Lithium-Ionen-Batterien sind ein entscheidender Baustein bei der Konzipierung von batterieelektrischen Fahrzeugen. Die Virtualisierung dieser Komponente kann die Entwicklungs- und Testphasen erheblich verkürzen. Die Erstellung von leistungsfähigen Batteriemodellen ist komplex und erfordert eine strukturierte Vorgehensweise. AVL zeigt, wie das Simulationswerkzeug Cruise M den Parametrierprozess eines Modells vereinfachen und beschleunigen kann.

Lithium-Ionen-Batterien (LIB) spielen sowohl bei der Elektrifizierung zukünftiger Fahrzeuge als auch bei stationären Energiespeichersystemen der Zukunft eine Schlüsselrolle. Unterschiedliche Fahrzeugklassen, Antriebsarchitekturen und Betriebszyklen stellen individuelle Anforderungen an die Energie- und Leistungsdichte sowie an die Lebensdauer eines Batteriepacks. Der Einsatz von modellbasierten Methoden kann maßgeblich dazu beitragen, die Entwicklungseffizienz zu erhöhen, indem frühzeitig Designoptionen virtuell verglichen und dann auf die vielversprechendsten Varianten reduziert werden können. Entscheidend bei der Verwendung virtueller Methoden sind Modelle mit bester Rechengeschwindigkeit - also vielfach schneller als Echtzeit - und hoher Vorhersagegüte in Betriebsbereichen, die experimentell vorab noch nicht untersucht wurden, sowie eine einfache und robuste Parametrierung.

Motivation und Herausforderung

Elektrochemische Modelle von LIB bieten einen guten Kompromiss zwischen Modellierungstiefe und Berechnungsaufwand. Sie erfassen Konzentrations- und Ladungsverteilungen über die Dicke der Elektroden und des dazwischenliegenden Separators und bieten so einen Ausgangspunkt, um Alterungsphänomene zu beschreiben oder um Schnellladeverfahren zu optimieren.

Eine nicht abschließend gelöste Herausforderung bei der Verwendung von elektrochemischen Modellen ist deren effiziente Parametrierung. Die Komplexität dieser Aufgabe ergibt sich aus modellbedingten Eigenschaften und auch aus experimentellen Randbedingungen. Das Modell weist nicht nur eine beachtliche Anzahl an Parametern auf, es erfordert auch Parameter, die experimentell nicht direkt zugänglich sind. Diese Größen können mithilfe von bewährten Methoden der Parameteridentifikation angepasst werden, wobei die Schwierigkeit oft darin besteht, in den Messdaten überlagerte Effekte den entsprechenden Parametern richtig zuzuordnen und lokale von globalen Minima zu unterscheiden.

Eine Möglichkeit ist die globale Optimierung der Parameter mittels experimenteller Daten, allerdings ist dies aufgrund der hohen Parameterzahl eine sehr komplexe Aufgabe. Eine weitere Möglichkeit, Anoden- beziehungsweise Kathodenparameter strukturiert zu bestimmen, besteht darin, Batteriezellen zu öffnen, die Elektroden zu trennen und Halbzellen - meist im Format von Knopfzellen - sowie Zellen in Drei-Elektroden-Anordnung zu bauen. Ecker et al. [1] haben diese Vorgehensweise bezüglich der experimentellen Erfordernisse, der verschiedenen Typen von Parametern und der Parameteranpassung umfangreich diskutiert. Die Autoren klassifizieren geometrische Daten, Materialeigenschaften, Transporteigenschaften sowie Parameter für Elektrodenkinetik und verwenden direkte und indirekte Parameterbestimmungen auf Basis von Messauswertungen in der Zeit- sowie der Frequenzdomäne.

Aus [1] kann ein Parametrierungsprozess abgeleitet werden, der sich im Grunde auf beliebige LIB übertragen lässt. Um den Ansatz nachhaltig in industrielle Anwendungen einbetten zu können, benötigt man Tools, die den Prozess reproduzierbar und robust durchführen können und das benötigte Expertenwissen auf ein Mindestmaß reduzieren. Dieser Prozess wird im Folgenden anhand der im Simulationstool Cruise M [2] verfügbaren Parametrier-Wizards beschrieben.

Pseudo-2-D-Modell und Parameter

Elektrochemische Modelle für LIB wurden in ihrer Grundstruktur bereits vor Jahrzehnten vorgeschlagen [3, 4] und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Die Modelle basieren auf fundamentalen Bilanzgleichungen für Masse und Ladung und verwenden grundlegende Beziehungen für elektrochemische Reaktionskinetik sowie Transportprozesse von elektrischer und ionischer Ladung im Elektrolyten und der porösen Elektrodenstruktur. Damit ist es möglich, das Laden und Entladen einer LIB anhand weniger physikalisch-chemischer Kausalitäten zu beschreiben.

Bild 1 stellt das Konzept des elektrochemischen Modells dar und zeigt einen Ladeprozess, bei dem Lithium-Ionen unter Freisetzung eines Elektrons aus der Kathode in den Elektrolyten deinterkalieren, durch den Separator in Richtung Anode wandern und dort unter Verbrauch eines Elektrons in die Anode interkalieren. Die poröse Struktur der Elektroden wird geometrisch in vereinfachter Weise als Kugelschüttung mit zwei unabhängigen eindimensionalen Koordinaten modelliert, die entlang der Elektrodendicke und über den Radius repräsentativer Kugeln laufen. Dieser 1-D+1-D- Ansatz wird häufig auch als Pseudo-2-D (P2D) zusammengefasst.

Bild 1
figure 1

Grundprinzip des P2D-Modellansatzes (© AVL)

Das hier verwendete P2D-Modell unterscheidet sich vom Originalmodell durch eine Reihe von Funktionen. So können beispielsweise Alterungseffekte oder mechanische Spannungen innerhalb der Zelle berücksichtigt werden.

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die von elektrochemischen P2D-Modellen benötigten Parameter, die grob in geometrische, Material- und Modellparameter unterteilt sind. Mit Ausnahme von Zellfläche und Separatordicke, sowie Elektrolytparametern (Elektrolytleitfähigkeit und -diffusionskoeffizient sowie Überführungszahl) sind alle Parameter jeweils für die Anode und Kathode erforderlich. Geometrische und Materialparameter stehen für sich, Modellparameter können nur im Zusammenhang mit den zugrunde liegenden Modellgleichungen korrekt interpretiert werden. Die Gleichungen des in dieser Arbeit verwendeten Modells sind bei Wurzenberger et al. [5] zusammengefasst. Die dritte Spalte in Tabelle 1 gibt eine Einschätzung der Sensitivität des jeweiligen Parameters wieder. Die Einteilung basiert auf der Arbeit von Li et al. [6] und soll bei der Einordung helfen, ob ein Parameter mit großer Genauigkeit bestimmt werden muss oder ob es ausreichend ist, Werte von ähnlichen Elektroden oder Elektrolyten aus der Literatur zu verwenden.

Tabelle 1 Parameter des P2D-Modells (AVL)

Parametrierungsablauf

Im Folgenden werden die einzelnen Schritte des Parametrierungsprozesses im Detail vorgestellt, der Gesamtprozess ist schematisch in Bild 2 dargestellt. Durch die Verknüpfung von relevanten Parametern mit Schlüsselexperimenten, die eine hohe Sensitivität gegenüber den Modellparametern eines Parametrierungsschrittes zeigen, ergibt sich ein sequenzieller Prozess. Zu Beginn werden geometrische Daten benötigt, die aus der Zellöffnung gewonnen werden. Des Weiteren besteht idealerweise Kenntnis über die zugrunde liegende Elektrodenchemie.

Bild 2
figure 2

Parametrierungsablauf für ein elektrochemisches Modell (© AVL)

Elektroden-Balancing

Die Leerlaufspannung einer LIB in Abhängigkeit des Ladezustands, die sowohl in Datenblättern von Herstellern als auch in der Literatur zu finden ist, beinhaltet bereits ein hohes Maß an Information. Es können Rückschlüsse über die maximale Ladungsmenge beziehungsweise Energie der LIB gezogen werden und Abschätzungen für Obergrenzen der Leistung gemacht werden. Die Modellierung der Leerlaufspannung erscheint auf den ersten Blick simpel, vor allem wenn sie im Zusammenhang mit elektrischen Ersatzschaltbildmodellen verwendet wird. Um die Leerlaufspannung der Vollzelle im P2D-Modell zu modellieren, sind allerdings mehrere Schritte für die korrekte Parametrierung erforderlich.

Die Herausforderung besteht darin, dass das P2D-Modell nicht die Ladung, sondern Li+-Konzentrationen bilanziert, und dass die Leerlaufspannung im P2D-Modell die Differenz der modellierten Elektrodenpotenziale darstellt. Zusätzlich sind auch die Elektrodenpotenziale im Modell nicht ladungsabhängig, sondern ändern sich in Abhängigkeit von der Li+-Konzentration.

Dieser Prozess wird als Elektroden-Balancing oder Open-Circuit-Voltage-Balancing bezeichnet. In der Literatur finden sich verschiedene Varianten davon [1, 7]. Cruise M (Version 2024 R1) stellt hierfür einen Parametrier-Wizard bereit, der garantiert, dass die Achsentransformation (Ladung zu Konzentration) und die Überlagerung der Elektrodenpotenziale gemeinsam in einem konsistenten Schritt gemacht wird. Schematisch ist dies in Bild 3 dargestellt.

Bild 3
figure 3

Schematische Darstellung des Parametrierprozesses mithilfe des Cruise M Electrode Balancing Wizard; die Resultatübersicht zeigt die Achsentransformation von Ladung zu Stöchiometrie für eine Grafit-Anode (© AVL)

Der Vorteil einer Parametrierung mittels Wizard gegenüber einer Vollzellparametrierung mittels Optimierung der relevanten Parameter soll anhand eines Beispiels diskutiert werden. Die Kapazität einer Elektrode ist im P2D-Modell direkt proportional zur Schichtdicke des Aktivmaterials sowie zur Elektrodenfläche. Bei einer Optimierung ohne Kenntnis dieser Daten können unterschiedliche Parametersätze zu ähnlichen Ergebnissen führen.

Dies ist exemplarisch in Bild 4 dargestellt. Hier wurde die Parametrierung der Zelle des Audi e-tron quattro als Basis genommen, die aufgrund der geometrischen Daten als Energiezelle einzustufen ist. Zusätzlich wurde ein zweiter Parametersatz für eine Leistungszelle künstlich generiert. Die Schichtdicken der Elektroden wurden auf ein Drittel reduziert und die Zellfläche um den Faktor 3 vergrößert, was zu gleichen Elektrodenkapazitäten führt. Für beide Varianten wurde die Entladung einer Vollzelle mit einer C-Rate von C/20 sowie 2C simuliert. Obwohl die beiden Zellen deutlich unterschiedliche Innenwiderstände haben, zeigen Simulationen einer Entladung mit einer C-Rate von C/20 nahezu identische Ergebnisse, die zweifellos innerhalb der Toleranzen eines Optimierungsalgorithmus liegen würden. Der unterschiedliche Innenwiderstand wird erst bei höheren Strömen ersichtlich; eine Simulation mit einer C-Rate von 2C zeigt deutliche Abweichungen von bis zu 0,13 V.

Bild 4
figure 4

Simulierte Entladekurve mit einer C-Rate von C/20 (gestrichelte Linien) und 2C (durchgehende Linien) einer Zelle des Audi e-tron quattro bei einer Umgebungstemperatur von 25 °C - die roten Linien zeigen die korrekte Parametrierung, die blauen Linien zeigen eine Leistungszellen-Parametrierung (dreifache Zellfläche, gedrittelte Schichtdicken) (© AVL)

Daraus lässt sich schließen, dass Vollzellparametrierungen ohne Kenntnis von Elektrodengeometriedaten keine Strukturierung des Parametrierprozesses zulassen. Um Mehrdeutigkeiten bei der Parameterschätzung auszuschließen, müssten hier Messungen über den gesamten dynamischen Bereich verwendet werden, was das Optimierungsprozedere erheblich komplexer gestalten würde.

Kinetik-Parametrierung

Die charakteristische Spannungsantwort einer LIB auf einen angelegten Strom kann in verschiedene Komponenten zerlegt werden. Die Abweichung von der Leerlaufspannung wird durch ohmsche Verluste im Elektrolyten sowie in den Elektroden, Reaktionsverluste der Interkalation beziehungsweise Deinterkalation von Li+-Ionen sowie durch Transportverluste im Elektrolyten und in den Elektroden verursacht. Reaktionsverluste sowie Transportverluste in der Elektrode werden über Parameter mit hoher Sensitivität beschrieben.

Die elektrochemische Impedanzspektroskopie (Electrochemical Impedance Spectroscopy, EIS) bietet einen etablierten Ansatz, diese Parameter aus Messdaten zu extrahieren. Hierzu wird an Halbzellen oder Vollzellen ein sinusförmiger Strom mit niedriger Amplitude über einen großen Frequenzbereich angelegt und die Spannungsantwort gemessen. Die daraus resultierende Impedanz, gegeben als komplexe Funktion in Abhängigkeit der Frequenz, kann in Form einer Nyquist-Kurve dargestellt werden - dabei ist der Realteil der Impedanz gegenüber dem negativen Imaginärteil für jede Frequenz aufgetragen.

Um die Modellparameter aus den Nyquist-Kurven zu extrahieren, werden üblicherweise frequenzdomänenbasierte elektrische Ersatzschaltbildmodelle verwendet. Diese Ersatzschaltbildmodelle werden zuerst dazu genutzt, die gemessene Nyquist-Kurve zu approximieren. Eine gemessene sowie approximierte Nyquist-Kurve ist exemplarisch in Bild 5 dargestellt. Danach werden die P2D-Modellparameter aus den einzelnen Ersatzschaltbildmodellen extrahiert. Um die Temperatur- und Konzentrationsabhängigkeit des P2D- Modells korrekt zu parametrieren, werden üblicherweise Impedanzmessungen bei fünf bis zehn einzelnen Ladezuständen sowie drei bis vier Temperaturen durchgeführt. Diese große Anzahl an Anpassungen muss gleichzeitig durchgeführt werden. Cruise M stellt hier den sogenannten EIS-Wizard zur Verfügung, der diesen Prozess effizient und konsistent gestaltet, Bild 5.

Bild 5
figure 5

Schematische Darstellung des Parametrierprozesses mittels Cruise M EIS Wizard (© AVL)

Anwendungsbeispiel

Resultat des beschriebenen Parametrierprozesses ist ein Modell, das in der Lage ist, grundlegende Eigenschaften wie die Leerlaufspannung und Kapazität einer Zelle sowie deren dynamisches Verhalten zu beschreiben. Dieser Prozess wurde für die Zelle des Hyundai Ioniq 5 durchgeführt. Die Zelle wurde geöffnet, vermessen, und die Parameter wurden unter Zuhilfenahme der Parametrier-Wizards generiert.

Bild 6 zeigt die sehr gute Übereinstimmung zwischen simulierten und gemessenen Entladekurven der Zelle. Die Parameterklassifizierung aus Tabelle 1 zeigt außerdem, welche Parameter nachjustiert werden können, sollten die Messdaten unzureichende Qualität haben oder die Genauigkeit des Modells nicht zufriedenstellend sein. Dies sind Parameter mit hoher Sensitivität, die ausschließlich bei dynamischen Prozessen zum Tragen kommen, zum Beispiel die Referenzaustauschstromdichte und der Elektrodendiffusionskoeffizient.

Bild 6
figure 6

Vergleich von simulierten Entladekurven (durchgehende Linien) der Ioniq-5-Zelle im Vergleich zu den Messdaten (gestrichelte Linien) für verschiedene C-Raten und einer Umgebungstemperatur von 20 °C (© AVL)

Zusammenfassung

P2D-Modelle sind ein bewährter Ansatz, um das elektrochemische Verhalten von LIB zu beschreiben. Allerdings benötigen diese allgemein formulierten Modelle rund 40 Parameter, um das gemessene Verhalten einer konkreten Zelle zu reproduzieren. Der vorgestellte sequenzielle Parametrierungsprozess setzt auf Daten geöffneter Zellen und unterstützt durch speziell entwickelte Parametrier-Wizards. Der gesamte Prozess ist in zwei Einzelschritte unterteilt. Zuerst wird auf Basis von Halbzellendaten wie Elektrodenschichtdicke oder Elektrodenleerlaufspannungen eine Basisparametrierung erstellt, mit der die gemessene Leerlaufspannung der Vollzelle durch das Modell wiedergegeben werden kann. Als zweiter Schritt werden mithilfe von Impedanzmessungen der Einzelelektroden die Interkalationskinetik sowie die Elektrodendiffusion parametriert.

Die Reihenfolge dieser Schritte ergibt sich daraus, dass erzeugte Parameter aus Schritt 1 als Eingangsdaten in Schritt 2 benötigt werden. Der gezeigte Parametrierungsablauf demonstriert, dass es möglich ist, erweiterte P2D-Modelle effizient zu parametrieren und damit alle Vorteile von physikalisch interpretierbaren Modellparametern für nachfolgende Simulationsaufgaben zu nutzen.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Ecker, M. et al.: Parameterization of a Physico-Chemical Model of a Lithium-Ion Battery: I. Determination of Parameters. In: Journal of The Electrochemical Society (2015), 162(9): 1836

  2. [2]

    Knaus, O.; Wurzenberger, J. C.: System Simulation in Automotive Industry. In: Hick, H.; Küpper, K.; Sorger, H. (Hrsg.): Systems Engineering for Automotive Powertrain Development. Springer International Publishing, 2020

  3. [3]

    Newman, J. S.; Tobias, C. W.: Theoretical Analysis of Current Distribution in Porous Electrodes. In: The Electrochemical Society (1962), 109(12): 1183

  4. [4]

    Doyle, M. et al.: Modeling of Galvanostatic Charge and Discharge of the Lithium/Polymer/Insertion Cell. In: Journal of The Electrochemical Society (1993), 140(6): 1526

  5. [5]

    Wurzenberger, J., et al.: Low Frequency Impedance Spectroscopy - Modeling Study on the Transferability of Solid Diffusion Coefficients. In: SAE Technical Paper 2023-01-0505, 2023

  6. [6]

    Li, W. et al.: Parameter sensitivity analysis of electrochemical model-based battery management systems for lithium-ion batteries. In: Applied Energy (2020), 269: 115104

  7. [7]

    Chen, C.-H. et al.: Development of Experimental Techniques for Parameterization of Multi-scale Lithium-ion Battery Models. In: Journal of The Electrochemical Society (2020), 167(8): 080534