Die Neuentwicklung elektrospezifischer Fahrzeugkonzepte ermöglicht große Freiheiten bei der Anordnung der Komponenten. Sowohl die schwerpunktoptimierte Positionierung der Batterie im Unterboden als auch die Lagebeziehungen von Antrieb und Batterie beeinflussen allerdings die Crasheigenschaften und den Insassenfreiraum. Diese Wechselwirkungen im Lösungsraum können mit der hier von Audi vorgestellten Methodik zur Ableitung und Bewertung von Fahrzeugkonzepten optimiert werden.

Die Elektrifizierung des Antriebsstrangs, die Automatisierung von Fahrzeugen sowie neue Geschäftsmodelle beeinflussen zunehmend die Art und Weise, wie Fahrzeuge genutzt werden. Für Verbraucher entstehen neue Anwendungsfälle und damit ein verändertes Nutzungsverhalten mit neuen Bedürfnissen. Künftig werden Fahrzeuge daher zunehmend spitzer positioniert, das heißt auf einen bestimmten Anwendungsfall (Use Case) beziehungsweise einen Produktzweck zugeschnitten [1]. Spitz positionierte Fahrzeuge definieren sich also über den zu erfüllenden Use Case und unterstreichen dabei die Bedeutung der Berücksichtigung moderner Anwendungsfälle im Konzeptentwicklungsprozess. Die Fokussierung auf die Bedürfnisse der Nutzer erfordert die Beschreibung der Produktnutzung und möglicher Anwendungsfälle in zukünftigen Szenarien. Informationen aus vorhandenen Fahrzeugen können daher nur in begrenztem Umfang zur Ableitung eines Fahrzeugkonzepts angewendet werden. Stattdessen können Textbeschreibungsmethoden verwendet werden, wie sie aus der agilen Softwareentwicklung bekannt sind.

Die Betrachtung von Use Cases ergänzt die Anforderungs- und Zielfindung für neue Fahrzeugkonzepte. Durch die Vielzahl möglicher Use Cases ist es allerdings nötig, aus den resultierenden Anforderungen Konzepte automatisiert abzuleiten und den Lösungsraum zu beschränken. Eine möglichst umfassende Untersuchung des Lösungsraums ermöglichen daher rechnergestützte Werkzeuge [2]. Dazu werden definierte Grundparameter des Fahrzeugs wie das Maßkonzept automatisiert an die entsprechenden Use Cases angepasst. Durch die schnelle Ermittlung geeigneter Konzepte kann die Entwicklung kundenbedarfsorientierter, spitz positionierter Fahrzeuge bereits in der frühen Phase unterstützt und beschleunigt werden.

Ein Ansatz, Fahrzeugkonzepte hinsichtlich ihrer Topologie zu beschreiben, ist das Maßkonzept nach SAE-Norm J 1100 [3]. Dieses ermöglicht eine vollständige Beschreibung aller relevanten Maße für die Fahrzeugauslegung. Durch die Verknüpfung einzelner Fahrzeugkomponenten und ihrer Position mit unterschiedlichen Use Cases ist es möglich, automatisiert Lösungen für unterschiedlichste Anwendungsszenarien abzuleiten. Aufgrund der Vielzahl der Use Cases und Fahrzeugkomponenten, die miteinander kombiniert werden, besteht die Gefahr, dass der Umfang der Lösungsmöglichkeiten ein scheinbar endloses Ausmaß annimmt, auch bekannt als "kombinatorische Explosion" [4]. Dabei ist es wichtig, jede Anforderung der Use Cases an das Konzept in eine quantitative Größe zu übersetzen, die das Fahrzeugkonzept beschreibt. Hierfür eignen sich besonders parametrische Maßketten, die durch die Bauräume beschrieben werden.

Modellbildung

Die Grundlage bildet eine Basisarchitektur, von der aus sowohl Sportwagen als auch SUVs abgeleitet werden können. Sie ermöglicht die Entwicklung der Konzepte auf der Basis parametrisierter Maßketten. Aus den Maßketten lassen sich, wie im Abschnitt "Vorgehen" beschrieben, Bauräume und deren Positionen ableiten. Der Antriebsstrang kann durch fünf Bauräume und das Interieur durch einen Bauraum beschrieben werden. Je nach Anforderung wird der Bauraum unterschiedlich genutzt. Mittels der Bewertung der aus den Use Cases abgeleiteten und gewichteten Anforderungen können die Wechselwirkungen der Bauräume validiert und gesteuert werden.

Aktuelle Fahrzeugtopologien bestehen vereinfacht aus Frontend, Heckschürze, Antriebskomponenten, Fußgängerschutz, Rädern, Fahrgastzelle sowie Längs- und Querträger, die die Karosserie darstellen. Dabei befinden sich die Fahrgastzelle und der Großteil des Energiespeichers aus sicherheitstechnischen Gründen in Bauräumen zwischen den Achsen, wie es auch dieses Fahrzeugmodell vorsieht [5]. Ein abstraktes Fahrzeugmodell gestattet durch die Betrachtung auf einer hohen Systemebene eine durchgängige Beschreibung von Fahrzeugkonzepten. Restriktionen der Freiheiten des Modells sind die Längs- und Querträger, die es auch in Zukunft geben wird [6]. Der Antriebsstrang, der Platzbedarf für Nutzer sowie segmentabhängige Bauräume charakterisieren das Modell.

Das Fahrzeugmodell besteht aus Quadern, die den verfügbaren beziehungsweise benötigten Bauraum für fixe und variable Komponenten darstellen. Auf Bauraumebene besteht ein Zielkonflikt zwischen den Antriebskomponenten und dem Interieur [7, 8]. Durch die Aneinanderkettung der Komponenten ergeben sich Freiräume, die Bauraumpotenzial für Interieur und Antriebsstrang bieten und durch Maßketten beschrieben werden. Während der Bauraum des Interieurs durch einen Quader definiert ist, beschreiben fünf den Antriebsstrang, Bild 1. Durch gezieltes Abstimmen der Bauräume kann das jeweils ideale Konzept ermittelt werden.

Bild 1
figure 1

Use-Case-abhängiger Bauraum für Interieur und Antriebsstrang (© Audi)

Identifikation der Maßketten

Orientiert an den aktuellen Entwicklungen werden sieben Schnitte in das Fahrzeugmodell gelegt. Davon sind jeweils zwei Schnitte senkrecht zur y- und z-Richtung, sowie drei Schnitte senkrecht zur x-Richtung, Bild 2. Weitere Schnittebenen bieten in diesem Modell keinen Mehrwert. Grund dafür ist der geringe Detaillierungsgrad in der frühen Phase, der zu vielen Freiheiten führt, da wenig Informationen über das Produkt erhältlich und eine hohe Variantenvielfalt möglich sind. Daher sind eine phasenadäquate Abwägung von Modellierungsaufwand und Detaillierungsgrad entscheidend. An jeder Schnittgeraden zweier Ebenen ergibt sich eine eindimensionale Maßkette. Es resultieren 16 Maßketten, wovon 14 konzeptbestimmend sind. Die parametrischen Dimensionen der Komponenten des Fahrzeugmodells beschreiben die Maßketten in Tabelle 1.

Bild 2
figure 2

Schnittebenenmodell (© Audi)

Tabelle 1 Die parametrischen Dimensionen der Komponenten des Fahrzeugmodells (© Audi)

Über die Summanden der Maßketten lassen sich unterschiedliche Topologiekonzepte darstellen. Einerseits wird die Positionierung von Modulen somit abstrahiert, andererseits sind die Maßketten dadurch universell einsetzbar. Fällt ein Modul aus einer Maßkette heraus, werden die Maßketten automatisch angepasst.

Vorgehen

Die Methodik dient der Analyse und Bewertung von Fahrzeugkonzept-Auslegungen. Sie ist in die vier Säulen von Bild 3 gegliedert. Die erste Säule entspricht der Eingabe der Anforderungsgrößen, wovon jede Maßkette einer Anforderung, wie etwa der Fahrzeuglänge, entspricht. Hinzu kommen m zusätzliche Anforderungen, wie zum Beispiel Leistung und Gewicht, wodurch insgesamt 14 + m Anforderungsgrößen existieren.

Bild 3
figure 3

Aufbau der Methodik (© Audi)

In der zweiten Säule wird der verfügbare Bauraum durch eine Berechnung der Maßketten ermittelt. Es erfolgt eine erneute Berechnung aller Maßketten, jedoch wird diesmal der Bauraum berechnet, der benötigt wird, um die Anforderungen zu erfüllen. Diese iterative Berechnung wird für alle Kombinationen aus k Topologien und l Interieurs für alle Maßketten durchgeführt. Im nächsten Schritt wird die Differenz aus benötigtem und verfügbarem Bauraum und somit die Erfüllung der 14+m Anforderungen ermittelt. Die Differenz wird anschließend mit dem jeweiligen Bewertungsfaktor gewichtet. Das Resultat beschreibt den Lösungstesserakt mit den Dimensionen k, l und n, wobei n die 14 + m Anforderungen darstellt, Bild 4. Für jede Anforderung ergibt sich eine [k × l]-Matrix, die jeweils eine Ebene des Lösungstesserakts beschreibt. Jeder Strahl entlang der Anforderungsachse des Lösungsquaders durch die [k × l]-Matrizen entspricht einem Konzept. Der finale Schritt beschreibt die Extraktion spezieller Konzepte nach [9]. Eine Visualisierung der Konzepte ermöglicht darüber hinaus einen qualitativen Vergleich und eine Validierung der numerischen Ergebnisse. Ein Rückwärtsdurchlauf der Methodik ist ebenso möglich. Durch die Vorgaben von Antriebsstrang und Interieur kann eine abstrakte Hülle abgeleitet werden, die das Exterieurdesign annähert. Schlüsselthemen sind die Identifikation der kritischen Maßketten und die Gegenüberstellung aller Konzepte. Es-senziell sind dabei die Wechselwirkungen zwischen Exterieurdesign, Interieurdesign und Antriebsstrang. Die Methode kann vom Gesamtsystem bis hin zu Subsystemen einzelner Komponenten skaliert werden.

Bild 4
figure 4

Aufbau des Lösungstesserakts (© Audi)

In der Vorentwicklung sind nur eine begrenzte Menge an Eingangsgrößen verfügbar und nötig [10]. Meist existieren keine 3-D-Modelle für das Exterieurdesign. Die benötigten Größen werden aus Skizzen zu Formkontur, Proportionen und Grundabmessungen ermittelt. Zum Exterieurdesign genügen die sieben Werte aus Bild 5. Feste Parameter, wie segmentspezifische, konstante Größen, Radgröße und Fahrzeugtyp, werden [10] entnommen. Die Gewichtung der Abweichungen der Ergebnisse zu den Zielwerten wird über individuell zu ermittelnde Bewertungsfaktoren gesteuert. So können die Gesamtgüte eines Konzepts ermittelt und verschiedene Konzepte untereinander verglichen werden. Ein Feld der [k × l]-Matrizen entspricht also der Erfüllung einer Anforderung Anf eines Konzepts und errechnet sich nach Gl. 1:

Bild 5
figure 5

Konzeptbeschreibende Maße des Exterieurs (© Audi)

Gl. 1 \(Anf_{\mathit{1}\mathit{,}TopologiexInterieur}=\,\frac{100\mathrm{\% }}{Mk_{\mathit{1}\mathit{,}Design}}\cdot Mk_{\mathit{1}\mathit{,}Bedarf\,}\)

Mk1,Design entspricht dem Zielwert der Anforderung 1, wohingegen Mk1,Bedarf die benötigte Länge der Maßkette 1 beschreibt, um die Anforderung 1 zu erfüllen. Anschließend wird jede Matrix mit dem zugehörigen Bewertungsfaktor multipliziert. Es entsteht der Lösungstesserakt. Im letzten Schritt werden mittels Filter spezielle Konzepte aus dem Lösungstesserakt extrahiert. Potenzialanalysen werden durchgeführt, indem der Tesserakt mit veränderten Eingangsgrößen erneut berechnet wird. Final können die Konzepte einzeln in einer 3-D-Darstellung visualisiert werden, was zu einem besseren Verständnis des jeweiligen Konzepts führt.

Zusammenfassung

Die Komplexität der Fahrzeugentwicklung wird durch die Berücksichtigung künftiger Szenarien zunehmen. Mithilfe adäquat abstrahierter Modellierung kann die Entwicklungsarbeit zugunsten einer Kosten- und Zeitreduktion unterstützt werden. Rechnergestützte Werkzeuge können grundsätzlich die Auswertung vieler kombinatorischer Möglichkeiten unterstützen. Sie tun dies jedoch unter der Gefahr der von Franke [4] beschriebenen "kombinatorischen Explosion". Die vorgestellte Arbeit leistet durch das abstrahierte Modell und der Möglichkeit der rechnergestützten Bewertung einen Beitrag zur Beherrschung dieser Explosion.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Sieg, C.; et al.: Use-Case-Based Concept Development in the Context of Future Scenarios. Aachen Colloquium Sustainable Mobility, 2020

  2. [2]

    Gronau, H.: Synthese und Konzeptionierung elektrifizierter Antriebssysteme. Dissertation. Düren, 2020

  3. [3]

    Society of Automotive Engineers: Motor Vehicle Dimensions. Online: https://saemobilus.sae.org/content/j1100_200911, aufgerufen: 4. Dezember 2020

  4. [4]

    Franke, H.-J. (Hrsg.): Ungelöste Probleme der Konstruktionsmethodik. Aachen, 1999

  5. [5]

    Verein Deutscher Ingenieure: Methodik zum Entwickeln und Konstruieren technischer Systeme und Produkte. Richtlinie, Nr. 2221, 1993. Online: https://www.vdi.de/richtlinien/details/vdi-2221- methodik-zum-entwickeln-und-konstruieren- technischer-systeme-und-produkte, aufgerufen: 4. Dezember 2020

  6. [6]

    Grabner, J.; Nothhaft, R.: Konstruieren von Pkw-Karosserien. Grundlagen, Elemente und Baugruppen, Vorschriftenübersicht, Beispiele mit Catia V4 und V5. Heidelberg, 2006

  7. [7]

    Heinke, O.: Fahrzeugauslegung mit Hilfe von Eigenschaftsparametern - Möglichkeit oder Utopie? Dissertation. Düsseldorf, 1994

  8. [8]

    Nicoletti, L.; Mirti, S.; Schockenhoff, F.; König, A.; Lienkamp, M.: Derivation of Geometrical Interdependencies between the Passenger Compartment and the Traction Battery Using Dimensional Chains. In: WEVJ 11 (2020), Nr. 2, S. 39

  9. [9]

    Kuchenbuch, K.: Methodik zur Identifikation und zum Entwurf packageoptimierter Elektrofahrzeuge. Dissertation. Berlin, 2012

  10. [10]

    Hahn, J.: Eigenschaftsbasierte Fahrzeugkonzeption. Eine Methodik in der frühen Konzeptphase. 1. Auflage, Wiesbaden, 2017