Der Energieverbrauch eines Elektrofahrzeugs hängt stark von fahrer-, fahrzeug-, strecken- und umgebungsbezogenen Faktoren ab. Das FZI Forschungszentrum Informatik zeigt, wie aufgezeichnete Realdaten aus Fahrzeugen zur simulationsbasierten Absicherung sowie zur Entwicklung und Optimierung einer zuverlässigen und genauen Reichweitenprädiktion beitragen.

Elektrifizierung und Reichweite

Neben dem automatisierten Fahren und der Digitalisierung gehört die Elektrifizierung von Fahrzeugen zu den aktuellen Megatrends in der Automobilbranche [1]. Elektrofahrzeuge gelten als Alternative im Kampf gegen Treibhausgase, Schadstoffemissionen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen [2]. Trotz der ökologischen Vorteile finden Elektrofahrzeuge weiterhin nur schwer beim Kunden Anklang. Ungeachtet der aktuellen Batterietechnologien, mit denen Elektrofahrzeuge Reichweiten von über 400 km erreichen können, bleibt das Schlagwort der Reichweite ein ständiger Begleiter. Folglich gehört die exakte Bestimmung der Reichweite zu den zentralen Erfolgsfaktoren für eine hohe Akzeptanz und die flächendeckende Einführung von Elektrofahrzeugen.

Um den Anforderungen der Kunden gerecht zu werden, entwickeln Automobilhersteller komplexe Algorithmen, die eine akkurate Reichweitenanzeige anbieten. Dabei ist die Schätzung der benötigten Energie für eine durch das Navigationsziel vorgegebene Route ein zentrales Problem. Ob eine Fahrt in den Wintermonaten mit aufgedrehter Heizung in das Hochgebirge oder im Sommer mit offenem Fenster auf flacher Strecke - es ergeben sich signifikant unterschiedliche Energieverbräuche und somit unterschiedliche Reichweiten des Fahrzeugs. Weitere Faktoren wie das Fahrverhalten oder der aktuelle Verkehr sind nicht deterministisch und bedürfen komplexer Verfahren zur Reduzierung der Unsicherheiten bei der Schätzung. Dabei greifen Algorithmen auf zusätzliche Informationsquellen für die aktuelle Verkehrslage, die geografischen beziehungsweise topologischen Gegeben- heiten einer Strecke sowie Wetterdaten zu. Die dabei steigende algorithmische Komplexität fordert neue Methoden bei der Entwicklung und Absicherung, um eine robustere Funktion zu ermöglichen und die Sorge vor der vermeintlich fehlenden Reichweite zu nehmen.

Absicherung von Fahrerassistenzfunktionen

Bei der Entwicklung von Fahrzeugsystemen hat sich als Grundlage zur System-entwicklung das V-Modell etabliert [3]. Im linken Ast erfolgen Design und Entwicklung des Systems und im rechten Ast die Integration der einzelnen Teile zum Gesamtsystem, Bild 1. Besonders bei der Entwicklung von Fahrzeugen mit einer Vielzahl kooperierender Steuergeräte und Software-Programme ist dies eine unerlässliche Methodik. Mit steigender Systemkomplexität wie neuen Informationsquellen (Karten, Verkehrsdaten) sowie steigender Algorithmen-Komplexität bei der Reichweitenprädiktion ist der Bedarf an neuartigen Verfahren verbunden, um eine ausreichende Testabdeckung in der Absicherung zu erzielen.

Bild 1
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Entwicklung und Absicherung von Fahrzeugfunktionen angelehnt an das V-Modell (© FZI Forschungszentrum Informatik)

Die Vielzahl an unterschiedlichen Situationen und Szenarien sowie die stetig wachsende Anzahl an Funktionen, nicht vorhersehbaren Zuständen und sich unterscheidenden Produktvarianten sind mit etablierten Entwicklungs- und Testmethoden nicht mehr handhabbar [4]. Virtuelle, auf Simulationen basierende Ansätze sind gut skalierbar und steuerbar. Allerdings ist es in der Realität und den damit verbundenen unendlichen Variationen an unterschiedlichen Situationen nicht möglich, eine vollständige Abdeckung und statistische Aussagen mit rein simulativen Ansätzen zu erzielen. Eine Lösung bieten aufgezeichnete Realdaten. Sie werden in der Automobilbranche in zeit- und kostenaufwendigen Testfahrten in unterschiedlichen Entwicklungsphasen (Prototypen- fahrzeug, Dauerläufer, Erprobungsträger) aufgezeichnet. Eine breite und systematische Verwendung für unterschiedliche Funktionen ist nicht etabliert [5]. Entsprechend muss die neue Methodik die Vorteile der simulationsbasierten Ausführung von Funktionen und die der Verwendung von Realdaten kombinieren. Eine entsprechende Lösung bietet der datengetriebene Entwicklungsansatz, in dem die stetig wachsende Datenbasis von Realfahrten für die Funktionsentwicklung genutzt wird [6].

Absicherung der Reichweitenprädiktion

Die Bewertung einer Reichweitenprädiktionsfunktion basierend auf realen Fahrten in einer Software-in-the-Loop-Umgebung umfasst fünf wesentliche Schritte, Bild 2. Zuerst sind die vorhandenen Realdaten aus den Fahrzeugen mit verschiedenen Datenformaten und Fahrzeugarchitekturen zu generalisieren beziehungsweise zu konvertieren. Im Anschluss erfolgt die Datenanreicherung, in der zusätzliche Informationen für die Simulation beziehungsweise Bewertung aus den Rohdaten abgeleitet werden. Basierend auf den angepassten Eingängen kann die Simulation der Reichweitenprädiktions-Software erfolgen. Die Ergebnisse werden gegenüber definierten Metriken und Auswertungen evaluiert und visualisiert. Das Konzept erlaubt eine breite statistische Aussage über die Performanz der Reichweitenberechnung bei gleichzeitig hohem Realitätsgrad durch die verwendeten Realdaten. Im Folgenden werden die einzelnen Teilschritte sowie die zugehörigen Herausforderungen erläutert.

Bild 2
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Konzeptbild für die Absicherung von Reichweitenprädiktionsverfahren von Elektrofahrzeugen (© FZI Forschungszentrum Informatik)

Datenbasis und Vorverarbeitung

Aufgezeichnete Realdaten von Test- und Erprobungsfahrten unterscheiden sich durch die verwendeten Fahrzeuge und Architekturen sowie die aufgezeichneten Datenformate. Hierbei werden ausschließlich auf den Bussystemen vorhandene Protokolldaten verwendet, da insbesondere Bewegungsdaten des Fahrzeugs für die Bewertung notwendig sind. Um diese große und variantenreiche Datenbasis nutzbar zu machen, ist ein geeigneter Generalisierungsschritt notwendig. Dabei werden die gegebenen Daten in ein allgemeines Datenformat überführt und zusätzlich alte, fehlende oder defekte Signale ersetzt, um auf die ursprüngliche Repräsentation zuzugreifen. Ziel ist es, in der weiteren Ausführung die Daten immer gleicher Form verfügbar zu haben, unabhängig davon, welche Messsoftware, Datenformate beziehungsweise Fahrzeugarchitekturen und Softwarestände verwendet werden.

Datenanreicherung

Da die bisher aufgezeichneten Realdaten zumeist von herkömmlichen Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor stammen, ist es notwendig, mittels validierten Energiemodellen den benötigten Energiebedarf des Antriebsstrangs zu modellieren und die Datenbasis anzureichern. Dies erlaubt, zuvor unbrauchbare Daten für die Absicherung von Reichweitenprädiktionsfunktionen für Elektrofahrzeuge zu verwenden. Die weitere Anreicherung der Datenbasis zur Bewertung erfolgt durch externe Datenquellen, beispielsweise für die Hinzunahme von historischen Verkehrs- und Wetterdaten, die meist nicht in der Datenbasis vorhanden sind. So können Einflussfaktoren und Performance-Indikatoren entworfen werden, um verschiedene Messungen miteinander zu vergleichen und Auswertungen von situationsabhängigen Gegebenheiten während einer Aufzeichnung zu untersuchen.

Simulation der Reichweitenprädiktion

Die angereicherten Realdaten können nun verwendet werden, um verschiedene Parametrierungen und Softwarestände der Reichweitenprädiktionsfunktion für unterschiedliche Fahrverläufe und Profile zu simulieren, Parametereinflüsse zu analysieren und die Funktion zu optimieren. Dabei sind unterschiedliche Fahrten miteinander kombinierbar, um das Verhalten der Reichweitenprädiktionsfunktion bei sich stetig wechselnden Fahrern, sich unterscheidenden Gegebenheiten der Strecke sowie diversen Kombinationen der trainierten und validierten Strecke zu untersuchen.

Evaluation

Für die Evaluation der Güte einer Reichweitenprädiktionsfunktion müssen geeignete Fehlermaße sowie Metriken erarbeitet werden, die die charakteristischen Merkmale der Funktion berück- sichtigen. So sollte mithilfe eines geeignetes Fehlermaßes eine qualitative Aussage über die Güte der vorhergesagten Restenergie beziehungsweise Restreichweite für eine gegebene Strecke getroffen werden können. Beispielhaft ist eine Metrik definiert, die das Verhältnis der aktuellen Restenergieschätzung mit der tatsächlich restlichen Energie der aufgezeichneten Realdaten vergleicht. So ist der Verlauf der Restenergieschätzung während der Fahrt bewertbar.

Visualisierung und Funktionsbewertung

Die simulierten Ergebnisse können nun anhand der Metriken für eine Funktionsbewertung visualisiert beziehungsweise aggregiert werden. Hierbei werden durch die große Skalierbarkeit und die Vielzahl an simulierten Kilometern statistische Auswertungen sowie Methoden aus dem Bereich der Big Data Analytics angewendet. Eine exemplarische Darstellung der aggregierten Auswertung für mehrere Fahrten zeigt Bild 3.

Bild 3
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Aggregierte Performanz-Visualisierung von zehn Testfahrten. Dargestellt ist der Verlauf der Bewertung der Reichweitenprädiktionsfunktion während der Fahrt (© FZI Forschungszentrum Informatik)

Für zehn Testfahrten auf der gleichen Strecke wurden unterschiedliche Fahrer und Uhrzeiten aufgezeichnet und ausgewertet, um ein beispielhaftes Testset mit unterschiedlichen Parametrierungen abzubilden. Zu sehen ist, wie sich die vorhergesagte Restenergie während der Fahrt an das optimale Ergebnis anpasst. Rötlich eingefärbt ist eine Überschätzung der Restenergie und der damit kritische Fall des Liegenbleibens während der Fahrt. Die Farbe Blau hingegen zeigt an, dass die Restenergie unterschätzt wird. Dies ist weniger kritisch, da statt beispielsweise den besagten 100 km nur 90 km als mögliche Restreichweite angezeigt werden, obwohl man tatsächlich 10 km mehr Restreichweite beziehungsweise Restenergie besitzt und somit sein Ziel dennoch erreichen würde. Bild 4 zeigt dabei exemplarisch die gefahrene Strecke für eine ausgewählte Fahrt. Hier ist zu sehen, dass die Restenergie anfänglich überschätzt und gegen Ende unterschätzt wird. Trotz Betrachtung der Strecken-Topologie ist die Prädiktion nicht perfekt, da die gefahrene Strecke gegen Ende eine Bergauffahrt aufweist und somit letztlich, aufgrund des höheren Energieverbrauchs, zu einer defensiven Prädiktion neigt. Die Auswertung erlaubt es, auf mögliche Auffälligkeiten der Funktion zu reagieren und eine hohe Funktionsreife in frühen Phasen der Entwicklung zu erreichen.

Bild 4
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Kartenansicht der gefahrenen Strecke einer ausgewählten Testfahrt mit Visualisierung der Bewertung der Reichweitenprädiktionsfunktion während der Fahrt (© FZI Forschungszentrum Informatik)

Fazit

Die Wiederverwendung von aufgezeichneten Realdaten für die simulationsbasierte Absicherung von Reichweitenprädiktionsverfahren ermöglicht ein breites sowie kosten- und zeitgünstiges Testen. Dabei können neue Software-Versionen der Algorithmen bereits in frühen Phasen der Entwicklung realitätsnah und breit skalierbar getestet und evaluiert werden. Der stetig wachsende Datenpool aus aufgezeichneten Fahrten erlaubt umfangreiche Datenanalysen und statistisch signifikante Bewertungen, ohne auf neue Testfahrten oder aufwendige Simulationen zurückgreifen zu müssen. Durch vorgelagerte Konvertierungs- und Generalisierungsschritte können sämtliche vorhandene Fahrzeugdaten für die Absicherung berücksichtigt und folglich eine Vielzahl von aufgezeichneten Fahrsituationen für die Entwicklung und Optimierung der Reichweitenprädiktion genutzt werden.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Pfeil, F.: Megatrends und die dritte Revolution der Automobilindustrie: Eine Analyse der Transformation der automobilen Wertschöpfung auf Basis des Diamantmodells. Würzburg: Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für BWL und Marketing, 2018

  2. [2]

    Mahmoudzadeh Andwari, A.; Pesiridis, A.; Rajoo, S.; Martinez-Botas; R.; Esfahanian, V.: A review of Battery Electric Vehicle technology and readiness levels. In: Renewable and Sustainable Energy Reviews, 2017, 78 (May), S. 414-430

  3. [3]

    Sax, E.: Automatisiertes Testen eingebetteter Systeme in der Automobilindustrie. München: Hanser, Carl, 2008

  4. [4]

    Wachenfeld, W.; Winner, H.: The release of autonomous vehicles. In: Autonomous Driving. Springer, 2016, S. 425-449

  5. [5]

    Langner, J.; Bach, J.; Otten, S.; Sax, E.; Esselborn, C.; Holz, M.; Eckert, M.: Framework for using real driving data in automotive feature development and validation. 8. Tagung Fahrerassistenz, Online: https://mediatum.ub.tum.de/doc/1421298/1421298.pdf, 2017

  6. [6]

    Bach, J.; Langner, J.; Otten, S.; Holzapfel, M.; Sax, E.: Data-driven development, a complementing approach for automotive systems engineering. IEEE International Symposium on Systems Engineering, ISSE - Proceedings, 2017