Einleitung

Ein Delir ist eine akut auftretende Funktionsstörung des Gehirns, einhergehend mit einer Bewusstseins‑, Aufmerksamkeits- und Orientierungsstörung, die sich in einem fluktuierenden Verlauf zeigen kann (National Institute for Health and Care Excellence [NICE] 2010; American Psychiatric Association 2013). Die Ursache für die Entwicklung eines Delirs ist multifaktoriell; die pathophysiologischen Mechanismen sind bislang nicht abschließend geklärt (Spies et al. 2019).

Die Kombination aus prädisponierenden (bestehenden) und präzipitierenden (auslösenden) Risikofaktoren ergibt ein individuelles Delirrisiko für jeden Patienten (Inouye 2006). Die prädisponierenden Risikofaktoren sind ein höheres Lebensalter von 65 Jahren oder älter, vorbestehende neurokognitive Beeinträchtigungen (z. B. Demenz) und weitere Komorbiditäten sowie Schweregrad einer Erkrankung (Inouye et al. 2014; Ahmed et al. 2014). Zu den präzipitierenden Risikofaktoren gehören u. a. Infektionen, iatrogene Eingriffe, delirogene Medikamente (z. B. Benzodiazepine) sowie Intensivtherapie und operative Eingriffe (Zaal et al. 2015; Raats et al. 2016; Inouye et al. 2014; Cull et al. 2012). Der Entwicklung des Delirs wird das Schwellenmodel zugrunde gelegt, sodass die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Delirs durch Kumulation von prädisponierenden als auch präzipitierenden Risikofaktoren steigt. Der Schwellübertritt ist dabei individuell und abhängig vom Risikoprofil der Patienten (Inouye 2006).

Das Delir ist eine häufige Komplikation und kommt auf nichtchirurgischen Akutstationen zwischen 29 und 45 % vor (Inouye et al. 2014; Siddiqi et al. 2006).

Ein Delir ist mit einem funktionellen Rückgang der Selbstständigkeit, einer häufigeren Aufnahme in die Langzeitpflege, vermehrten Stürzen, einer Verlängerung des Krankenhausaufenthaltes und einer erhöhten Mortalität assoziiert (Shi et al. 2012; Robinson et al. 2009; Bickel et al. 2008; Inouye et al. 2014; Sato et al. 2017). Hinzu kommt die Zunahme von sozioökonomischen Kosten für das Gesundheitssystem (Hshieh et al. 2018; Inouye et al. 2014).

Bisher ist wenig bekannt, welche pflegesensitiven Risikofaktoren neben den bereits bekannten prädisponierenden Risikofaktoren im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Delirs stehen. Demzufolge ist es wichtig zu analysieren, welche der bestehenden Risiken, die im Rahmen der pflegerischen Versorgung identifiziert werden, zur Entwicklung des Delirs beitragen können.

Die bereits durch ein abgeschlossenes Projekt vorliegenden Daten boten die Möglichkeit, unterschiedliche Einzelvariablen durch eine erweiterte statistische Analyse auszuwerten (Bergjan et al. 2020).

Zielsetzung

Der Fokus lag auf der Identifikation von prädisponierenden Risikofaktoren sowie deren potenziellen Einfluss auf die Entstehung eines Delirs im Rahmen einer akutstationären Behandlung im Krankenhaus in der Neurologie und Kardiologie.

Methode

Die Berichterstattung der Sekundärdaten folgt den Kriterien der „Standardisierten Berichtsroutine für Sekundärdatenanalysen“ [STROSA-2-Checkliste] (Swart et al. 2016). Der Ausgangspunkt der hier ausgeführten Sekundärdatenanalyse war die Validierung zweier Screeninginstrumente zur Identifikation von Patient*innen mit Delir (Bergjan et al. 2020). Das Screening erfolgte einmal pro Schicht durch die Pflegenden der Stationen für den gesamten Krankenhausaufenthalt. Bei positiven Testergebnissen mittels des Screeninginstruments – der Nursing Delirium Screening Scale [Nu-DESC] (Gaudreau et al. 2005; Luetz und Radtke 2008; Jeong et al. 2020) und/oder der Delirium Observation Screening Scale [DOS] (Schuurmans et al. 2003; van Velthuijsen et al. 2016) erfolgte die Delirdiagnostik anhand des Goldstandards der 5. Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ [DSM-5] (American Psychiatric Association 2013) durch den ärztlichen Dienst der neurologischen Klinik.

Studiendesign der Sekundärdatenanalyse

In diese Sekundärdatenanalyse (retrospektive Fall-Kontroll-Studie) einer prospektiven Diagnosestudie sind im Zeitraum vom Mai bis August 2018 alle konsekutiv aufgenommen Patient*innen auf 3 Stationen (Neurologie, Stroke Unit, Kardiologie) an einem Krankenhaus der Maximalversorgung mit universitärem Auftrag eingeschlossen worden.

Datenschutz

Die Verarbeitung der personenbezogenen Gesundheitsdaten auf Grundlage von Routinedaten hat unter der Berücksichtigung der EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) stattgefunden. Die Datenanalyse erfolgte entsprechend den Vorgaben des Ethikantrags (EA4/202/17).

Stichprobe

Die Stichprobe bestand aus 698 von 745 Patient*innen ≥ 65 Jahren. Ausgeschlossen wurden 47 Patient*innen, bedingt durch fehlende oder fehlerhafte Datensätze, eine Verweildauer von mehr als 20 Tagen (aufgrund der Nachverfolgbarkeit) oder Patient*innen, die sich im terminalen Stadium des Lebens befanden. Für diese Arbeit wurden die Einzelfalldaten der Patient*innen berücksichtigt.

Erfasste Variablen und Datensammlung

Folgende klinisch relevanten Routinedaten wurden von Pflegenden der Stationen entsprechend den hausinternen Vorgaben innerhalb von 6 h nach Aufnahme erfasst: Alter (in Jahren) und Geschlecht (männlich/weiblich). Das Dekubitusrisiko (bestehender Dekubitus, eingeschränkte Mobilität, eingeschränkte Aktivität und körpernahe medizinische Gegenstände) und das Sturzrisiko (Sturz im vergangenen Jahr, eingeschränkte Mobilität, eingeschränkte Aktivität, Gangstörung, Nutzung einer Gehhilfe, Urininkontinenz/Nykturie, Störung der Orientierung/Kognition, Psychopharmaka/Sedativa oder die spezifischen medizinischen Diagnosen Synkope, Epilepsie, transitorische ischämische Attacke und Huntington-Chorea) sind nach den Empfehlungen der Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualität in der Pflege ermittelt worden (Blumenberg et al. 2015, 2017; Hauss et al. 2016).

Eingeschränkte Mobilität, als gemeinsamer Risikofaktor für das Dekubitus- und Sturzrisiko, ist nach der Selbstständigkeitsskala nach Jones (Stefan und Allmer 2000) als die Hilfestellung bis Übernahme durch Pflegepersonal definiert worden. Die Definition von Immobilität erfolgte als die Unfähigkeit für häufige oder signifikante selbstständige Positionsänderung im Bett.

Des Weiteren ist erfasst worden, ob Patient*innen einen Versorgungsbedarf hinsichtlich Seh- und Höreinschränkungen aufwiesen, und ob bei der Aufnahme auf die Station eine Störung der Orientierung (Zeit, Ort und Person) vorlag. Überdies sind die Aufnahmetage in das Krankenhaus, auf die Station und der Tag der Entlassung von der Station dokumentiert worden, sodass Angaben zur Verweildauer der Patient*innen auf den jeweiligen Stationen getroffen werden konnten. Die Erfassung der Aufnahmediagnosen erfolgte in Anlehnung an die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme [ICD-10-GM] (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [BfArM] 2020).

Für die Sekundärdatenanalyse wurde der gesamte Datensatz der Diagnosestudie berücksichtigt. Alle relevanten Variablen sind standardisiert erfasst worden. Es erfolgte eine Plausibilisierung des Datensatzes anhand der digitalen und papiergestützten Primärdokumentation.

In Sinne eines Selektionsbias sei zu erwähnen, dass die Patient*innen ohne und mit Delir aus dem gleichen Behandlungszeitraum von den identischen Stationen stammen.

Statistische Analysen

Die statistischen Auswertungen erfolgten in Abhängigkeit der untersuchten Variablen mittels Kreuztabellen („odds ratios“ [OR]) und Chi-Quadrat-Test (prädisponierende Risikofaktoren und Geschlecht) oder Mann-Whitney-U-Test (Alter und Verweildauer). Zudem wurde der Zusammenhang der einzelnen Variablen durch die Zusammenhangsstärke mittels Chi-Quadrat-Tests und Cramers V berechnet. Als inferenzstatistisches Verfahren zur Identifikation einer möglichen Kumulation an Einflussfaktoren auf ein Delir wurde die binär logistische Regressionsanalyse mittels der Einschlussmethode gewählt. Die Auswahl der 3 Variablen für das Modell erfolgte unter Berücksichtigung der Zusammenhangsstärke als auch der Tatsache, dass der gemeinsame Faktor „eingeschränkte Mobilität“ sowohl für das Dekubitus- und Sturzrisiko spricht sowie sich in der Immobilität widerspiegelt.

Das Effektstärkenmaß ist für die multiple Korrelation nach Cohen (Cohen 1988) angegeben. Für den „α“-Fehler wurde ein Wert von 5 % angenommen. Die deskriptiven und inferenzstatistischen Analysen sind mit IBM SPSS Version 25 und Microsoft Excel 2016 durchgeführt worden.

Ergebnisse

Stichprobencharakteristik

Die 698 eingeschlossenen Patient*innen waren im Durchschnitt 78 Jahre alt. Das weibliche Geschlecht war mit 50,3 % vertreten, und die mittlere Verweildauer lag bei 4 Tagen. Die meisten Patient*innen wurden mit Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems aufgenommen (60,2 %; n = 420). Die größte Gruppe der Herz-Kreislauf-Erkrankten waren Patient*innen mit zerebrovaskulären Erkrankungen (I60–63) (26,4 %; n = 184), sonstige Formen der Herzkrankheiten (I30–I52) (21,6 %, n = 151) und ischämische Herzkrankheiten (I20–25) (12,2 % n = 85). Die weiteren Aufnahmediagnosen verteilten sich auf Augen- und Anhangserkrankungen, Erkrankungen des Nervensystems, Symptome, Anzeichen und abnorme klinische und labortechnische Befunde, soweit nicht anderweitig klassifiziert und Erkrankungen der Atemwege (Bergjan et al. 2020).

In dem gesamten Beobachtungszeitraum entwickelten 63 Patient*innen (9,02 %) ein Delir, 39 ein gemischtes, 17 ein hyperaktives und 7 Patient*innen ein hypoaktives Delir.

Weitere Informationen zur Stichprobecharakteristik gehen aus der Tab. 1 hervor; es erfolgte eine Unterscheidung zwischen Patient*innen ohne und mit Delir.

Tab. 1 Stichprobecharakteristik Delir ja/nein

Risikofaktoren für ein Delir

Sowohl die Ergebnisse der Berechnung der Zusammenhangsstärke als auch der Bestimmung der OR mithilfe von Kreuztabellen (Tab. 2) zeigen einen möglichen Zusammenhang auf, der mit der Entstehung eines Delirs einhergeht. Die statistischen Berechnungen der im Kontext der pflegerischen Versorgung erfassten Risikofaktoren für ein Delir, unterteilt nach Patient*innen ohne und mit Delir, zeigt Tab. 2.

Tab. 2 Prädisponierende Risikofaktoren

Das „Dekubitusrisiko“ (Chi2 [1] = 61,9, n = 644, Cramers V = 0,310, p < 0,001), das „Sturzrisiko“ (Chi2 [1] = 32,3, Cramers V = 0,224, n = 644, p < 0,001), die „Orientierungsstörung“ (Chi2 [1] = 105,8, Cramers V = 0,394, p < 0,001), die „eingeschränkte Mobilität“ (Chi2 [1] = 92,9, n = 693, Cramers V = 0,366, p < 0,001), die „Immobilität“ (Chi2 [1] = 104,7, n = 644, Cramers V = 0,403, p < 0,001) und das „Alter“ (Chi2 [1] = 70,09, Cramers V = 0,317, n = 698, p < 0,001) stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Entstehung eines Delirs.

In der binär logistischen Regressionsanalyse zeigte sich, dass sowohl das Modell als Ganzes (Chi2 [3] = 113,45 p < 0,001, n = 678) als auch die Kumulation der Risikofaktoren eingeschränkte Mobilität, Orientierungsstörung und Alter mit der Entwicklung eines Delirs in Verbindung stehen (Tab. 3). Das R‑Quadrat für das Modell nach Nagelkerke beträgt 0,348, was für einen starken Effekt spricht (Cohen 1992).

Tab. 3 Regressionsanalyse

Diskussion und Schlussfolgerung

Eine der größten Herausforderungen bei der Identifikation von Delirrisiken besteht darin, die individuellen Unterschiede zweier Patient*innen in der Delirentwicklung auf Basis des Schwellkonzeptes zu beschreiben.

Aufgrund der Fülle an Risikofaktoren (Cull et al. 2012; Ahmed et al. 2014), die im Kontext des Delirs stehen, ist es herausfordernd festzustellen, welche Risikofaktoren in direktem Zusammenhang stehen, oder ob die Kumulation von Risikofaktoren die Entstehung eines Delirs begünstigt.

Nach den Ergebnissen der vorliegenden Studie erhöhen Hochaltrigkeit, Dekubitusrisiko, Sturzrisiko, Orientierungsstörung, eingeschränkte Mobilität und Immobilität die Wahrscheinlichkeit der Entstehung eines Delirs.

In der binär logistischen Analyse zeigte sich, dass die Kumulation aus Alter, Orientierungsstörung und eingeschränkter Mobilität in einem statistischen Zusammenhang mit der Entwicklung des Delirs stehen, sodass diese 3 Faktoren als die relevantesten Risiken angesehen werden können. Der sich im Modell aufzeigende statistische Zusammenhang ist nicht gleichbedeutend für Kausalität, nichtsdestotrotz liefert das Ergebnis einen Beitrag zur kausalen Hypothesenbildung.

Die Einschränkung der Mobilität als gemeinsamer Faktor für das Dekubitus- und Sturzrisiko ist durch Präventionsmaßnahmen beeinflussbar (Hshieh et al. 2018; Siddiqi et al. 2016). Ein weiterer Faktor, der sich in der Analyse als pflegespezifisch beeinflussbar gezeigt hat, ist das Sturzrisiko; hier besteht ein Zusammenhang in der Analyse. Aufgrund der klinischen Relevanz im Kontext des Delirs sollte ebenfalls auf das Sturzrisiko geachtet werden (Sillner et al. 2019). In den Metaanalysen und Übersichtsarbeiten zu nichtpharmakologischen Präventionsmaßnahmen wird ersichtlich, dass Delirprävention auch Sturzprävention bedeutet (Hshieh et al. 2018; Siddiqi et al. 2016; Abraha et al. 2015).

Zusammenfassend hat diese Sekundärdatenanalyse gezeigt, dass neben den klassischen prädisponierenden Risikofaktoren auch pflegesensitive Risikofaktoren einen möglichen Einfluss auf die Entwicklung eines Delirs haben. Besonderes Augenmerk ist geboten, wenn hochbetagte Patient*innen mit eingeschränkter Mobilität und Orientierungsstörung in das Krankenhaus aufgenommen werden oder eine temporäre Einschränkung der Mobilität im Rahmen notwendiger Therapien (z. B. Operationen) unumgänglich wird.

Implikation für die Praxis

Betagte und hochbetagte Patient*innen mit einer eingeschränkten Mobilität und Orientierungsstörung bei Aufnahme in ein Krankenhaus haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein Delir zu entwickeln.

Implikation für die Forschung

In zukünftigen Studien wäre es wünschenswert, wenn zu den bekannten Risikofaktoren auch pflegesensitive (z. B. Mobilität) berücksichtigt werden.

Limitationen

Aufgrund des klar eingegrenzten Spektrums der Patient*innen lässt sich aus den Ergebnissen nur eine eingeschränkte allgemeingültige Aussage für Patient*innen in der akutstationären Behandlung im Krankenhaus treffen. Hinzu kommt die hausinterne Herangehensweise der systematischen Ermittlung von Dekubitus- und Sturzrisiko sowie Mobilität, die zwar auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse stattfindet, aber keiner bis zum aktuellen Zeitpunkt systematischen und wissenschaftlichen Prüfung unterzogen worden ist. Zudem stellt die Auswahl an Risikofaktoren, die in dieser Studie identifiziert worden sind, keine vollständige Liste aller möglichen Risikofaktoren, die mit einem Delir in Beziehung stehen können, dar. Dies ist der Stichprobengröße geschuldet, die eine Begrenzung der Variablen für das Modell vorsieht.

Fazit

Die in dieser Studie identifizierten pflegesensitiven Risikofaktoren sind ein weiterer Baustein zur Identifikation von Risikopatient*innen für ein Delir im Krankenhaus. Zusätzlich unterstreichen die Ergebnisse den Stellenwert der nichtpharmakologischen Präventionsmaßnahmen.