Zusammenfassung
Hintergrund
Neuere Studienergebnisse zeigen, dass Sturzereignisse in Pflegewohnheimen bisher nicht in ausreichendem Maße verhindert werden können. Der Zusammenhang zwischen Sturzereignissen sowie Mobilitätseinschränkungen, Erkrankungen und Body-Mass-Index (BMI) wurde für jeden Faktor bisher einzeln beschrieben; eine komplexere Analyse fehlt.
Ziel
Ziel dieser Studie ist es, neben der Sturzinzidenz, Sturzprädiktoren in deutschen Pflegewohnheimen zu ermitteln. Die Untersuchung fokussiert auf das Vorliegen möglicher Sturzprädiktoren von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen ab 65 Jahren und versucht, evtl. vorhandene, besonders vulnerable Personengruppen zu identifizieren.
Material und Methode
Querschnittserhebung mit 2427 Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen im 3. und 4. Lebensalter aus 17 deutschen Pflegewohnheimen im Untersuchungszeitraum von 2014 bis 2016. Es wurden umfangreiche Daten zur Mobilität, zu Erkrankungen und BMI sowie zur Versorgung mit Mobilitätshilfsmitteln erhoben und statistisch ausgewertet. Zur Ermittlung multivariater Zusammenhänge wurde ein „classification and regression tree“ angewendet.
Ergebnisse
Die Gruppe der Proband*innen stellt sich mit einem Median von 85 Jahren und einem Frauenanteil von 73,8 % dar. Im Erhebungszeitraum von 2014 bis 2016 stürzten 5,5 % der Pflegeheimbewohner*innen. Als mögliche Prädiktoren für Sturzereignisse konnten Einschränkungen in mehreren spezifischen komplexen Bewegungsabläufen sowie ein geringer BMI ≤21,5 kg/m2 ermittelt werden. Die Gruppe der Pflegeheimbewohner*innen mit geringem BMI zeigt Einschränkungen in anderen Bewegungsabläufen als Pflegeheimbewohner*innen der Gruppe, die einen BMI >21,5 kg/m2 aufweisen. Pflegeheimbewohner*innen mit diesen Merkmalen wurden als besonders vulnerable Gruppen identifiziert.
Schlussfolgerung
Da die Einschätzung des Sturzrisikos von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen auf Basis bisheriger Risikofaktoren nur teilweise erfolgreich erfolgt, scheint die Anwendung geeigneter Testverfahren zur Bestimmung der Mobilität und des BMI angezeigt, um das Sturzrisiko von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen belastbar bestimmen und geeignete Maßnahmen ergreifen zu können.
Abstract
Background
The results of recent studies showed that falls in nursing homes cannot be sufficiently prevented. The correlation between falls as well as restriction in mobility, diseases and body mass index (BMI) were so far individually described for each factor but a more complex analysis is lacking.
Aim
The aim of this study was to determine fall predictors in German nursing homes in addition to the incidence of falls. The study focused on the presence of possible fall predictors of nursing home residents aged 65 years and over and attempted to identify any particularly vulnerable groups of persons.
Material and methods
Overall, 2427 residents living in 17 German nursing homes starting from the age of 65 years were part of a cross-sectional study between 2014 and 2016. Comprehensive data on mobility, supply of walking aids, diseases and BMI were documented and statistically evaluated. A classification and regression tree was used to determine multivariate relationships.
Results
The group of participants had a median age of 85 years and a proportion of women of 73.8%. During the survey period 5.5% of the residents fell. As possible predictors for fall events, restrictions in several specific complex movement sequences as well as a low BMI of ≤21.5 kg/m2 could be determined. The group of nursing home residents with a low BMI showed restrictions in other movement sequences than nursing home residents in the group with a BMI >21.5 kg/m2. Nursing home residents with these characteristics were identified as particularly vulnerable groups.
Conclusion
The assessment of the risk of falling of nursing home residents on the basis of previous risk factors seems to be only partially successful. Therefore, the application of suitable test procedures to determine mobility and the BMI appears to be appropriate in order to be able to determine the risk of falling of nursing home residents in a reliable manner and to take appropriate measures.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Hintergrund
Viele ältere und alte Menschen haben aufgrund der mit dem Alterungsprozess zu erwartenden physiologischen und funktionellen Veränderungen ein erhöhtes Sturzrisiko (Runge und Hunter 2006). So zählen Beeinträchtigungen der sensomotorischen Funktionen oder der Balancefähigkeit ebenso zu Sturzrisikofaktoren wie Sturzerfahrungen von betroffneen Personen (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege 2013). Die in der Literatur genannten Faktoren wie kognitive Beeinträchtigungen, Gang- und Gleichgewichtsstörungen, Schwäche, Schwindel und Verwirrung (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege 2006) spielen ebenso eine Rolle für die Inzidenz von Sturzereignissen wie Kontinenzprobleme, Sehbeeinträchtigungen sowie Sturzangst und eine Sturzvorgeschichte. Weiterhin wird u. a. nach Schmid et al. ein schlechter Ernährungszustand mit einem erhöhten Sturzrisiko assoziiert (Schmid et al. 2002). Die European Society for Clinical Nutrition and Metabolism bezeichnet den Ernährungszustand älterer Personen als wichtigen Regulator von Gesundheit und Wohlbefinden (Volkert et al. 2018).
Internationale Studien zeigen, dass Pflegeheimbewohner*innen mit durchschnittlich 1,7 Stürzen/Jahr häufiger stürzen als Bewohner*innen mit durchschnittlich 0,6 Stürzen/Jahr, die in Wohngemeinschaften leben (Rubenstein et al. 1994). Eine Publikation aus dem Jahre 2013 von Burland et al. (2013) zeigt eine adjustierte Sturzrate von 1,54-2,24/Pflegeheimbewohner*in und Jahr. Im Jahr 2004 publizierten Kerse et al. eine mittlere Sturzrate von 2,3 Stürzen/Jahr und Bewohner in stationären Settings (Kerse et al. 2004). Stürze stellen in Deutschland nicht nur die häufigste Unfallursache dar; das Risiko zu stürzen steigt auch mit zunehmendem Alter an (Varnaccia und Rommel 2013). So stürzen jährlich fast ein Drittel der 65-Jährigen bis 79-Jährigen sowie die Hälfte der 80-Jährigen und Älteren (Saß et al. 2009). In der vorliegenden Studie lassen sich Sturzereignisse, gemäß der Internationalen Klassifikation für die Pflegepraxis (ICNP®), als ein „[…] Fallen des Körpers von einem höheren zu einem niedrigeren Niveau durch ein gestörtes Gleichgewicht des Körpers in verschiedenen Positionen zu halten“ definieren (International Council of Nursing 2003). Aufgrund der Vielzahl von Risiken werden ältere Menschen mit bekannten Mobilitätseinschränkungen oder Sturzrisiken in Deutschland häufig mit Gehhilfsmitteln zur Mobilitätsunterstützung versorgt. Hierzu zählen auf Basis des Hilfsmittelverzeichnisses des GKV Spitzenverbandes (Gesetzliche Krankenkassen Spitzenverband) Gehstöcke, Unterarmgehstützen, Gehböcke und Rollatoren, die in verschiedenen Sprzifikationen bekannt sind (GKV Spitzenverband 2019). Die Versorgung mit Mobilitätshilfsmitteln soll dazu beitragen, Risikofaktoren in der Mobilität älterer und hochaltriger Menschen zu minimieren sowie Sturzereignisse zu verhindern (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege 2013).
Im Mittelpunkt dieser Publikation stehen daher die Fragestellungen:
-
Wie hoch ist die Sturzinzidenz in deutschen Pflegewohnheimen?
-
Existieren Prädiktoren für Stürze bei Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen, und welche sind dies?
-
Mit welchen Hilfsmitteln sind die Pflegeheimbewohner*innen am häufigsten versorgt?
Methodik
Studiendesign und Setting
Es wurden multizentrische Querschnittserhebungen in den Jahren 2014, 2015 und 2016 mit Bewohnern/Bewohnerinnen (≥65 Jahren) deutscher Pflegewohnheime durchgeführt. Das positive Ethikvotum der Ärztekammer Berlin (Eth-837-262/00) lag zu Beginn der Querschnittsstudie vor.
Datenerhebung
In Vorbereitung auf die Datenerhebung mittels Fragebogen wurden Pflegefachkräfte auf Grundlage standardisierter schriftlicher und digitaler Schulungsunterlagen, u. a. eines Schulungsleitfadens, von Multiplikatoren zur Datenerhebung befähigt. Multiplikatoren waren in der Regel die Pflegedienstleitungen oder Qualitätsbeauftragten der Pflegewohnheime, die eine grundständige Ausbildung zur examinierten Pflegefachkraft absolviert hatten. Die Datenerhebung erfolgte ausschließlich nach informierter Zustimmung der/des Pflegeheimbewohnerin/Pflegeheimbewohners oder deren/dessen gesetzlichen Betreuer*in. Die in den Pflegewohnheimen arbeitenden Pflegefachkräfte erhoben auf Basis standardisierter schriftlicher Erhebungsbogen neben soziodemografischen Daten und pflegerelevanten Daten auch Diagnosen, Body-Mass-Index (BMI) sowie Daten zu Mobilität, Versorgung mit Mobilitätshilfsmitteln und Sturzhäufigkeit. Das Mobilitätsvermögen wurde mittels standardisierten und validierten Assessments, Elderly Mobility Scale (EMS) und Fullerton Advanced Balance Scale (FAB), erhoben (Rose et al. 2006).
Die Ermittlung soziodemografischer und pflegerelevanter Daten erfolgte neben Befragung der Pflegeheimbewohner*innen ergänzend aus der Bewohnerdokumentation. Die ausgefüllten Erhebungsbogen wurden postalisch an das durchführende Institut gesendet und dort eingelesen, überprüft und ausgewertet. Im Rahmen des Surveys wurde auf eine Fallzahlkalkulation verzichtet.
Untersuchungsgegenstand
Eingeschlossen in die Analyse wurden Pflegeheimbewohner*innen im 3. und 4. Lebensalter, also die 65- bis 84-Jährigen und die ≥85-Jährigen. Die Alterseinteilung erfolgte gemäß Böhm et al. (2009). Demnach befinden sich Menschen im Alter von 65 bis 84 Jahren im Altersabschnitt 3. Lebensalter bzw. gelten als die jungen Alten. Menschen ab 85 Jahren wurde der Begriff der alten zugeordnet, diese befinden sich im 4. Lebensalter. Als abhängige Variable wurde die Anzahl der Sturzereignisse innerhalb des Pflegewohnheims der letzten 14 Tage vor Erhebung – sowohl per Frage an die/den Pflegeheimbewohner*in als auch aus der Bewohnerdokumentation – erfasst. Die vorgegebene Definition des Sturzereignisses wird in der internationalen Pflegepraxis verwendet und wurde über den Schulungsleitfaden für ein gemeinsames Verständnis vorgegeben. Weiterhin wurde das Mobilitätsvermögen mit den beiden Mobiltätsassessments EMS und FAB erfasst. Das angewendete Mobilitätsassessment EMS wurde von Smith et al. (1994) in den 1990er-Jahren entwickelt, ist als Standardinstrument anerkannt und ist mit den, in der Pflege etablierten, Assessments Barthel-Index und Functional Independence Measure validiert (Nolan et al. 2008). Die EMS misst das Mobilitätsvermögen älterer gebrechlicher Menschen anhand 7 Items, die auf komplexe Bewegungsabläufe fokussieren. Mit der EMS werden u. a. die Fertigkeiten/Fähigkeiten Transfer, Stand und Gehen erfasst und mit einem Gesamtscore von max. 20 Punkten abgebildet.
Die FAB ist ein 10-Punkte-Testwerkzeug und bewertet verschiedene Dimensionen der Balancefähigkeit und wurde explizit für ältere Erwachsene entwickelt. Die Leistung jedes Probanden (wie z. B. bei dem Item „stehend nach vorn beugen“) wird anhand einer 5‑Punkte-Ordinalskala (0–4) mit einer maximalen Punktzahl von 40 Punkten bewertet. Die 5‑Punkte-Ordninalskala erstreckt sich von 0 Punkten (der Betreffende kann die Aufgabe nicht erledigen) bis 4 Punkten (der Betreffende löst die Aufgabe ohne Probleme).
Weiterhin wird der BMI als unabhängige Variable auf Sturzereignisse untersucht. Obwohl der BMI als ausschließlich angewendetes Kriterium zur Bewertung einer Mangelernährung nicht ausreicht, wurde der BMI 20 kg/m2 als kritisch für Menschen unter 70 Jahren bzw. 22 kg/m2 über 70 Jahre gemäß dem Consensus Statement 2015 der European Society of Clinical Nutrition and Metabolism definiert (Cederholm et al. 2015).
Der Begriff Prädiktor beschreibt in der vorliegenden Querschnittsstudie das Maß der Assoziativität.
Datenanalyse
Die statistische Analyse erfolgte mittels SPSS Statistics 25.0. Im Rahmen der deskriptiven Analyse wurden für alle kategorialen Daten Häufigkeiten berechnet, für alle intervallskalierten Daten nach Testung auf Normalverteilung der Median oder Mittelwert sowie Standardabweichungen berechnet. Für Sturzhäufigkeiten wurde für die jeweiligen Studienjahre 2014, 2015 und 2016 zusätzlich das Konfidenzintervall mittels Bootstrap bestimmt. Für den multivariaten Zusammenhang zwischen Sturz, als abhängige Variable, und verschiedenen unabhängigen Variablen wurde ein „classification and regression tree“ (CRT) nach Breimann et al. (1984) berechnet. Es wurden folgende unabhängige Variablen in die Berechnung eingegeben: Alter, BMI, Geschlecht, Erkrankungen (Diabetes mellitus, psychische Erkrankungen, Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems, Erkrankung des Bewegungsapparates, onkologische Erkrankungen und Demenz), Mobilitätshilfsmittel (Rollator und Rollstuhl) und folgende Items der EMS: vom Sitzen in den Stand, stehen, Gang, aus dem Liegen ins Sitzen, aus dem Sitzen ins Liegen sowie Zeit für Gehstrecke von 6 m und stehend nach vorn beugen. Die Validierung erfolgte mittels Kreuzvalidierung. Die „variable importance“ wurde unter der Zuhilfenahme von „random forest“ berechnet. Die einzelnen Bäume basieren auf „bootstrap samplings“. Die Variablen jedes Splittings werden hinsichtlich des Ausmaßes der Prädiktabilität über alle Bäume errechnet.
Fehlende Daten wurden aus bi- und multivariaten Analysen ausgeschlossen.
Ergebnisse
In den Jahren 2014–2016 wurden im Rahmen der Erhebung n = 2427 Probanden ab einem Alter von 65 Jahren untersucht. Bei nichtvorliegender Normalverteilung des Alters lag der Median bei 85 Jahren. Der Frauenanteil betrug 73,8 %. Innerhalb der Gesamtkohorte befanden sich 1114 Teilnehmer*innen im 3. Lebensalter und 1313 im 4. Lebensalter.
Bei den Pflegeheimbewohner*innen lagen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Demenz und Erkrankungen des Bewegungsapparates als häufigste Komorbiditäten vor (Abb. 1).
Die 2427 Pflegeheimbewohner*innen waren mit 2088 Mobilitätshilfsmitteln versorgt. Es lag teilweise eine Mehrfachversorgung vor. Nur ein kleiner Anteil von 14 % (n = 339) der Pflegeheimbewohner*innen war nicht mit einem Mobilitätshilfsmittel versorgt. Die Verteilung nach Art der Hilfsmittel stellt sich in Abb. 2 dar.
Deutlich wird, dass die Mobilitätshilfsmittel in Pflegewohnheimen, bezogen auf die Art des Hilfsmittels, ungleich verteilt sind. Ein Großteil der Pflegeheimbewohner*innen ist mit einem Rollator (42,6 %) und/oder mit einem Rollstuhl (45,2 %) versorgt. Es wurden 1033 Rollatoren und 1098 Rollstühle erfasst.
Im Erhebungszeitraum stürzten, von 2387 gültigen Fällen, 132 Pflegeheimbewohner*innen. Das ist eine Sturzinzidenz von 5,5 %. Innerhalb der Gruppe der jungen Alten (65 bis 84 Jahre) stürzten 5,1 % und innerhalb der Gruppe alten (ab 85 Jahre) stürzten 5,9 % mindestens einmal. Die Anzahl der Stürze innerhalb von 14 Tagen vor dem Erhebungszeitpunkt ist, nach Altersgruppe und Kalenderjahren differenziert, in Abb. 3 dargestellt (siehe).
Die Berechnung des CRT (Breimann et al. 1984) zeigt die unabhängigen Variablen vom Sitzen in den Stand sowie Gehen und stehend nach vorn strecken (Items der EMS) und BMI als Prädiktoren bei einer max. Baumtiefe von 5 Ebenen. Aus 19 unabhängigen Variablen wurden 12 mit einer normalisierten Wichtigkeit errechnet. Diese liegt bei den 4 stärksten unabhängigen Variablen zwischen 22,7 % für den BMI und 100 % beim Aufstehen vom Sitzen in den Stand (Abb. 4).
Für die Variable Sturzereignis zeigt sich die unabhängige Variable der EMS vom Sitzen in den Stand als stärkster Prädiktor. Hier stürzten unter der Ausprägung „benötigt Hilfe einer Person; unabhängig in mehr als 3 s“ 7,3 % der Pflegeheimbewohner*innen. Für den zweitstärksten Prädiktor – den BMI – errechnet der CRT einen „Cut-off“-Wert von 21,5 kg/m2. Von den Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen, die zum Erhebungszeitpunkt einen BMI ≤21,5 kg/m2 aufwiesen, stürzte jede/jeder Zehnte (10,2 %). Noch häufiger, mit einem Anteil von 22,4 %, stürzten Pflegeheimbewohner*innen, wenn zu den Mobilitätslimitationen beim Aufstehen und zu dem geringen BMI ein Unterstützungsbedarf beim Erreichen von Gegenständen im Stand hinzukommt. Unter den 1155 Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen, die einen BMI ab 21,5 kg/m2 aufwiesen und eine Gehstrecke von 6 m in bis zu 30 s bewältigten, zeigen sich Sturzereignisse in Höhe von 6,8 %. Die Variable vom Sitzen in den Stand zeigt sich bei diesen Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen erneut sturzprädiktiv. Liegt hier ein Unterstützungsbedarf durch eine Person vor, und können diese Pflegeheimbewohner*innen dann ohne Unterstützung stehen, steigt der Anteil der gestürzten Pflegeheimbewohner*innen auf 11,2 %.
Komorbiditäten wie Diabetes mellitus, Schlaganfall, Demenz, onkologische Erkrankungen sowie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Bewegungsapparates konnten als Prädiktoren für Sturzereignisse nicht identifiziert werden. Ebenfalls konnten das Alter sowie die Mobilitätshilfsmittel Rollator und Rollstuhl als Prädiktoren für Sturzereignisse nicht identifiziert werden.
Diskussion
Die vorliegende Studie untersuchte den Zusammenhang der Sturzhäufigkeit in deutschen Pflegewohnheimen und Sturzprädiktoren sowie die Versorgung mit Mobilitätshilfsmitteln von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen. Damit leistet diese Untersuchung einen Beitrag zur Beleuchtung von Sturzereignissen in deutschen Pflegewohnheimen. Die ermittelte Sturzinzidenz von 5,5 % bettet sich in, die in den Vorjahren erhobenen, Sturzinzidenzen deutscher Pflegewohnheime ein. So lag diese im Jahr 2011, bei einer deutschlandweiten Prävalenzerhebung mit ähnlicher Methodik, in Pflegewohnheimen bei 6 % (Kottner und Dassen 2011). Bei Studien mit gleicher Methodik in den Jahren 2006 und 2010 lag die Sturzinzidenz bei 3,9 und 4,9 % und liegt damit für die vorliegende Studie der Jahre 2014–2016 nur unwesentlich höher (Lahmann et al. 2001).
Ähnlich wie die Sturzinzidenz lässt sich auch die Versorgung mit Mobilitätshilfsmittel in vergleichbare Studien einordnen. Mit einem Vorkommen von 42,6 % Rollatoren und 45,2 % Rollstühlen sind die Pflegeheimbewohner*innen in der vorliegenden Erhebung für Pflegewohnheime üblich versorgt (Lahmann et al. mit 44,9 % eingesetzten Mobilitätshilfsmittel in Pflegewohnheimen der Jahre 2006 bis 2013).
Die Ergebnisse zu Prädiktoren von Sturzereignissen, wie das Aufstehen aus dem Sitzen in den Stand und ein BMI ≤21,5 kg/m2 lassen sich in die Metaanalyse von Deandrea et al. (2010) einordnen. In dieser stürzen Pflegeheimbewohner*innen mit niedrigem BMI im Vergleich zu Bewohnern mit mittlerem bzw. hohem BMI 1,2-fach häufiger. Ebenso zeigen Deandrea et al. einen Zusammenhang zwischen limitierter „physical activity“ und Sturzereignissen auf.
Der rechnerisch als stärkster Prädiktor identifizierte komplexe Bewegungsablauf Aufstehen (vom Sitzen in den Stand) lässt sich in das systematische Literaturreview zu Sturzrisikofaktoren in stationärem Wohnen für ältere Menschen (ab 65 Jahren) von Sousa et al. einfügen (Sousa et al. 2016).
Die identifizierten Prädiktoren zeigen 2 vulnerable Gruppen von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen. Beide Gruppen haben gemeinsam, dass Pflegeheimbewohner*innen mehr als 3 s zum Aufstehen aus dem Sitzen benötigen. Bei der ersten vulnerablen Gruppe handelt es sich um Pflegeheimbewohner*innen, die sehr schlank oder auch mangelernährt sind und beim Greifen nach vorn eine limitierte Reichweite aufweisen. Die Pflegeheimbewohner*innen, die eine zweite vulnerable Gruppe bilden, weisen zum einen einen BMI ab 21,5 kg/m2 auf und können zum anderen eine Gehstrecke von 6 m bewältigen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sturzinzidenz zum einen eindeutig mit Einschränkungen der drei komplexen Bewegungsabläufe aufstehen aus dem Sitzen in den Stand, im Stehen nach vorn beugen und unabhängig gehen sowie mit dem BMI assoziiert sind.
Die pflegerische Praxis zielt in der Regel darauf ab, durch die Bestimmung des Sturzrisikos und den spezifischen Einsatz sturzpräventiver Maßnahmen Einfluss auf das Auftreten oder zumindest die Anzahl von Sturzereignissen zu nehmen. Der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege konstatiert, nach Literaturanalyse und Diskussion in der Expertengruppe, dass „[…] die bisher entwickelten Assessmentinstrumente zur Bewertung des Sturzrisikos keine Ergebnisse liefern, anhand derer sturzgefährdete Patienten und Bewohner zweifelsfrei identifiziert werden können“ (Böhm et al. 2009).
Hier zeigen sich Chancen für Pflegefachkräfte, das Sturzrisiko von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen belastbarer zu ermitteln.
Limitationen
Da die Pflegekräfte und Pflegeheimbewohner*innen freiwillig an der Querschnittserhebung teilgenommen haben, kann ein doppelter Selektionsbias nicht ausgeschlossen werden. Möglich ist, dass sich bevorzugt Leitungskräfte von Pflegewohnheimen mit Interesse an Forschung oder einem überdurchschnittlichen Interesse an Qualitätsentwicklung beteiligten.
Obwohl demografische Ähnlichkeiten mit der Gesamtpopulation existieren, kann eine grundsätzliche Übertragbarkeit auf diese – u. a. aufgrund der freiwilligen Teilnahme – nicht bestätigt werden.
Das in der Studie eingesetzte Assessment EMS wurde bisher in der Literatur auf die Interrater-Reliabilität zwischen Physiotherapeuten untersucht. Untersuchungen zur Interrater-Reliabilität zwischen Pflegefachkräften liegen nicht vor.
Ein „overfitting“ ist mit 19 unabhängigen Variablen nicht auszuschließen. Die Variablen „Sturzanamnese“ und „Polypharmazie“ wurden aufgrund unvollständiger Daten nicht in den CRT einbezogen.
Fazit
Unter Betrachtung der vorliegenden Analyse scheinen bisher angewendete Assessments bzw. pflegefachliche Einschätzungen, Sturzrisiken von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen nur unzureichend abzubilden.
Nach dieser Untersuchung scheinen Pflegekräfte die Mobilitätstests „stand up test“ und „forward reach test“ sowie den BMI zu benötigen, um zu einer belastbareren Einschätzung des Sturzrisikos von Pflegeheimbewohnern/Pflegeheimbewohnerinnen zu gelangen.
Mit dem Einsatz der, in der Physiotherapie seit Langem etablierten, „stand up test“ und „forward reach test“ sowie dem ermittelten BMI könnte sich, nach aktueller Erkenntnis, mit geringem Aufwand ein großer Nutzen für Pflegeheimbewohner*innen erzielen lassen.
Unabdingbar ist es, den identifizierten Testansatz bezüglich Sensitivität und Spezifität zu prüfen und in einer „Randomized Controlled Trial“ (RCT) zu überprüfen. Bei positivem Ergebnis gilt es, einen Test bestehend aus Stand up test, Forward reach test und Ermittlung des BMI mittelfristig in die Ausbildung von Pflegekräften und in die Praxis zu überführen.
Es gilt in weiteren Erhebungen zu untersuchen, ob die Versorgung mit den Mobilitätshilfsmitteln Rollator und Rollstuhl Sturzrisikofaktoren suffizient begegnen kann.
Literatur
Böhm K, Ziese T, Tesch-Römer C (2009) Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheit und Krankheit. Robert Koch Institut. Berlin
Breiman L, Friedmann J, Stone CJ, Olshen RA (1984) Classification and regression trees. Chapman and Hall/CRC, Boca Raton
Burland E, Martens P, Brownell M, Doupe M, Fuchs D (2013) The evaluation of a fall management program in a nursing home population. Gerontologist. https://doi.org/10.1093/geront/gns197
Cederholm T et al (2015) Diagnostic criteria for malnutrition—An ESPEN Consensus Statement. Clin Nutr 34(3):335–340
Deandrea S (2010) Risk factors for falls in community-dwelling older people. A systematic review and meta-analysis. Epidemiology 21(5):658–668
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg) (2006) Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege, Osnabrück
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2013) Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege, Osnabrück (1. Aktualisierung)
GKV-Spitzenverband Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes. https://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/produktartAnzeigen_input.action?artId=327. Zugegriffen: 27. Febr. 2017
GKV Spitzenverband (2019) Hilfsmittelverzeichnis. http://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/hmvAnzeigen_input.action. Zugegriffen: 23.07.2020
International Council of Nursing (Hrsg) (2003) Internationale Klassifikation für die Pflegepraxis. Huber, Bern
Kerse N, Butler M, Robinson E, Todd M (2004) Fall prevention in residential care: a cluster, randomized, controlled trial. J Am Geriatr Soc 52:524–531
Kottner J, Dassen T (2011) Funnel-Plots zum Vergleich von Dekubitus- und Sturzkennzahlen in 76 Pflegeheimen. In: Das Gesundheitswesen. Thieme, Stuttgart, New York
Lahmann N, Kottner J, Heinze C, Schmitz G, Wilborn D (2010) Pflegeprobleme in Deutschland – Ergebnisse von 10 Jahren Forschung in Pflegeheimen und Kliniken 2001–2010. Charité – Universitätsmedizin Berlin. Berlin
Nolan JS, Remilton LE, Green MM (2008) The reliability and validity of the Elderly Mobility Scale in the acute hospital setting. Internet J Allied Health Sci Pract 6(4):3
Rose DJ, Lucchese N, Wiersma LD (2006) Development of a multidimensional balance scale for use with functionally independent older adults. Arch Phys Med Rehabil 87(11):1478–1485
Rubenstein LZ, Josephson KR, Robbins AS (1994) Falls in the nursing home. Ann Intern Med 121(6):442–451
Runge M, Hunter G (2006) Determinants of musculoskeletal frailty and the risk of falls in old age. J Musculoskelet Neuronal Interact 6(2):167–173
Saß AC, Wurm S, Ziese T (2009) Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gesundheit und Krankheit im Alter. Robert Koch Institut, Berlin
Schmid A, Weiss M, Heseker H (2002) Ernährung und Bewegung als zentraler Einflussfaktor auf den Gesundheitszustand im Alter – Ergebnisse der Paderborner Seniorenstudie. Eur J Geriatr 4:135–143
Smith R (1994) Validation and reliability of the elderly mobility scale. Physiotherapie 80(11):744–747
Sousa LMM, Marques-Vieira CMA, de Caldevilla MNGM, Henriques CMAD, Severinoa SSP, Caldeira SMA (2016) Risk for falls among community-dwelling older people: systematic literature review. Rev Gaúcha Enferm. https://doi.org/10.1590/1983-1447.2016.04.55030
Varnaccia G, Rommel A (2013) Das Unfallgeschehen bei Erwachsenen in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Robert Koch-Institut, Berlin
Volkert D et al (2018) ESPEN guideline on clinical nutrition and hydration in geriatrics
Funding
Open Access funding provided by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
N. Strutz, J. Kiselev und N. Lahmann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Ethische Standards
Dieser Beitrag beinhaltet keine an Tieren durchgeführten Studien. Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1996 durchgeführt. Für alle Beteiligten liegt eine Einverständniserklärung vor.
Additional information
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Strutz, N., Kiselev, J. & Lahmann, N. Prädiktoren von Sturzereignissen in Pflegewohnheimen: eine Querschnittsstudie in Deutschland. HBScience 11, 44–51 (2020). https://doi.org/10.1007/s16024-020-00340-w
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s16024-020-00340-w