifende Zusammenarbeit von Ingenieuren, wodurch Fahrzeughersteller von kontinuierlich verbesserten VP für die Simulation profitieren können.

Der Prozess, um automatisiert den neuesten Stand der Steuergerätesoftware für alle relevanten Fahrzeugvarianten zu testen, könnte vereinfacht wie folgt aussehen: Der überarbeitete Code wird am Ende des Arbeitstags in die Versionsverwaltung eingepflegt. Ein Automatisierungsserver kompiliert daraufhin den aktualisierten Softwarestand. Anschließend werden automatisiert über Nacht zuvor definierte Tests in der Gesamtfahrzeugsimulation ausgeführt und auf einer Computing-Plattform verteilt. Am nächsten Tag können die Entwickler von den Testergebnissen und automatisch generierten Reports profitieren. Wenn die Software korrekt arbeitet, wird der Deployment-Schritt ausgeführt: Der neue Softwarestand wird OTA auf sämtliche Fahrzeuge im Feld geflasht.

Um die für diese Vorgehensweise erforderlichen kürzeren Testzyklen bereits heute einhalten zu können, bietet die Simulation die Möglichkeit der Skalierung. CarMaker kann durch die Verwendung von Hochleistungsrechenclustern - lokal oder in der Cloud - viele Tests parallel durchführen und so die Leistung maximieren. Bei der Parallelisierung auf Ebene des einzelnen Fahrversuchs wird mit vielen VP parallel getestet. Dies erlaubt eine Sammlung großer Datenmengen in kurzer Zeit. Da dieser Ansatz eine lineare Skalierung ermöglicht, eignet er sich für viele Testkilometer beziehungsweise große Testkataloge und verkürzt die Softwareentwicklungszyklen in hohem Maße.

Testmethoden

Für jede Phase im Entwicklungsprozess existieren unterschiedliche Testmethoden, die mithilfe der Simulation sowohl den Test als auch die Auswertung auf ganzheitliche Weise ermöglichen. Sie unterstützen bei der Erreichung einer optimalen Testabdeckung, Bild 4. Die erste Methode bildet Software-in-the-Loop (SiL), bei der eine große Anzahl von Tests durchgeführt wird. Da in dieser Phase keine Hardwarekomponenten mit einbezogen werden, eignet sie sich besonders für die Parallelisierung. Bei der zweiten Methode, Hardware-in-the-Loop (HiL), werden auf Basis der SiL- Testergebnisse bereits deutlich weniger Tests benötigt. Dies ist hinsichtlich der notwendigen, eingeschränkt verfügbaren Hardware vorteilhaft. Den Abschluss bildet die Vehicle-in-the-Loop(ViL)-Methode, bei der nur noch wenige ausgewählte Tests durchgeführt werden. ViL vereint die Vorteile der Simulation mit denen des realen Fahrversuchs: Ein realer Prototyp wird in die virtuelle Umgebung (inklusive Straßeninfrastruktur, Verkehr etc.) integriert und auf einem realen, freien Testgelände bewegt. Der Fahrer sieht während des Fahrversuchs sowohl die virtuelle als auch die reale Umgebung und kann gleichzeitig die Fahrdynamik des Fahrzeugs bewerten - die Simulation wird erlebbar.

Bild 4
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Einsatz verschiedener Testmethoden im Laufe des Entwicklungsprozesses (© IPG Automotive)

Die Kommunikation zwischen der Simulationsumgebung und dem Fahrzeug gestaltet sich wie folgt: Die Simulation sendet die Umgebungsinformationen an die Fahrfunktion, die wiederum ihre Informationen an das reale Fahrzeug übermittelt. Im Anschluss wird die Position des realen Fahrzeugs an die Simulationsumgebung übertragen, die die Korrelation mit dem simulierten Fahrzeug in der simulierten Umgebung herstellt. Somit wird, von Fahrzeug und Fahrer abgesehen, keine Infrastruktur und kein Personal benötigt. ViL bietet eine zuverlässige Testdurchführung auf einem sehr hohen Integrationsgrad. Vorteile sind unter anderem ein stark reduzierter Testaufwand, eine vollständige Reproduzierbarkeit, eine höhere mögliche Komplexität und gefahrlose Durchführung der Tests, eine Wiederverwendbarkeit von Testfällen sowie eine automatisierte Testauswertung.

Hochautomatisierte Fahrfunktionen können mit ViL in allen Phasen der modellbasierten Entwicklung im virtuellen Verkehr getestet werden. Mit traditionellen Testmethoden wäre dies nicht umsetzbar. Auf diese Weise ermöglicht ViL Rapid Prototyping. In frühen Entwicklungsphasen, in denen ausschließlich Modelle existieren, können ergänzend zur reinen Simulation Funktionen im realen Fahrzeug entwickelt und kalibriert werden. Am Ende des Entwicklungsprozesses schließt ViL die Lücke zwischen HiL und dem realen Fahrversuch - es sind nur noch stichprobenartige Tests unter vollständig realen Bedingungen notwendig und unnötige Iterationsschleifen im Freigabeprozess werden vermieden. Bedingt durch den höchsten Hardwareanteil bietet ViL die realistischsten Testbedingungen und erlaubt applikationsseitige Optimierungen. Der erwähnte Leidensdruck der Fahrzeughersteller und Zulieferer wird so reduziert.

Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel der NCAP-Tests (New Car Assessment Programme). Da für diese Tests regelmäßig neue Testvorgaben eingehalten werden müssen, bringen sie einen hohen, im realen Fahrzeug kaum zu bewältigenden Testaufwand mit sich. Die Koordination mehrerer realer Verkehrsteilnehmer ist bereits eine große Herausforderung, zusätzlich noch reproduzierbare Tests zu erreichen, ist in der Realität praktisch unmöglich. ViL bietet die Möglichkeit, bereits früh im Entwicklungsprozess abzuschätzen, wie die Fahrfunktionen in den zu testenden Situationen agieren und ob sie die vorgegebenen Kriterien erfüllen. Neue Sicherheitssysteme können gefahrlos entwickelt und bereits vorhandene Funktionen den neuen Regularien entsprechend weiterentwickelt werden. Da nur ein einziger Testfahrer sowie deutlich weniger Vor- und Nachbereitungszeit nötig sind und Tests sehr viel schneller durchgeführt werden können, kann die Entwicklungszeit in der Abstimmungsphase und bei der Funktionsprüfung in einem frühen Entwicklungsstadium stark verkürzt werden.

Zusammenfassung

Aktuell durchläuft die Automobilindustrie tiefgreifende Veränderungen, die Fahrzeughersteller bei Entwicklung und Validierung vor große Herausforderungen stellen. Durch die Einführung einer zentralen Infrastruktur, die eine domänenübergreifende virtuelle Entwicklung auf Basis von VP ermöglicht, können die Entwicklungsmethoden und -prozesse den Herausforderungen entsprechend angepasst werden. In Verbindung mit CI/CT/CD und einer Trennung von Soft- und Hardwareentwicklung wird die Komplexität beherrschbar.

Sämtliche Änderungen während des Entwicklungsprozesses werden auf diese Weise nachvollziehbar. Die Hersteller können durchgängig verbesserte Modelle für die Simulation aufbauen und nutzen, während durch den Einsatz von SiL, HiL und ViL eine optimale Testabdeckung erreicht wird. ViL vereint dabei die Vorteile der Simulation mit denen des realen Fahrversuchs, sodass die Simulation erlebbar wird.