Hintergrund

Sexualität in der zweiten Lebenshälfte wird in den Sozial- und Sexualwissenschaften im Vergleich zu anderen Altersabschnitten immer noch nur wenig thematisiert (Bucher et al. 2003). Entgegen dem oft gesellschaftlich propagierten Bild des asexuellen Alterns ist allerdings belegt, dass sexuelle Aktivität und sexuelles Interesse bis ins hohe Alter vorhanden sind. Bucher et al. (2003) haben gezeigt, dass das Interesse an Sexualität erst ab einem Alter von 75 Jahren verstärkt sinkt. Hyde et al. (2010) zeigten für Australien, dass 48,8 % der Männer zwischen 75 und 95 Jahren Sex zumindest für etwas bedeutsam halten. Das Begriffsverständnis von Sexualität als penetrativer Geschlechtsverkehr verändert sich dabei, Geschlechtsverkehr selbst verliert an Bedeutung (Hinchliff und Gott 2011; Sandberg 2013).

Grundsätzlich lässt sich bei Pflegekräften eine positive Einstellung zum Thema Sexualität im Alter feststellen (Roach 2004; Bouman et al. 2007; Mahieu et al. 2015). Diese ist umso positiver, je sicherer ihr Umgang mit Sexualität generell ist (Roach 2004). Als Einflussfaktoren auf die Einstellung konnten u. a. die Variablen Alter und Berufserfahrung identifiziert werden (Bouman et al. 2007). Je älter Pflegekräfte waren, desto eher erlaubten sie sexuelles Verhalten. Der Wissenstand von Pflegekräften zum Thema Sexualität im Alter wird als durchschnittlich beschrieben. Ein höherer Wissenstand geht dabei mit einer Haltung einher, die die Sexualität der zu Pflegenden eher zulässt (Mahieu et al. 2015). Im Hinblick auf Familienstand und Geschlecht wurden keine signifikanten Unterschiede festgestellt (Bouman et al. 2007).

Wie Pflegekräfte auf sexuelle Verhaltensweisen reagieren, hängt stark davon ab, ob sie diese als Überschreitung ihrer persönlichen Grenzen wahrnehmen oder nicht. Ehrenfeld et al. (1999) beschreiben, dass Verhaltensweisen, die sie der Kategorie Liebe und Fürsorge zuordnen, von Pflegekräften toleriert oder unterstützt werden. Ähnliche Befunde berichten Tzeng et al. (2009) für Taiwan.

Formen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, also „unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten […] [, das] die Würde der betreffenden Person verletzt“ (AGG 2006), stellen hingegen eine besondere Belastung für Pflegekräfte dar. Spector et al. (2014) haben dazu in einem weltweit angelegten quantitativen Review gezeigt, dass von 4389 Pflegekräften 39 % in ihrem Berufsleben sexuelle Belästigung erfahren haben. In den letzten 6 Monaten waren es 17,9 % aus 12.743 Befragten. Eine Mehrzahl der integrierten Studien thematisierte jedoch sexuell übergriffiges Verhalten im Krankenhaus und differenzierte nicht bezüglich der Quelle der Belästigung.

Hinsichtlich der verschiedenen Äußerungsformen haben Bronner et al. (2003) in einer Langzeitstudie mit israelischen Pflegekräften 7 Arten sexueller Belästigung identifiziert und klassifiziert. Anzügliche Witze wurden dabei von 81 % der weiblichen Pflegekräfte erlebt, körperliche Berührungen von 46,2 %. Vom Versuch, eine sexuelle Beziehung einzugehen, berichteten 5,4 % der Pflegerinnen (Bronner et al. 2003).

Verhaltensweisen, die als sexuelle Belästigung weiblicher Pflegekräfte erlebt werden, überfordern diese oft und führen zu verärgerten oder frustrierten Reaktionen (Ehrenfeld et al. 1999). Dennoch wurden bei weiblichen Pflegekräften signifikant selbstbewusstere Reaktionen bei schwerwiegenden Formen sexueller Übergriffigkeit gefunden als bei männlichen Pflegekräften. Frauen widersprachen den Übergriffen stärker und meldeten sie (Bronner et al. 2003).

Eine häufige Reaktion bestand allerdings auch im Ignorieren der belästigenden Person (Bronner et al. 2003) oder des belästigenden Verhaltens (Kisa et al. 2002; Hibino et al. 2006). Unter den von Hibino et al. (2006) befragten Pflegekräften, wurde die Kategorie nichts tun am häufigsten genannt. Auch das Übergehen oder das Ignorieren der sexuellen Belästigung wurden als gängige Reaktionsformen beschrieben. In diesen Fällen wurde die belästigende Person nicht mit ihrem Verhalten konfrontiert (Hibino et al. 2006). Denselben Effekt haben kontaktvermeidende Handlungsstrategien. Zu diesen zählen das Vermeiden des Bewohnerkontaktes, das Tauschen der Pflegezuständigkeiten, das Verlassen der Situation und der Themenwechsel im Patientengespräch (Hibino et al. 2006). Mit diesen Handlungsstrategien wird zwar die belästigende Situation vermieden, allerdings nicht ursächlich behandelt. Eine Diskussion über diese Situationen im Team findet oft nicht statt, da Aspekte, die die Sexualität der BewohnerInnen betreffen, von Pflegekräften häufig tabuisiert werden (Saunamaki und Engstrom 2014; Gott et al. 2004). Zudem herrscht unter Beschäftigten zwar durchaus ein Konsens darüber, was objektiv als sexuell belästigend einzustufen ist, die subjektive Bewertung kann in der jeweiligen Belästigungssituation jedoch davon abweichen (Nienhaus et al. 2016).

Vor dem Hintergrund dieser bestehenden Uneindeutigkeit über die Reaktionsformen der Pflegekräfte ergaben sich die folgenden Forschungsfragen: Welches sind die Handlungsmuster von Altenpflegekräften in stationären Wohneinrichtungen in Situationen, in denen Grenzüberschreitungen auf sexueller Ebene stattfinden, und wovon sind diese Reaktionen beeinflusst?

Methodik

Studienteilnehmende

Zur Rekrutierung der Teilnehmenden wurden per Internetrecherche 10 stationäre Altenpflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg ohne spezifische Kriterien ad hoc ausgewählt und mit einem vorgefertigten Anschreiben kontaktiert. Mit einem Pflegeheim entstand so eine Zusammenarbeit. Zudem entstand über einen „gate keeper“ eine Projektpartnerschaft mit einer niedersächsischen Pflegeeinrichtung.

Nur Pflegekräfte, die über eine abgeschlossene Ausbildung in einem Pflegeberuf oder als Hilfskraft für Altenpflege verfügten oder eine Ausbildung in diesem Bereich absolvierten und derzeit in der stationären Altenpflege tätig waren, wurden für die Studie angesprochen. Die Angabe, sexuelle Belästigung im beruflichen Kontext erlebt zu haben, stellte kein Einschlusskriterium dar. Insgesamt erklärten sich 9 Pflegekräfte (männlich n = 1, Alter 44 Jahre, Berufserfahrung 18 Jahre; weiblich n = 8, Alter 24 bis 62 Jahre; Berufserfahrung 4 bis 29 Jahre) im Zeitraum vom 06.05.2016 bis zum 23.05.2016 bereit, an der Studie mitzuarbeiten.

Datenerhebung

Zur explorativen Erfassung der individuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstrukturen wurden problemzentrierte Interviews mit narrativem Charakter durchgeführt (Witzel 1982, 2000). Dabei wurden erzähl- und verständnisgenerierende Kommunikationsstrategien, induktive und deduktive Zugänge gewählt, sodass eine fokussierte inhaltliche Vertiefung im Interviewgespräch durchgängig gelang.

Für den halbstandardisierten Leitfaden wurden im Vorfeld folgende 3 Themenblöcke identifiziert: 1. Sexualität in der stationären Altenpflege, 2. grenzüberschreitende Äußerungsformen von Sexualität in der stationären Altenpflege und 3. Unterstützungswünsche und wahrgenommene Unterstützung von Pflegekräften.

Für sexualpädagogische Unterrichtseinheiten wird die Verwendung von Stellvertretern bei der Bearbeitung persönlicher Themen empfohlen (Spörhase 2012). Dies wurde auf das Interview übertragen, indem Fallbeispiele entwickelt wurden, die es im Interview zu bewerten galt. Das Fallbeispiel zum zweiten Themenblock behandelte grenzüberschreitend gelebtes sexuelles Verhalten auf der Ebene zwischen Pflegepersonal und BewohnerInnen und die damit verbundenen Reaktionen. Da der wahrgenommene Grenzüberschritt und die damit verbundene Belastung in der Regel auf körperlicher Ebene größer ist (Bronner et al. 2003), wird im Fallbeispiel eine Situation, in der grenzüberschreitendes Handeln auf körperlicher Ebene stattfindet, beschrieben:

Herr M. lebt seit einiger Zeit in einer Pflegeeinrichtung. Die Pflegekräfte kennen ihn als lebhaften, älteren Herren, der von Beginn an sehr die Nähe zu anderen Bewohnerinnen und Pflegekräften sucht. In letzter Zeit kommt es immer wieder vor, dass Herr M. die Pflegerin Maria umarmt und ihr dabei seine Hand auf das Gesäß legen möchte.

Das andere Fallbeispiel erwies sich im Auswertungsprozess als weniger bedeutsam, daher wird auf eine weitere Beschreibung verzichtet.

Ergänzend dazu wurden ein soziodemografischer Kurzfragebogen und ein Postscript-Bogen verwendet.

Datenaufnahme, -verarbeitung und -auswertung

Die Interviews wurden während der Arbeitszeit der Pflegekräfte in abgetrennten Räumen innerhalb der Pflegeeinrichtungen durchgeführt und per Diktiergerät aufgezeichnet. Die Interviewdauer betrug zwischen 22:48 min und 61:26 min (insgesamt 313:22 min). Für die mit dem Programm f4® durchgeführte Transkription wurden modifizierte Transkriptionsregeln nach Dresing und Pehl (2015) verwendet.

Themenverlaufspläne wurden nach Nohl (2012) erstellt und zeigen, dass das Thema Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen in jedem Interview ausgiebiger und intensiver als andere Themen behandelt wurde. Daher wurde der Auswertungsfokus auf diesen Aspekt gelegt.

Darüber hinaus wurden anhand dieser Themenverlaufspläne in einem zweiten, selektiven Schritt aus den 9 durchgeführten Interviews 6 zur weiteren Analyse ausgewählt. Maßgebliche Kriterien waren hierbei erstens die Intensität der Behandlung von Situationen, in denen auf sexueller Ebene grenzüberschreitende Handlungen in einer der von Bronner et al. (2003) beschriebenen Formen thematisiert wurde, zweitens aus den Themenverlaufsplänen identifizierte neue Perspektiven auf das Problem und drittens die soziodemografischen Daten der Kurzfragebogen. Die ausgewerteten Interviews wurden ausschließlich mit weiblichen Pflegekräften geführt, da der einzige männliche Teilnehmer angab, keine eigenen Erfahrungen bezüglich grenzüberschreitend gelebter Sexualität gemacht zu haben.

Die Auswertung erfolgte nach der dokumentarischen Methode der Interpretation in ihrer Form für Einzelinterviews (Nohl 2012). Zunächst wurde im Rahmen der formulierenden Interpretation eine inhaltliche Strukturierung anhand von induktiv gebildeten Ober- und Unterthemen erarbeitet. Für eine detaillierte Darstellung der Ergebnisse wurden die dabei identifizierten Unterthemen nochmals untergliedert. Der anschließende Schritt der reflektierenden Interpretation wurde anhand minimal und maximal kontrastierender Fallvergleiche in Form von Einzelfallanalysen durchgeführt. Das Ziel dabei war es, den Orientierungsrahmen der interviewten Pflegekräfte zu rekonstruieren, in dem ihre Reaktionen in Situationen mit sexueller Grenzüberschreitung stattfanden. Anhand der formulierenden Interpretation wurden hierzu die Passagen ausgewählt, in denen von den teilnehmenden Pflegekräften eine erlebte Grenzüberschreitung und mindestens eine darauffolgende Reaktion beschrieben wurde. Im abschließenden Schritt der sinngenetischen Typenbildung nach Nohl (2012) wurden die extrahierten Orientierungsrahmen, in denen die betrachteten Situationen bearbeitet wurden, von den Einzelfällen abstrahiert und fallübergreifend typisiert. Eine soziogenetische Typenbildung erfolgte nicht.

Ergebnisse

Die Darstellung des immanenten Sinngehalts erfolgt anhand der beiden Oberthemen „Situationen mit sexueller Grenzüberschreitung“ und „Handlungsstrategien von Pflegekräften“.

Situationen mit sexuellen Grenzüberschreitungen

Die Daten bestätigen das Vorkommen von Situationen, in denen sexuelle Grenzüberschreitungen stattfinden. Sie wurden in den Interviews als eine Hauptform der Sexualitätsäußerung von alten Menschen in stationären Wohneinrichtungen beschrieben. Die Spanne der Äußerungsformen reichte dabei von anzüglichen Bemerkungen bis hin zum Berühren intimer Körperstellen.

(…) der hat auch knallhart komm mal her, zeig mir mal deine Brüstchen und so ne.

(…) irgendwie, hat er mich so angefasst und so angefasst. Ich hab gesagt, was machen Sie denn. Äh (..) äh hat er mich angeguckt und wieder angefasst.

Zwar können, bedingt durch die Art der Studie, keine Häufigkeitsaussagen getroffen werden, jedoch wurde den in 5 der 6 Interviews erwähnten Berührungen intimer Körperstellen eine gewisse Regelhaftigkeit attestiert.

wusste jeder wohl was damit anzufangen, was es heißt, wenn jemand (.) mal seine Hände woanders (..) hinlegt. Ja.

In 5 Interviews wurden zudem Situationen beschrieben, in denen die Pflegekräfte zu sexuellen Handlungen aufgefordert wurden.

wir haben einen Bewohner, der es schon frei äußert, ne, der schon sagt so. Hmm (.) möchten Sie möchten Sie nicht mit in mein Bett kommen

Hinsichtlich der Grenzüberschreitungen auf körperlicher Ebene erwies sich der, beim Transfer notwendigerweise stattfindende, enge Körperkontakt als begünstigend.

Und jemand anders, äh beim Transfer, wenn ich ihn am Bettrand sitzen habe, sage ich, der darf sich bei mir an den Hüften halten und heb ihn rüber und anstatt Hüften rutscht er halt öfter zum Busen hoch.

Alle im Rahmen der Analyse beschriebenen Grenzüberschreitungen wurden von männlichen Pflegeheimbewohnern initiiert. Aufgrund der ausschließlich weiblichen Studienteilnehmer kann daraus jedoch keine Aussage über eine mögliche Geschlechterstruktur abgeleitet werden.

Handlungsstrategien von Pflegekräften

Die vom Pflegepersonal genannten Handlungsstrategien konnten in 3 Gruppen unterteilt werden. Die Kategorie der restriktiven oder strafenden Strategien enthält Handlungsmuster, die ausschließlich dem Unterbinden von sexuell grenzüberschreitendem Handeln dienen. Proaktive Strategien fassen das Anbieten von Handlungsalternativen und die Erfassung des Verhaltenskontextes zusammen. Die unspezifischen Strategien zeichnen sich dadurch aus, dass sie das zugrunde liegende Problem nicht behandeln, sondern alternative Lösungen zum Umgang bieten (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Überblick über die Handlungsstrategien der Pflegekräfte

Sinngenetische Typenbildung

Im abgrenzenden Vergleich der Einzelfälle wurden individuelle Orientierungsrahmen, innerhalb derer die Problematik einer sexuellen Grenzüberschreitung durch eine/einen BewohnerIn behandelt wurde, identifiziert. Diese konnten zum belastungsorientierten, beziehungsorientierten und bedürfnisorientierten Typ abstrahiert werden (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Identifizierte sinngenetische Typen beim Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen

Belastungsorientierter Typ

Für den Typus der Belastungsorientierung ist die wahrgenommene Belastung, die durch die Grenzüberschreitung entsteht, der zentrale Aspekt bei der Handlungsgenese. Die Frage nach ursächlichen Faktoren oder andere moderierende Variablen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Primäre Ziele dieses Typus sind die Wahrung der eigenen Grenzen und eine Beendigung des Bewohnerverhaltens, was typischerweise eine restriktive Vorgehensweise bei der Problembewältigung zur Folge hat.

ich bin dann eben auch ein Mensch, der dann auch sehr konkret auch ist und dann eben ganz klar sagt nein.

//Ja natürlich//wenn ich nein sage. Wenn sie mich anbaggern, dann erwarte ich ein nein. Und wenn nicht, dann werde ich aber energisch (…)

Zudem kann ein Misserfolg dieser restriktiven Strategien die empfundene Belastung weiter verstärken und der Intensivierung dieser oder zu vermeidendem Verhalten führen.

ich bin dann auch sehr ehrlich und sehr, ähm (..) direkt und auch nicht dann (.) ähm (.) nett oder sage eben äh, Sie sind nicht attraktiv, Sie auch nicht mein Mensch, also also auch nicht der Mann, mit dem ich da jetzt hier ja irgendwie (unv.) (lacht) vollziehen möchte, und das wirkt dann für den Bewohner beleidigend und dann geht das weiter in eine Diskussion, wo man dann eigentlich nur noch äh den Raum verlassen kann

Beziehungsorientierter Typ

Die Beziehung zum Bewohner bestimmt die Handlungsstrategie dieses Typus maßgeblich und wirkt dabei moderierend auf die wahrgenommene Belastung. Das zentrale Handlungsziel ist eine Stärkung der Beziehung zum/zur BewohnerIn und, in Abgrenzung zum Typus der Belastungsorientierung, nicht zwangsläufig eine Beendigung des Verhaltens. Das Verhalten wird also weniger professionell, sondern vielmehr anhand der Beziehung beurteilt und eingeordnet.

Im Falle einer positiven Beziehung zu den zu Pflegenden führt diese zu weniger restriktiven, humoristischen und nichteindeutigen Handlungsstrategien.

Also das macht der und dann gibts/zie/also ich geh damit so Finger weg, dass gehört alles mir, ne. Da gri/da lacht er sich erst einen, so. So äh auf die Schel/ich sag (.) ich mach das bei Ihnen doch auch nicht, joa kannste doch aber auch machen, ich so ne das möchte ich nicht so so ein bisschen witzeln.

Zudem geben die als gering empfundene Belastung und die Orientierung an der Beziehung den Pflegekräften die Möglichkeit zu proaktivem Handeln und bedürfnisorientiertem Arbeiten.

Und sie können sie mir/ich ich/sie können mich gerne umarmen, wenn sie das möchten, und so, aber das andere, Finger weg, ne.

Diese Abhängigkeit der Reaktion von der Beziehung zum Bewohner führt allerdings häufig zu Unterschieden in der Behandlung der Bewohner.

aber es gibt halt so Bewohner, wo ich das nicht wo ich sagen würde klar und deutlich und nicht ins Scherzhafte, ne möchte ich nicht, ich möchte nicht, dass Sie ihre Hand dahin hintun, ne.

Bedürfnisorientierter Typ

Der Typus der Bedürfnisorientierung stellt die Bedürfnisse der zu Pflegenden in das Zentrum der eigenen Handlungen. Ziel ist stets die Berücksichtigung der Bedürfnisse der BewohnerInnen bei der Wahl der Handlungsstrategie. Problematisches Sexualverhalten wird als Äußerungsform eines Bedürfnisses wahrgenommen und soll im Sinne eines ganzheitlichen Pflegeverständnisses eher gelenkt, als begrenzt werden.

Klar müsste man mit ihm darüber sprechen, dass es so nicht geht, aber im Endeffekt wäre er (.) der Unverstandene, so ein bisschen. (.) Würde noch bestraft dafür, dass seine Bedürfnisse eben nicht (.) ernst genommen werden. (.) So muss man es, glaube ich, auch sehen.

In Abgrenzung zum Typus der Beziehungsorientierung soll die Erfüllung des Bedürfnisses nicht einer Stärkung der Pflegekraft-BewohnerIn-Beziehung dienen und ist nicht entscheidend von ihr beeinflusst. Ein Überschreiten der eigenen Grenzen ist beim bedürfnisorientierten Typ prinzipiell möglich, da das eigene Pflegeverständnis das Wohl der BewohnerIn in den Mittelpunkt stellt.

Neben proaktivem Handeln ist das Eruieren der Verhaltensursache und des Verhaltenskontextes eine Handlungsstrategie dieses Typs.

ich sag Leute, ich sag da äh wenn/ich sag wann tritt denn das Problem auf. Ja. Ich sag könnt ihr was sagen?

Ich denk, dass das vielleicht früher mit seiner Frau auch so ein Bedürfnis war, sie in den Arm zu nehmen, und dann hat er ihr aus ähm (.) vielleicht war das in der Beziehung so, dann einfach die Hand auf das Gesäß geleg/gelegt. Das war für ihn oder ist für ihn eine ganz normale Situation. Ne und das müsste man halt auch vielleicht von Kindern, wenn denn Kinder da sind oder so dann wirklich auch eruieren, äh, wieso hat er das?

Zwar lässt sich für alle Teilnehmerinnen ein Typus ausmachen, der den Kern des eigenen Orientierungsrahmens bildet, jedoch weisen die interviewten Pflegekräfte stets Aspekte von mindestens 2 Typen auf.

Diskussion

In der vorgelegten Studie wird die Existenz von sexuell grenzüberschreitendem Verhalten gegenüber Pflegekräften in Einrichtungen der stationären Altenpflege als alltägliches Problem bestätigt. Von den 7 bei Bronner et al. (2003) beschriebenen Arten sexueller Belästigung in Pflegesituationen konnten 4 im ausgewerteten Datenmaterial identifiziert werden. Diese Formen können von den Pflegekräften als mittlere oder schwere Belastung erlebt werden (Bronner et al. 2003). Der Umgang damit stellt die betroffenen Pflegekräfte vor vielfältige Herausforderungen. Die Handlungsstrategien der Pflegekräfte können sich an der empfundenen Belastung durch die Grenzüberschreitung, der Beziehung zum Bewohner oder den Bedürfnissen des Bewohners orientieren.

Sexuelle Grenzüberschreitungen werden als Belastung erlebt

Bei der Betrachtung dieser Situationen ist nicht nur die Art der Handlung von Relevanz, sondern v. a., dass diesen regelmäßig vorkommenden Formen sexuell motivierten Bewohnerverhaltens grundsätzlich das Potenzial innewohnt, von Pflegekräften als mittelgradige oder schwere Belastung erlebt zu werden (Bronner et al. 2003).

Schwierigkeiten zeigten sich bei der Benennung der grenzüberschreitenden Handlung. Viele der in den Interviews geschilderten Situationen können im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) als sexuelle Belästigung klassifiziert werden (AGG 2006). Auch in bisherigen Studien (Bronner et al. 2003; Kisa et al. 2002; Hibino et al. 2006; Finnis und Robbins 1994) wird von sexueller Belästigung gesprochen. Allerdings fiel in keinem der Interviews die Begrifflichkeit sexuelle Belästigung; vielmehr wurde von den Betroffenen selbst stets der Begriff Grenzüberschreitung gewählt. Der Begriff sexuelle Belästigung betont die Intention der Handlung stärker, während der Begriff der Grenzüberschreitung die Möglichkeit einbezieht, dass das Verhalten unbeabsichtigt entstanden ist (Enders und Eberhardt 2007). Möglich ist, dass die teilnehmenden Pflegekräfte die Verwendung eines negativ konnotierten Begriffes absichtlich nicht wählten, um Schuldzuschreibungen zu vermeiden. Dies ist allerdings im Rahmen der Untersuchungsergebnisse nicht zu belegen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass eine fehlende Betitelung als sexuelle Belästigung die Einordnung des Geschehenen erschwert, die in der Situation empfundene Belastung nur reduziert widerspiegelt und damit die Bearbeitung der Situation erschwert.

Wie auch bei Ehrenfeld et al. (1999) beschrieben, rufen Handlungen, die als sexuelle Belästigung erlebt werden können, starke Reaktionen hervor. Ersichtlich ist dies an der großen Bandbreite beschriebener restriktiver Reaktionen. Die bei Roach (2004) beschriebenen drohenden oder strafenden Handlungen lassen sich nur zu einem geringen Teil in den Aussagen der interviewten Pflegekräfte wiederfinden. Unspezifische Reaktionen konnten im Rahmen der durchgeführten Interviews als relevante Handlungsstrategien aufgezeigt werden, sodass die Kritik von Hibinio et al. (2006) an einer fehlenden ursächlichen Behandlung des problematischen Verhaltens übernommen werden kann.

Offen bleibt, was professionelles Pflegeverhalten in einer Situation, in der eine Grenzüberschreitung auf sexueller Ebene stattfindet, überhaupt ausmacht. Aus den analysierten Interviews geht keine Strategie hervor, die als generelle Empfehlung an Pflegekräfte ausgesprochen werden könnte.

Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass der u. a. für England (Bouman et al. 2007), Israel (Bronner et al. 2003), Taiwan (Tzeng et al. 2009) und Schweden (Saunamaki und Engstrom 2014) festgestellte Bedarf an sexualpädagogischen Qualifizierungsangeboten für Pflegekräfte auch auf Fachkräfte der Altenpflege in Deutschland zu übertragen ist.

Ansatzpunkte für Qualifizierungsmaßnahmen

Eine besondere Bedeutung kommt der Thematik des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen zu. Die Kenntnis der typspezifischen Charakteristika bietet dabei Ansatzpunkte zur Reflexion des eigenen Rollenverständnisses. Diese Reflexion kann ein gewinnbringender Ausgangspunkt für weitere Qualifizierungsmaßnahmen sein. Zudem ergeben sich aus dem jeweiligen Rollenverständnis spezifische Handlungsstrategien und Inhalte von individuellen Qualifikationsangeboten.

Es lassen sich vor diesem Hintergrund zwei grundsätzliche Anforderungsbereiche für Pflegekräfte ausmachen: der Umgang mit den aus grenzüberschreitend gelebter Sexualität resultierenden Belastungen sowie die Professionalisierung des eigenen Pflegehandelns. Erst das Bewusstwerden der eigenen Handlungsintentionen ermöglicht die situationsbezogene Evaluation der eigenen Reaktion und die Veränderung bestehender Handlungsmuster. Nur so können die eigenen Grenzen gewahrt und die grenzüberschreitenden Handlungen der zu Pflegenden gleichzeitig im Sinne eines ganzheitlichen Pflegeverständnisses als Äußerungsform zugrunde liegender Bedürfnisse verstanden werden.

Im Sinne einer typorientierten Weiterqualifikation kann für Pflegekräfte, die dem Typus der Belastungsorientierung zuzuordnen sind, empfohlen werden, die Fähigkeit zum Erkennen von Bedürfnissen und zum Eruieren von Verhaltensursachen zu stärken. Demgegenüber impliziert das teilweise geringe Belastungsempfinden des Typus der Beziehungsorientierung die Gefahr des Sendens unklarer Signale. Dies kann nicht nur für BewohnerInnen, sondern auch für das Pflegeteam problematisch sein. Beziehungsorientiert arbeitende Pflegekräfte sollten daher für die Situation der BewohnerInnen, aber auch für die Abstimmung mit anderen Pflegekräften sensibilisiert werden. Hierzu sollte insbesondere die Fähigkeit, einen Grenzübertritt als einen solchen wahrzunehmen, verbessert werden. Den Typus der Bedürfnisorientierung zeichnet aus, dass stets versucht wird, Möglichkeiten zur Erfüllung der wahrgenommenen Bedürfnisse zu finden. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass hieraus eine mangelnde Wahrnehmung eigener oder kollegialer Grenzen resultiert.

Eine konstruktive Möglichkeit, um die typspezifischen Stärken zu nutzen und die ihnen inhärenten Gefahren zu minimieren, stellen Fallgespräche dar. Diese sollten eine offene Thematisierung problematischen Verhaltens ermöglichen, die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen und mit einem gemeinsamen Plan zum weiteren Vorgehen schließen.

Limitationen

Die gewonnene Stichprobe ist durch Selbstselektion gekennzeichnet. Da den Teilnehmenden das Thema des Interviews im Vorfeld bekannt war, ist es möglich, dass Pflegekräfte, die große Unsicherheit bezüglich des Themas Sexualität aufweisen, sich nicht zu Teilnahme bereit erklärten.

Zudem ist zu kritisieren, dass sich nur ein männlicher Teilnehmer unter den Probanden befand. Dessen Aussagen konnten allerdings nicht verwertet werden, da er angab, keine persönlichen Erfahrungen mit sexuellen Grenzüberschreitungen gemacht zu haben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch Männer Opfer von sexuellen Grenzüberschreitungen oder Belästigungen werden (Bronner et al. 2003). Demzufolge kann diese Arbeit keine Aussage über geschlechtsspezifische Unterschiede treffen. Hieraus ergibt sich, dass die Ergebnisse dieser Arbeit lediglich einen Teil der Realität abbilden und folglich weitere explorative Studien notwendig sind, um dem Anspruch einer vollständigen Situationsbeschreibung gerecht zu werden. Die Existenz weiterer Typen kann daher nicht ausgeschlossen werden.

Zur Quantifizierung und zur weiteren Ausschärfung der Ergebnisse dieser Studie können anhand der ausgearbeiteten Typen Fragebogen konstruiert werden.

Fazit

Die Relevanz des Themas Sexualität in der stationären Altenpflege und ein Bedarf an pädagogischen Qualifikationsangeboten wurde im Rahmen der Arbeit deutlich. Bisher ist der Grad an wissenschaftlicher Auseinandersetzung allerdings noch sehr gering. Es ist daher nicht nur weitere Grundlagenforschung notwendig, sondern vor dem Hintergrund der aktuellen demografischen Entwicklung auch erforderlich, in Zukunft weitere Aspekte des Themas zu betrachten. Da in Zukunft immer mehr Menschen hochaltrig werden, die ihre Sexualität nicht innerhalb eines heterosexuellen Kontextes gelebt haben, ist beispielsweise anzunehmen, dass das Thema sexuelle Vielfalt im Alter auch für Pflegekräfte an Bedeutung gewinnt.

Es ergibt sich daher die Notwendigkeit, das Thema Sexualität im Alter in der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Hilfskräften der Altenpflege nicht nur verstärkt, sondern auch in seinen diversen und vielfältigen Facetten zu behandeln und bestehende Forschungslücken zu schließen.