Bisher war eine ganzheitliche Untersuchung der Längs-, Quer- und Vertikaldynamik von Fahrzeugen mit Prüfständen nicht realisierbar. Der Fahrzeug- dynamikprüfstand des IVK der Universität Stuttgart in Kooperation mit dem FKFS ermöglicht es erstmals, den klassischen Fahrversuch besser zu unterstützen, das Zusammenspiel neuartiger Antriebs- und Fahrwerkskonzepte zu erproben und die Applikation von Fahrdynamikregelsystemen zu beschleunigen.

Herausforderung

Zu keinem anderen Zeitpunkt wurden virtuelle Methoden in der Kraftfahrzeug- entwicklung so intensiv genutzt wie heute. Gleichzeitig wurden noch nie so viele Prüfstände konzipiert und gebaut. Dies zeigt, dass der virtuelle Entwicklungsprozess den klassischen nicht ersetzt, sondern weiterhin ergänzt und begleitet. Verlässliche virtuelle Methoden und eine immer engere Verzahnung von Simulation und Realversuch sind zentral, um die wachsende Komplexität moderner Fahrzeuge vor dem Hintergrund verkürzter Entwicklungszyklen und erweiterter Portfolios zu beherrschen. Ferner rückt die ganzheitliche Betrachtung von Längs-, Quer- und Vertikaldynamik aufgrund innovativer Fahrdynamikregel- und Fahrerassistenzsysteme zur Verbesserung der Fahreigenschaften und des Komforts in den Vordergrund.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen und eine weitere Brücke zwischen der Simulation und dem Fahrversuch zu schlagen, entstand am Institut für Verbrennungsmotoren und Kraftfahrwesen (IVK) der Universität Stuttgart in Kooperation mit dem Foschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart (FKFS) sowie der MTS Systems Corporation der neue Stuttgarter Fahrzeugdynamikprüfstand, der im Dezember 2018 in Betrieb genommen wurde. Er ermöglicht es, hochdynamische Versuche zur ganzheitlichen Fahrzeugdynamik, also der gekoppelten Längs-, Quer- und Vertikaldynamik, unter Laborbedingungen durchzuführen.

Technik

Beim Stuttgarter Fahrzeugdynamikprüfstand steht das Fahrzeug auf vier Flachbandsystemen, die über integrierte Elektromotoren angetrieben sowie abgebremst und durch hydraulische Aktoren um die Hochachse ge-dreht werden können. Dadurch kann die Relativbewegung der Räder zur Fahrbahn dargestellt werden. Zudem können die Flachbänder über Hydraulikzylinder vertikal angeregt werden, um Fahrbahnunebenheiten aufzuprägen und Fahrwerk sowie Lenkung so in einen realistischen Betriebszustand zu versetzen. Das Fahrzeug kann sowohl geschleppt als auch über den eigenen Triebstrang angetrieben werden. Die Bedienung des Fahrzeugs erfolgt durch einen Fahrroboter. Künftig wird sie auch durch einen menschlichen Fahrer realisierbar sein.

Je nach Untersuchungsgegenstand kann der Fahrzeugaufbau durch unterschiedliche Fesselungssysteme auf dem Prüfstand gehalten werden. Das Center of Gravity Restraint (CGR) fesselt das Fahrzeug virtuell in Schwerpunktposition und ermöglicht dabei die Freiheitsgrade Wanken, Nicken und Huben. Durch integrierte biaxiale Kraftsensoren werden die Reaktionskräfte in Längs- und Querrichtung sowie das resultierende Reaktionsmoment um die Hochachse zwischen dem Fahrzeugaufbau und dem CGR gemessen. Diese Größen werden vom Prüfstandsregelungssystem genutzt, um die Flachbandeinheiten individuell so zu steuern, dass eine vergleichbare Relativbewegung zwischen Reifen und Fahrbahn entsteht wie beim Fahrversuch auf der Straße. Vier hydraulische Aktuatoren an der CGR-Befestigung ermöglichen weiterhin, eine Vertikalkraft sowie ein Wank- und Nickmoment aufzuprägen, um etwa Luftkräfte zu simulieren. Damit kann der Fahrversuch so realitätsnah wie nur möglich auf den Prüfstand geholt werden.

Neben dem CGR-Fesselungssystem kann das Fahrzeug auch durch ein klassisches Stabsystem (3-Link-Restraint) gehalten werden. Für Anwendungen mit verstärktem Fokus auf der Vertikaldynamik ist auch eine Fesselung des Fahrzeugs durch Seilabspannung denkbar. In Tabelle 1 sind grundlegende Leistungsdaten des Prüfstands aufgeführt.

Tabelle 1 Leistungsdaten des Prüfstands (© FKFS)

Funktionsweise und Betriebsarten

Durch das modulare Software- und Regelungskonzept, das in [1] ausführlich beschrieben ist, kann der Fahrzeugdynamikprüfstand auf unterschiedliche Weise betrieben und genutzt werden. Im Wesentlichen gibt es drei Betriebsmodi: den Road-Load-Mode, den Road-Speed-Mode und den User-Mode.

Mit dem Road-Load-Mode ist es möglich, realistische, ganzheitliche Fahrmanöver durchzuführen. Ändern sich die Reifenschlupfzustände durch fahrzeugseitige Lenkradwinkelanregungen, Antriebs- oder Bremsmomente, werden die daraus resultierenden Reifenkräfte durch die entsprechenden Reaktionsgrößen des Fesselungssystems abgestützt. Diese Reaktionsgrößen werden durch Sensoren erfasst und dazu genutzt, die Bewegung der gesperrten Freiheitsgrade des Fahrzeugs in der Simulation zu berechnen. Diese virtuelle Fahrzeugbewegung wird dann in Steuerbefehle zur Verdrehung der Flachbandeinheiten um die Hochachse (Bandwinkel) und zur Einstellung der Bandgeschwindigkeit umgerechnet. Hierbei ändern sich erneut die Schlupfzustände der Reifen und es entsteht ein Kreisprozess, Bild 1.

Bild 1
figure 1

Grundsätzliches Funktionsprinzip zur Durchführung von Fahrmanövern (© FKFS)

Hierdurch wird sichergestellt, dass die entstehenden Schlupfzustände zwischen Flachbändern und Reifen stationär wie instationär zu denen einer realen Straßenfahrt vergleichbar sind. Zusammengefasst entsteht zur Durchführung von realitätsnahen Fahrmanövern ein hybrid-mechanisches System, das sich aus der Kopplung des realen Systems Fahrzeug auf dem Prüfstand mit einem virtuellen Körper ergibt, der die Fahrzeugbewegung in den gesperrten Freiheitsgraden simuliert. Es können sowohl Open-Loop- als auch Closed- Loop-Fahrmanöver getestet werden. Um Closed-Loop-Manöver mit dem Fahr-roboter zu ermöglichen, wird ein zusätzliches externes Echtzeitsimulationssystem verwendet, um eine Umgebungs-, Strecken- und Fahrermodellierung zu realisieren. Dieses Vorgehen wird von MTS als mechanical Hardware-in-the-Loop (mHiL) bezeichnet.

Im Road-Speed-Mode ergeben sich die Aktuatorbewegungen nicht aus einer Umgebungs- und/oder Fahrersimulation gemäß Bild 1 und Bild 2, sondern werden durch vorgegebene Zeitsignale oder mittels Funktionsgeneratoren gesteuert. Hiermit lassen sich nahezu beliebig überlagerte Anregungen realisieren, die spezifische Tests ermöglichen oder auch der Parameteridentifikation dienen können und im Fahrversuch auf der Straße so nicht möglich sind.

Bild 2
figure 2

Veranschaulichung des mHIL-Prozesses für Closed-Loop-Fahrmanöver: Simulationsumgebung (© dSpace | FKFS), Audi e-tron Prototyp auf Fahrzeugdynamikprüfstand und Fahrroboter (© Wittke | FKFS)

Weitestgehende Flexibilität bietet der User-Mode. Hier wird es dem Nutzer ermöglicht, eigene Algorithmen zur Ansteuerung und Regelung zu entwickeln oder zusätzliche Sensorik zu integrieren. Gleichzeitig können eigene Algorithmen mit den bestehenden Funktionen von MTS verbunden werden. Hierdurch wird ein Höchstmaß an Anpassungsmöglichkeit auch an künftige Forschungsaufgaben und Anwendungsfälle sichergestellt.

Anwendungen

Eine wichtige Gruppe von Anwendungsfällen legt den Schwerpunkt auf die Entwicklung und Bewertung der ganzheitlichen Fahrzeugdynamik [2]. Die längs-, quer- und vertikaldynamischen Fahrzeugeigenschaften können mithilfe des Fahrzeugdynamikprüfstands nicht nur isoliert untersucht wer- den, sondern es wird eine detaillierte und reproduzierbare Betrachtung der Wechselwirkungen möglich. Neben dem Gesamtfahrzeugverhalten können auch Subsysteme wie das Lenkungs- und Bremssystem oder der Antriebsstrang entwickelt sowie erprobt und die dazugehörigen Steuergeräte appliziert werden.

Ein weiteres Anwendungsfeld ist die Entwicklung und Zertifizierung von aktiven Systemen. Es beinhaltet Systeme wie ESP, aktive Lenksysteme und Fahrwerke oder integrierte Fahrdynamikregelsysteme. Ferner können Funktionen aus dem Bereich der Advanced Driver Assistance Systems (ADAS) oder dem autonomen Fahren unter sicheren Bedingungen getestet werden [3].

Die leistungsfähige Aktuatorik und die Flexibilität hinsichtlich Fahrzeugfesselung und Regelungskonzept ermöglicht generell ein breites Spektrum an Anwendungsfällen für den Fahrzeugdynamikprüfstand. Das IVK/FKFS sieht seine Aufgaben insbesondere darin, im Rahmen eigener Forschungsaktivitäten sowie von Kooperationsprojekten das Anwendungsspektrum weiter zu vergrößern und ent- sprechende Best Practices bereitzustellen. Vor diesem Hintergrund wurde eine strategische Allianz zwischen MTS und dem IVK/FKFS etabliert [2, 3]. Mittelfristiges Forschungsziel ist beispielsweise die Etablierung von Methoden zur schnellen Modellbildung und Parameteridentifikation zur Unterstützung des virtuellen Entwicklungsprozesses. Wichtiger Punkt ist zudem eine grundlegende Untersuchung und gegebenenfalls Kompensation existierender Unterschiede zwischen dem Fahrversuch auf der Straße und auf dem Fahrzeugdynamikprüfstand. Entscheidend sind hierbei der Einfluss der Fahrzeugfesselung und der Reifen-Fahrbahn-Kontakt. Eine Darstellung erster Forschungsarbeiten findet sich in [1] und [4].

Beispiele

Aus dem breiten Nutzungsspektrum sollen nachfolgend zwei querdynamische Anwendungsbeispiele vorgestellt werden. Als Testfahrzeug wurde nicht das oben abgebildete Fahrzeug verwendet, sondern ein Fahrzeug der Kompakt- klasse.

Als erstes Beispiel sind in Bild 3 Ergeb- niskurven einer quasistationären Kreisfahrt zur Analyse des Eigenlenkverhaltens in Anlehnung an die ISO 4138 zu sehen. Dargestellt ist der Lenkradwinkel über der Querbeschleunigung. Die Längsgeschwindigkeit des Fahrzeugs wurde bei 100 km/h konstant gehalten und es wurde mit einer konstanten Lenkradwinkelrampe bis in den Grenzbereich hinein gelenkt. Insgesamt wurden vier Versuche durchgeführt. Zweimal wurde nach links und zweimal wurde nach rechts gelenkt. Dabei wurden die Versuche in definierten Zeitabständen durchgeführt, um vergleichbare Reifentemperaturen zu gewährleisten. Damit die Ergebnisse möglichst realitätsnah sind, wurde zudem eine stochastische Vertikalanregung aufgebracht, die einer realen Fahrbahnanregung entspricht. Hieraus resultieren die in Bild 4 bei hohen Querbeschleunigungen erkennbaren Schwingungen, die im Bereich der Giereigenfrequenz des Fahrzeugs liegen. Die Ergebnisse sind tiefpassgefiltert. Um die Mittellage der Lenkung ist der Einfluss der Nichtlinearitäten in der Lenkanlage zu er-kennen. Neben dem untersteuernden Fahrzeugverhalten zeigen die Ergebnisse eine sehr gute Reproduzierbar- keit.

Bild 3
figure 3

Versuchsergebnisse von vier quasistationären Kreisfahrten: Lenkradwinkel über Querbeschleunigung, jeweils Lenkung aus der Mittellage bis in den Grenzbereich hinein (© FKFS)

Bild 4
figure 4

Lenkradwinkelvorgaben der Sine-with-Dwell- Manöver bei drei unterschiedlichen Lenkradwinkelamplituden (© FKFS)

Das zweite Beispiel ist ein dynamisches Sine-with-Dwell-Fahrmanöver [5], das zum Beispiel zur Analyse und Applikation von ESP-Funktionen genutzt wird. Insgesamt wurden 15 Versuche durchgeführt, jeweils fünf mit einer Lenk- radwinkelamplitude von 30°, 50° und 70°. Erneut wurde eine stochastische Vertikalanregung aufgebracht. Bild 4 zeigt die Verläufe der Lenkradwinkeleingabe und Bild 5 die gemessenen Gier- ratenverläufe. Auch bei diesem dynamischen Manöver, das bei 70° Lenkradwinkelamplitude deutlich erkennbar den fahrdynamischen Grenzbereich berührt, ist eine hohe Reproduzierbarkeit gegeben.

Bild 5
figure 5

Gemessene Verläufe der Gierrate der Sine-with-Dwell-Manöver bei drei unterschiedlichen Lenkradwinkelamplituden mit Wiederholungs-messungen zum Nachweis der Reproduzierbarkeit (© FKFS)

Der Fahrzeugdynamikprüfstand wurde erst kürzlich in Betrieb genommen. Zeit- und witterungsbedingt geschuldet liegen noch keine detaillierten Vergleiche zwischen Fahrdynamikmessungen auf der Straße und auf dem Prüfstand vor. Dies ist zentraler Inhalt der anstehenden Untersuchungen und Gegenstand weiterer Veröffentlichungen.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Ahlert, A.; Zeitvogel, D.; Neubeck, J.; Krantz, W.; Wiedemann, J.; Boone, F.; Orange, R.: Next generation 3D vehicle dynamics test system - Software and control concept. In: Bargende, M.; Reuss, H.-C.; Wiedemann, J. (Hrsg.): 18. Internationales Stuttgarter Symposium: Automobil- und Motorentechnik. Wiesbaden, 2018 (Proceedings), S. 23-38

  2. [2]

    Neubeck, J.: Handling Roadway System - Next Generation 3D Vehicle Dynamics Test System. Test Facility Forum. Frankenthal, 2018

  3. [3]

    Boone, F.; Neubeck, J.: Advanced development with the Flat-Trac Handling Roadway. MTS Lab Expert Seminar. Dresden, 2017

  4. [4]

    Zeitvogel, D.; Ahlert, A.; Neubeck, J.; Krantz, W.; Wiedemann, J.; Boone, F.; Kan, W.: An Innovative Test System for Holistic Vehicle Dynamics Testing. In: SAE Technical Paper Series (2019), 2019-01-0449

  5. [5]

    U.S. Department of Transportation - National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA): Federal Motor Vehicle Safety Standards: Electronic Stability Control Systems, Controls and Displays, FMVSS No. 126, Washington, 2007