1 Einleitung

Es gehört zu den weitverbreiteten Mythen in der IB-Community, dass Neorealisten kriegslüstern sind – „war-mongering Neanderthals“ (Edelstein 2010) –, die die Lösung der meisten sicherheitspolitischen Probleme dieser Welt in dem begrenzten oder gar massiven Einsatz militärischer Macht sehen. Aus diesem Grund (aber auch aus anderen Gründen) liebt keiner politische Realisten, wie einst Gilpin (1996) die Stellung von Realisten und NeorealistenFootnote 1 unter Fachkollegen sarkastisch beklagte.

Die insbesondere den Neorealisten unterstellte kriegslüsternde Tendenz wird von Kritikern zumeist mit drei Argumenten untermauert. Zunächst damit, dass der Realismus sowie der Neorealismus Nachfolger eines „militaristischen und rassistischen Sozialdarwinismus“ (Halliday 1994, S. 11) seien und deshalb dem „survival of the fittest“ das Wort reden würden. In der realistischen Welt, in der Macht nicht nur, aber auch aus Gewehrläufen kommt, sei es dann nur folgerichtig, wenn Vertreter dieser Theorie dem Einsatz von Streitkräften zur Regulierung von Konflikten das Wort reden und Krieg als immer wiederkehrendes Phänomen bezeichnen, welches sich nicht von der Bildfläche der internationalen Beziehungen verbannen lässt.

Die zweite Erklärung, die zur Begründung der Kriegslüsternheit von Realisten und Neorealisten herangezogen wird, verweist auf den intellektuellen Einfluss, den problematische Denker wie z. B. der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt auf die Gründerväter moderner realistischer Theoriebildung gehabt haben (Honig 1996; Scheuerman 2009). Und zuletzt wird die neorealistische Ignoranz gegenüber jeden intellektuellen Versuchen, das konfliktgeladene internationale System in ein friedliches zu transformieren, in dem Realpolitik durch geteilte ethische Werte und Normen und kooperative Beziehungen zwischen Staaten ersetzt wird, als Indiz für die Faszination mit und die Überhöhung von militärischer Macht herangezogen (Ashley 1984, S. 281).

Interessanterweise haben sich Realisten und Neorealisten aber seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zumeist ablehnend hinsichtlich militärischer Interventionen geäußert. Von Korea, Vietnam, den Einsätzen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, dem Irak-Krieg 2003, der Afghanistan-Intervention wie auch der Durchsetzung der Flugverbotszone über Libyen im Jahre 2011, immer wieder waren Realisten und Neorealisten unter den wortgewaltigen Kritikern und Gegnern eines militärischen Eingreifens in den genannten Konflikten. Ob Morgenthau (1965), Waltz (1967) oder Mearsheimer und Walt (2003), um nur einige prominente Namen zu nennen, sie alle beteiligten sich intensiv an den öffentlichen Debatten über Nutzen und Sinn militärischer Interventionen und fanden sich dabei zumeist auf der Seite jener, die die Sinnhaftigkeit einer solchen Intervention anzweifelten. Sicherlich gab und gibt es auch Realisten mit einer positiven Haltung zu militärischen Interventionen. So gehörte Henry Kissinger zumeist zu den Befürwortern eines militärischen Eingreifens, und zwar sowohl in seiner Zeit als Wissenschaftler wie auch als Praktiker (Isaacson 1992). Doch blieb er damit eine Ausnahme. In aller Regel waren und sind Neorealisten zurückhaltend und skeptisch, wenn es um den Einsatz militärischer Macht geht und ging, und haben die meisten militärischen Interventionen der Vereinigten Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges abgelehnt sowie als nicht im amerikanischen Interesse stehend verurteilt.

Interessanterweise trennen Neorealisten jedoch ihre politische Ablehnung aktueller Kriege oder militärischer Interventionen zumeist von ihren theoretischen Annahmen.

Realism doesn’t take a normative or ethical position […]. Realism is a positive theory of international politics, not a normative theory, and it is essentially amoral. It explains why international politics is a competitive arena and why states act as they do, but it is mostly silent on whether this behavior is morally acceptable. (Walt 2009a, Hervorhebung im Original)

Dieses Argument ist jedoch nur schwer nachvollziehbar, geht es doch davon aus, dass Wissenschaftler in ihren politischen Urteilen nicht durch die Art und Weise beeinflusst werden, wie sie theoretisch über internationale Politik denken. Eine Trennung dergestalt, dass „their ethical agenda is not derived from their theory of international politics“ (Desch 2003, S. 419) – wie es von Neorealisten selbst immer wieder betont wird –, würde nur dann glaubhaft sein, wenn Neorealisten in ihrer politischen Einschätzung militärischer Interventionen divergieren würden, obgleich sie theoretisch mit denselben Axiomen arbeiten. Da dies jedoch nicht der Fall ist und Neorealisten sich – wie eingangs bereits angedeutet – in ihrer Einschätzung der realen Applikation militärischer Macht in aller Regel einig sind, liegt die Vermutung nahe, dass die Art und Weise, wie Neorealisten die Welt theoretisch fassbar machen, auch ihre ethisch-moralischen Vorstellungen hinsichtlich ihrer Einschätzung realer Politik beeinflussen. Anders ausgedrückt: Entgegen des neorealistischen – von Machiavelli entlehnten – Credos, die Dinge zu erklären, wie sie sind, geht der vorliegende Beitrag davon aus, dass die neorealistische Theorie auch eine verdeckte normative Dimension enthält, die darauf abzielt darzustellen, was „getan werden muss oder sollte“ (Frost 1996, S. 2).

Ein zweites „puzzle“, das im Zusammenhang mit der Skepsis neorealistisch arbeitender Wissenschaftler hinsichtlich des Gebrauchs militärischer Macht einhergeht, ergibt sich aus der negativen Einschätzung deliberativer Momente in der internationalen Politik. „Talk is cheap“ lautet ein immer wieder kehrendes Credo neorealistischer Forschung (Mearsheimer 2006, S. 123), denn Entscheidungen und Ergebnisse in der internationalen Politik sind das Resultat der Verteilung materieller Macht und konditionierender struktureller Bedingungen, denen sich Staaten im internationalen System ausgesetzt sehen (Waltz 1979; Mearsheimer 2001a). Der „Marktplatz der Ideen“ (Kaufmann 2004), dessen Wichtigkeit von konstruktivistisch und poststrukturalistisch arbeitenden Wissenschaftlern stets betont wird, trägt aus Einschätzung neorealistisch arbeitender Wissenschaftler nicht dazu bei, politische Entscheidungen zu beeinflussen, allenfalls nur marginal. Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass sich ebendiese Neorealisten im Vorfeld und während militärischer Interventionen so engagiert auf diesem Marktplatz tummeln und Policy-Schriften gegen Interventionen (Mearsheimer und Walt 2003) verfassen oder gar für viel Geld Anzeigen in Printmedien schalten, in denen sie vor den Folgen solcher Interventionen warnen (Mearsheimer et al. 2002). Auch diese Beobachtung steht in scheinbarem Widerspruch zu den Grundaxiomen neorealistischer Theoriebildung.

Beide Phänomene verweisen auf die Frage, ob die neorealistische Theorie nicht doch eine versteckte normative Grundlage hat, die dazu führt, dass sich Neorealisten als politische Aktivisten betätigen und ihre Haltung in politischen Fragen maßgeblich durch ihr neorealistisches Denken bestimmt wird. Dieser Frage will der vorliegende Beitrag nachgehen. Im Zentrum steht dabei die These, dass der Neorealismus eine implizite normative Basis hat, die im Kern eine Skepsis gegenüber der Universalität von Normen und Werten sowie eine Ablehnung von Übermacht im internationalen System beinhaltet. Beide Elemente zusammengenommen können erklären, warum sich die meisten Neorealisten in ihren Policy-Schriften, insbesondere nach 1990, zumeist gegen militärische Interventionen wenden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Neorealisten glauben, dass sich die Welt grundsätzlich verbessern lässt. Hier unterscheiden sie sich auch weiterhin fundamental von Vertretern der kritischen Theorie internationaler Beziehungen (Cox und Sinclair 1996). Jedoch geht es ihnen bei ihrem politischen Engagement darum, die schlimmsten Auswüchse, die aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems resultieren, einzudämmen (Kaufmann 2004, S. 6–7).

Um diese These zu entfalten, geht der vorliegende Beitrag wie folgt vor. Zunächst einmal wird das neorealistische Selbstverständnis, als eine nicht normativ argumentierende Theorie, kritisch hinterfragt und nach möglichen normativen Annahmen in der neorealistischen Theorie gesucht. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Theory of International Politics von Waltz (1979), dem Begründer des Neorealismus (Masala 2005a). In Anlehnung an Mearsheimer (2009a, S. 253) wird argumentiert, dass Waltz’ „Theory“ im Kern eine normative Theorie ist, die ein perfektes internationales System beschreibt, in dem sich Großmächte durch Mäßigung auszeichnen und diese Mäßigung zur Stabilität führt. Der weitestgehende Verzicht auf Hegemoniestreben seitens der Großmächte sowie auf die Durchsetzung partikularer Gerechtigkeitsvorstellungen produziert eine Stabilität im internationalen System, die kriegsverhindernd wirkt. Gerade die Konzentration auf die Frage, wie sich Großmachtkonflikte verhindern lassen, macht die neorealistische Theorie zu einer Friedenstheorie (Trachtenberg 2003, S. 194). Im darauf folgenden Kapitel wird dann gezeigt werden, wie die normativen Postulate neorealistischer Theorie Neorealisten dahingehend beeinflussen, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen, obwohl die neorealistische Theorie prima facie skeptisch hinsichtlich der Beeinflussung politischer Entscheidungen durch öffentliche Diskurse ist. Danach wird anhand der neorealistischen Kritik zum Afghanistanengagement der USA, der Bundesrepublik Deutschland und anderer Staaten herausgearbeitet, wie die normativen Elemente neorealistischer Theorie neorealistisch arbeitende Wissenschaftler in ihren Policy-Äußerungen beeinflussen.Footnote 2 Der vorliegende Beitrag schließt mit einem Fazit, in welchem die zentralen Ergebnisse zusammengefasst werden und das ein Plädoyer für eine Entdeckung der normativen Dimension neorealistischer Theorie enthält.

2 Der Neorealismus: Eine normative Theorie?!

Obgleich es in der Forschung zum Realismus eines Hans Morgenthaus bereits allgemein anerkannt ist, dass dessen Schriften eine normative Komponente enthalten, deren Ursprünge in der relativistischen Philosophie zu suchen sind und deren konkreter Ausdruck bei Morgenthau eine tiefe Skepsis gegenüber jeglicher Form von nationalistischen Universalismus ist (Masala 2005b, S. 89–91), so gilt Waltz bis heute als ein Vertreter einer wertfreien Spielart des Realismus. Diese Interpretation von Waltz lässt sich bei einer genaueren Lektüre seiner Schriften nicht aufrechterhalten. Wie Morgenthau, so begründet Waltz seine Version des Realismus aus einer Skepsis gegenüber den politischen Konsequenzen idealistischer Theorien in der Internationalen Politik. Diese würden – in letzter Konsequenz in die Praxis umgesetzt – zu demokratischen Kreuzzügen führen (Waltz 1959, S. 112–113).

Zentral für Waltz’ Kritik an idealistischen Theoretikern ist dabei seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit, Gerechtigkeit „objektiv“ (Waltz 1979, S. 201) zu definieren. Daraus resultiert für Waltz, dass Gerechtigkeit ein Kampfbegriff für die Mächtigen ist, um die wahren Intentionen ihres Handelns zu verschleiern (Waltz 1979, S. 201). Internationale Politik im Namen der Gerechtigkeit birgt somit für Waltz immer die Gefahr von unbegrenzten und ewigen Kriegen und gefährdet die Grundlagen für Frieden im internationalen System (Waltz 1988, S. 42–44). Dass Frieden ein zentrales Motiv der theoretischen Überlegungen von Waltz ist, durchzieht seine gesamten Schriften. Thomas Pangle und Peter Ahrensdorf haben in diesem Zusammenhang nachgewiesen, dass Waltz dem friedensfördernden Realismus eines Thomas Hobbes (Pangle und Ahrensdorf 1999, S. 239) näher steht als den eher kriegsbegrüßenden und kriegsbefördernden Realismen eines Thukydides, Machiavellis oder Treitschkes.

Um die Gefahr globaler, ewiger Kriege zur Durchsetzung subjektiv empfundener oder definierter Gerechtigkeitsvorstellungen zu minimieren, entwickelt Waltz die „balance of power“ als Alternative zur Weltregierung, die er, in Anlehnung an Kants Bonmot von der Friedhofsruhe, als eine Form des Weltbürgerkrieges kennzeichnet (Waltz 1959, S. 113).

Um zu verstehen, warum „balance of power“ aus der Sicht von Waltz kriegshemmend wirkt, ist es zunächst notwendig, sich mit seiner Kritik am Kantschen Liberalismus zu beschäftigen. Waltz argumentiert, dass selbst wenn sich alle Staaten und alle Bürger auf die gleichen liberalen republikanischen Prinzipien einigen und im Zuge dessen alle Staaten sich zu liberalen Demokratien transformieren würden, diese intern gleich strukturierten Staaten unter den Bedingungen eines anarchisch dezentralisierten Systems agieren und interagieren würden. Unter dem Faktum der Anarchie würden selbst liberale Staaten dazu geneigt sein, ihre Interessen gegebenenfalls unter Rückgriff auf militärische Mittel durchzusetzen. Da es auch in einer Welt liberaler Demokratien keine Instanz gibt, die Rechtsbruch automatisch sanktioniert, würden auch die Beziehungen liberaler Demokratien untereinander immer mit dem Problem des Misstrauens über die „wahren“ Intentionen des anderen konfrontiert sein. Jeder Staat müsste zu jedem Zeitpunkt damit rechnen, dass ein anderer Staat (auch wenn es sich dabei um eine liberale Demokratie handelt) seine Interessen gegebenenfalls mit Gewalt durchsetzt (Waltz 1979, S. 88). Waltz (1988, S. 620) bemerkt hierzu: „The recurrence of war is explained by the structure of the international systems.“

Da die Frage der internen Strukturierung von Staaten nach Waltz kaum Einfluss auf die Frage nach Krieg und Frieden im internationalem System hat, müssen Mechanismen, die Kriege zwischen Staaten im internationalem System minimieren, auf der Ebene der Struktur des internationalen Systems gesucht werden. Das Gleichgewicht der Mächte, welches Waltz in seiner Theorie zu einem Gesetz erhebt, ist ein solcher Mechanismus, dem er die Funktion zuschreibt, Kriege auf der Ebene des internationalen Systems (dies sind Kriege zwischen Großmächten) zu minimieren.

In der Beschreibung der Funktionsweise der „balance of power“ vermischt Waltz deskriptive und normative Elemente, ohne dass er sich dieses Spannungsverhältnisses bewusst ist oder es thematisiert. Denn einerseits erklärt Waltz die Entstehung von „balance of power“ aus strukturellen Zwängen (Masala 2005a, S. 55–58), andererseits empfiehlt er Großmächten, die „balance“ anzustreben, um die Übermacht eines Staates im internationalen System zu verhindern (Waltz 1979, S. 131–132, 1964, S. 882–884). Dem liegt die Überlegung von Waltz zugrunde, dass eine systemische Konfiguration, die durch die Übermacht eines Einzelnen gekennzeichnet ist, mit Instabilität im internationalen System einhergeht.

Für Waltz ist Unsicherheit ein Charakteristikum, unter dem alle Staaten im internationalen System agieren und interagieren: „States, like people, are insecure in proportion to the extent of their freedom. If freedom is wanted insecurity must be accepted“ (Waltz 1979, S. 112). Da das internationale System ein „large number system“ ist und in ihm große Ungleichgewichte hinsichtlich der Machtverteilung zwischen seinen Einheiten bestehen, existiert eine systemweite „imbalance of power“ (Waltz 1979, S. 131), die eine beständige Gefährdung für die schwachen Staaten bedeutet. Der Umkehrschluss dieser Feststellung müsste somit lauten, dass eine ungefähre Gleichheit aller Staaten (bezogen auf die Machtverteilung) anzustreben sei, weil dann jeder Staat in der Lage wäre, für seine Sicherheit selbst Sorge zu tragen (Kissinger 1963; Kohnstamm 1964). Das Resultat solcher Gleichheit wäre die Reduzierung von Konflikten zwischen den Einheiten und die Stabilisierung des Gesamtsystems. Waltz widerspricht dieser Annahme mit einem Blick auf die Geschichte, die lehrt, dass „inequality is inherent in the state system“ (Waltz 1979, S. 131), und geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass Ungleichheit zwischen den Einheiten eines anarchisch-dezentralisierten Selbsthilfesystems unvermeidbar ist, nein: Sie hat sogar Vorzüge für die Stabilität des Gesamtsystems (Waltz 1964). Entgegen der Auffassung, dass annähernde Gleichheit Stabilität produziert, wartet Waltz exakt mit der entgegengesetzten These auf. Gleichheit ist für ihn „associated with instability“ (Waltz 1979, S. 131).

In jeder politischen Gesellschaft, so argumentiert Waltz, sind eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Akteure für die Stabilität dieser Gesellschaft unverzichtbar, wobei die diversen Akteure nicht alle gleich mächtig oder gleich einflussreich sind und sein können. Diese Ungleichheit übt eine moderierende Wirkung auf die politischen Gesellschaften aus und sorgt für deren Stabilität. Der Versuch der Akteure, in einer Gesellschaft „gleich mächtig“ zu werden, würde die Stabilität dieser Gesellschaft gefährden: „[I]n a collection of equals, any impulse ripples through the whole society“ (Waltz 1979, S. 131). Auf das internationale System übertragen folgt daraus, dass „[t]he inequality of states, though it provides no guarantee, at least makes peace and stability possible“ (Waltz 1979, S. 132).

Somit ist zunächst einmal festzuhalten, dass ein internationales System, in dem nur wenige Mächte eine herausgehobene Position einnehmen, mehr Stabilität produziert, als ein internationales System, in dem die Akteure durch Gleichheit geprägt sind. Nun führt die anarchische Struktur des internationalen Systems jedoch dazu, dass die wenigen mächtigen Akteure beständig bestrebt sind, noch mächtiger zu werden, um das internationale System zu dominieren. Denn die größte Sicherheit, so die subjektive Wahrnehmung von Staaten, gibt es nur, wenn man „the only great power in the system“ (Mearsheimer 2001a, S. 2) ist. Da die Übermacht eines einzelnen Staates die Sicherheit der anderen Großmächte im System bedroht, werden diese versucht sein, den stärksten Staat auszubalancieren (Waltz 1979, S. 117–128; Mearsheimer 2001a, S. 41).

Eine nichtnormative Theorie der internationalen Politik, wie sie der Neorealismus – egal ob in der defensiven oder in der offensiven Spielart (Glaser 1994/1995) – vorgibt zu sein, müsste an dieser Stelle einhalten, da die grundlegende Dynamik der internationalen Politik aus neorealistischer Sicht dargestellt ist. Waltz hingegen – wie auch Mearsheimer – liefert jedoch eine Reihe von normativen Begründungen, warum die systemweite Dominanz eines einzelnen Staates nicht wünschenswert ist. Unter Rückgriff auf den französischen Schriftsteller François Fenelon (1651–1715) argumentiert Waltz z. B., dass ein Staat mit Machtpotenzialen, die alle anderen Staaten überragen, sich nicht mehr moderat in seiner Außenpolitik verhalten wird (Waltz 1993, S. 52–53) und damit der Versuchung erliegt, anderen Staaten seine Gerechtigkeitsvorstellungen, notfalls unter Einsatz militärischer Mittel, aufzuzwingen – sich somit als Weltexekutive und zugleich als Weltpolizist (Mearsheimer 2001a, S. 392) aufspielen wird. Dadurch würde die Übermacht Gegenmacht provozieren (Waltz 2000, S. 36, 1988, S. 49). Bereits hier wird deutlich, dass die Ablehnung von Übermacht im internationalen System bei Waltz normativ bedingt ist, da sie Sicherheit und Frieden gefährdet. Nur wenn die Übermacht „in check by any other country or combination of countries“ (Waltz 1993, S. 52) gehalten wird, wird sie sich moderat im Sinne von weniger aggressiv verhalten und dadurch die Stabilität und Friedfertigkeit des Systems erhöhen.

Die Ablehnung systemweiter Übermacht, die von den meisten Neorealisten geteilt wirdFootnote 3, führte nach 1990 zu diversen Überlegungen, wie die Vereinigten Staaten ihre systemweite Übermacht beibehalten können, ohne Gegenmachtbildung durch andere Staaten oder Staatenkoalitionen zu provozieren. Die verschiedenen Überlegungen, die in diesem Zusammenhang angestellt wurden, lassen sich alle mit dem Begriff „Kultur der Zurückhaltung“ bezeichnen. Walt (2005) z. B. empfahl den USA, sich weitestgehend aus Konflikten in Übersee herauszuhalten und nur dann aktiv einzugreifen, wenn die nationalen Interessen der USA gefährdet seien. Eine Fortführung des globalen Engagements der USA würde, auch wenn deren Intentionen gut gemeint seien, „alarm, irritate, and at times anger others“ (Walt 2005, S. 60). Mearsheimer (2001a) und Layne (2002) empfehlen den USA, sich auf die Strategie des „offshore-balancing“ zu beschränken. Diese sieht im Kern vor, dass die Vereinigten Staaten nur dann aktiv werden, wenn sich irgendwo auf der Welt eine Situation abzeichnet, in der sich ein anderer Staat oder eine Staatengruppe anschickt, die regionale Hegemonie über eine Landmasse zu erlangen. Die aus der Perspektive von John Mearsheimer und Stephen Walt traditionelle „grand strategy“Footnote 4 (2008, S. 339) der USA ist die einzige Möglichkeit, so Copeland (2000), Gegenmachtbildung gegenüber den Vereinigten Staaten zu vermeiden bzw. noch über einen gewissen Zeitraum hinauszuzögern.

Nachdem gezeigt wurde, dass der Neorealismus (und zwar sowohl in seiner defensiven wie auch in seiner offensiven Variante) auch normative Annahmen hat, soll in einem nächsten Schritt die Frage erörtert werden, warum sich Neorealisten so intensiv darum bemühen, politische Entscheidungen mit Blick auf Krieg und Frieden zu beeinflussen, obwohl sie in ihren theoretischen Schriften skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit sind, dass öffentliche und veröffentlichte Meinung oder gar akademische Ideen politische Entscheidungen beeinflussen können (Trachtenberg 2010, S. 9).

3 Neorealisten in der Agora

John Mearsheimer war zu Beginn der 1990er Jahre extrem skeptisch bezüglich der Möglichkeiten, via eines öffentlichen Diskurses politische Entscheidungen zu beeinflussen: „[P]ublic opinion about national security issues is notoriously fickle and responsive to elite manipulation“ (Mearsheimer 1990, S. 41). In seinem Buch über Lügen in der internationalen Politik zeigt er, dass Staatsmänner aus verschiedensten Beweggründen die Öffentlichkeit belügen, wenn es um Außenpolitik und auch um die Entscheidung, Krieg gegen andere zu führen, geht (Mearsheimer 2011). Dennoch ist es gerade John Mearsheimer, der sich seit Mitte der 1990er Jahre immer wieder, sei es alleine oder zusammen mit anderen prominenten Neorealisten, immer dann in die öffentliche Debatte einschaltet, wenn es aus seiner Sicht darum geht, bestimmte Entscheidungen – vornehmlich der US-Administrationen – zu kritisieren oder gar zu beeinflussen. Mearsheimer selbst ist es, der Hinweise darauf gibt, dass sein Engagement von starken ethischen und normativen Beweggründen geleitet wird, die unter dem Stichwort der sozialen Verantwortung der Politikwissenschaft gegenüber der Gesellschaft subsumiert werden können. Dabei – und dies ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse – stellt er sein politisches Engagement in einen direkten Zusammenhang mit seinem theoretischen Denken und begibt sich dadurch selbst in einen Widerspruch zu der immer wieder in seinen theoretischen Schriften vorzufindenden Skepsis gegenüber einem möglichen Einfluss der Agora auf die Politik.

One thing that bothers me greatly about most political scientists today is that they have hardly any sense of social responsibility. They have hardly any sense that they’re part of the body politic and that the ideas that they are developing should be articulated to the body politic for the purposes of influencing the public debate and particular policies in important ways. They believe that they’re doing ‚science’, and science is sort of an abstract phenomenon that has little to do with politics. In fact, I think exactly the opposite should be the case. We should study problems that are of great public importance, and when we come to our conclusions regarding those problems, we should go to considerable lengths to communicate our findings to the broader population argument here, by the way, for coming up with particular answers to important questions. In fact, if different scholars come up with different answers, fine. But in a democracy like the United States, you want to have a very healthy public debate about the key issues of the day. And I think that scholars can go a long way towards making that debate richer and healthier so that we can help influence the debate in positive ways. (Mearsheimer 2002a, S. 4)

Zwei Sachverhalte werden durch dieses Zitat verdeutlicht. Zum einen, dass Neorealisten eine besondere Verantwortung der – zumeist durch Steuergelder finanzierten –Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft sehen und zum anderen, dass Neorealisten durchaus die Möglichkeit sehen, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Denn obwohl die neorealistische Theorie davon ausgeht, dass die Struktur des internationalen Systems staatliches Verhalten beschränkt und beeinflusst, so gestehen sie dem Staatsmann und der Staatsfrau dennoch eine gewisse Entscheidungsfreiheit zu (Desch 2003, S. 420).

Und exakt diese Kombination aus Verantwortungsethik (Weber 1992 [1919], S. 70–71) und angenommenem Handlungsspielraum politischer Entscheidungsträger erklärt auch, warum sich Neorealisten so häufig durch „op-eds“ und Policy-Artikel oder durch Fernsehauftritte in der Agora betätigen. Die Verbindung beider Elemente führte dazu, dass Neorealisten im Jahr 2004 eine Nichtregierungsorganisation namens Coaliton for a Realistic Foreign Policy gegründet haben, deren „mission statement“ deutlich macht, dass es den Gründern dieser NGOFootnote 5 um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und darüber der politischen Entscheidung geht.

The Coalition for a Realistic Foreign Policy is a group of scholars, policy makers and concerned citizens united by our opposition to an American empire. The Coalition is dedicated to promoting an alternative vision for American national security strategy that is consistent with American traditions and values. The Coalition has attracted interest and participation from individuals from across the political spectrum. The effort began as an informal study group, but has evolved into a formal response to the prominent think tanks and publications that are openly advocating an activist American foreign policy in which the United States would use its predominant military and economic power to promote change abroad. While few oppose the goal of political and economic liberalization, many individuals question both the morality and the efficacy of using military force and diplomatic pressure to achieve these aims. (Coalition 2004)

Sie erklärt auch, warum prominente Neorealisten, wie Stephen Walt, zunehmend neue Medien benutzen (Blogs), um die öffentliche Debatte zu beeinflussen.Footnote 6 Und trotz der Tatsache, dass es Neorealisten nicht gelang, die Bush-Administration von ihren Plänen, einen Krieg gegen den Irak zu führen, abzubringen (Payne 2007, S. 506), zogen sich Wissenschaftler wie Waltz, Mearsheimer, Walt, Layne, Art und Pape, um nur einige zu nennen, nicht frustriert aus dem öffentlichen Diskurs über internationale Politik und amerikanische Außenpolitik zurück, sondern bleiben bis heute in dieser Debatte engagiert involviert. Die Tatsache, dass sich Neorealisten nicht „beleidigt“ aus der öffentlichen Debatte mit dem Verweis darauf, dass gesellschaftliche Diskurse politische Entscheidungen nicht beeinflussen können, wie sie es in ihrer Theorie vermuten, verabschiedet haben, kann als Indiz für die Tatsache herangezogen werden, dass die in der neorealistischen Theorie implizit vorhandenen normativen Annahmen einen solchen Rückzug nicht zulassen. Wenn man akzeptiert, dass die neorealistische Theorie auch normative Aussagen über die Frage, wie die internationale Politik beschaffen sein soll, trifft, dann erscheint das Policy-Engagement neorealistischer Theoretiker nur folgerichtig und lässt sich somit nicht von der theoretischen Denkweise trennen.

4 „Pointless Wars“: Neorealisten und Afghanistan

Diesen Ausdruck benutzt Waltz (2003/2004, S. 37).

Wenn man nun der Frage nachgeht, wie Neorealisten das Engagement der USA sowie der NATO in Afghanistan beurteilen, dann verwundert es nicht, dass das Gros der neorealistisch arbeitenden Wissenschaftler diesem Engagement skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal lehnen die meisten Neorealisten den Versuch des Aufbaus westlicher Staatsstrukturen als unrealistisch ab. Zum Zweiten fürchten sie, dass die Politik des „Westens“ in Afghanistan, hier insbesondere die militärische Strategie, letzten Endes mehr Widerstand in der muslimischen Welt erzeugt, als es ihm Sympathien einbringen wird.

Die Entscheidung der Bush-Administration zur militärischen Intervention in Afghanistan mit dem doppelten Ziel der Zerstörung Al-Qaidas und der Vertreibung der Taliban von der Macht in Kabul wurde von einigen Neorealisten zunächst als die richtige Antwort auf die Anschläge von 9/11 begrüßt. Insbesondere der Schwenk der Bush-Administration von der Ablehnung eines Engagements im „nation-state-building“, so wie es in der Wahlkampfzeit häufig zu hören war, hin zu der Einsicht, dass es mit Blick auf Afghanistan keine Alternative gebe, fand bei Neorealisten Zustimmung (Walt 2001/2002, S. 69; Schwarz 2005, S. 35). Aber der Aufbau funktionierender Staatlichkeit in Afghanistan müsse einhergehen mit einer ganzen Reihe von diplomatischen Maßnahmen, die darauf abzielen müssten, das schlechte Image der USA in der arabischen Welt zu verbessern. Im Zentrum dieser Bemühungen sollten die USA die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts rücken (Mearsheimer 2005, S. 2; Walt 2005, S. 232–233; Hacke 2009a). Kritisiert wurde bereits in einem frühen Stadium die militärische Strategie der Vereinigten Staaten. Angesichts der historischen Erfahrung sowie der topographischen Gegebenheiten in Afghanistan sei eine ausschließliche Konzentration auf Luftstreitkräfte wenig Erfolg versprechend (Mearsheimer 2001b, S. 13). Ferner erschien es von Beginn an problematisch, die Nord-Allianz als Auxiliartruppen für die bevorstehende Bodenoffensive zu benutzen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass sich problematische Bündnispartner wie der usbekische General Dostum an führender Stelle in dieser Allianz befanden. Anstatt militärischer Maßnahmen, so Mearsheimer (2001b), wäre es sinnvoller „[to] rely on bribery, covert action […] and increased humanitarian aid […] to break apart the Taliban and to replace it with a regime that does not support Al Qaeda.“ Dies aus der Feder eines offensiven Realisten zu hören, der in seiner eigenen Theorie militärische Macht überhöht, ist schon erstaunlich.

Die in den USA bald nach 9/11 ausbrechende Diskussion um einen Regimewechsel im Irak ließ auch unter neorealistischen Wissenschaftlern den Afghanistan-Konflikt zunächst in Vergessenheit geraten. Dennoch gab es in den Diskussionen um die Sinnhaftigkeit einer militärischen Intervention im Irak einen direkten Bezug zu Afghanistan, und zwar dergestalt, dass Neorealisten sich skeptisch hinsichtlich der Annahme äußerten, demokratische Transformation in muslimischen Staaten unter Rückgriff auf militärische Mittel herbeizuführen: „There are many reasons to think that spreading democracy with military force is not an effective way to build democracy in Iraq, or any other place for the matter“ (Mearsheimer 2005, S. 5). Insbesondere unter deutschen Wissenschaftlern wurde die überhöhte Zielperspektive des Einsatzes, die vor allem seitens der deutschen Bundesregierungen immer wieder als Legitimation für diesen Einsatz herangezogen wurde, kritisiert (Schwarz 2005, S. 95; Kaim 2011; Tettweiler 2010; Masala 2009). Unterstützt wurde diese Skepsis durch die Arbeit von Edelstein (2004), der mittels einer „large-n“-Studie zeigte, dass die militärische Besatzung von Ländern selten zu einer Systemtransformation in diesen geführt hat, sondern eher den militärischen Widerstand bei der einheimischen Bevölkerung verstärkte.Footnote 8

Die von der Bush-Regierung propagierte Transformation der arabischen Welt wurde von Neorealisten mit Blick auf die generelle Skepsis gegenüber der Universalisierung von Werten und Normen hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten skeptisch betrachtet. Dadurch geriet auch das amerikanische Engagement in Afghanistan in die Kritik. An die Stelle militärisch betriebener Systemtransformation müsse der Kampf um Ideen treten (Krause und van Evera 2009, S. 130). Die Fortführung der militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan und die mögliche Ausweitung auf andere Staaten („axis of the evil“) seien dazu geeignet, den globalen Widerstand gegen die unipolare Stellung der USA eher zu befördern, als ein sicherheitspolitisches Umfeld zu schaffen, das die USA sicherer macht (Mearsheimer 2002b, S. 14; Link 2004, S. 57–59).

Die Tatsache, dass die Stärke der Taliban weiter zunahm, je länger das militärische Engagement in Afghanistan dauerte, wurde von Jones (2008) in diesem Sinne interpretiert. Die militärische Bekämpfung der Taliban wird seitens neorealistisch arbeitender Wissenschaftler kritisiert, weil sie – infolge der kaum zu vermeidenden Kollateralschäden an Zivilisten – zum einen den Widerstand gegen die internationalen Truppen verstärkt (Steward 2008, S. 5) und zum anderen nicht dahingehend differenziert, dass es sich bei den Taliban um eine heterogene Koalition handelt, die nur durch ihre Opposition gegen die Karzai-Regierung sowie die Präsenz der ISAF zusammengehalten wird (Fotini und Semple 2009, S. 40; Münkler 2010).

Das Argument, wonach man in Afghanistan engagiert bleiben müsse, um zu verhindern, dass das Land erneut zu einem „safe haven“ für Terroristen werde, wird ebenfalls angezweifelt. Denn zum einen geht es davon aus, dass das primäre Ziel der Taliban (oder einzelner Gruppen innerhalb dieser Koalition) Angriffe auf die USA und ihre Verbündeten wären. Nach der Erfahrung, die radikale Fraktionen der Taliban nach 9/11 machen mussten, erscheint es jedoch, so Stephen Walt (2009b), recht unwahrscheinlich, dass diese Gruppen es Terroristen erlauben würden, auf afghanischem Boden erneut Trainingscamps zu unterhalten. Die Suche nach einer politischen Lösung, die auch Kräfte der Taliban einbeziehen würde, scheint hier eine vielversprechendere Strategie zu sein (Tettweiler 2010), da sie diese Kräfte unter den Taliban möglicherweise nationalisieren und zugleich dem Einfluss des pakistanischen Geheimdienstes entziehen würde (Steward 2009, S. 4). Letzten Endes, so argumentieren viele Neorealisten, seien auch die Taliban primär national und damit an Afghanistan orientiert – und nicht globale Jihadisten, wie sie seitens der Politik oftmals dargestellt werden (Steinberg et al. 2010). Aus den dargelegten Gründen hält das „Safe haven“ -Argument, das in der amerikanischen und auch deutschen Debatte die massive Militärpräsenz in Afghanistan legitimieren soll, der Realität nicht stand.

Wenn aber das „Safe haven“-Argument die militärische Präsenz in Afghanistan nicht mehr legitimiert, dann gibt es auch für die internationale Koalition keinerlei Grund mehr, in Afghanistan zu bleiben. Ein geordneter Rückzug und die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen ist dann die Konsequenz, die auch von den meisten Neorealisten befürwortet wird. Sollte wider Erwarten Afghanistan erneut zu einem Sanktuarium für Terroristen werden, dann könnten die USA und ihre Verbündeten die Präsenz dieser Gruppen auf afghanischem Boden mit Drohnen und dem Einsatz von Special Forces bekämpfen (Mearsheimer 2009b, S. 2).

Zuletzt sorgen sich Neorealisten um das Image des „Westens“ in der Welt. Denn das eiserne Festhalten an Hamid Karzai als afghanischen Präsidenten schädigt die Glaubwürdigkeit westlicher Werte und Traditionen. Solange wie die Koalitionsstreitkräfte einen Wahlbetrüger unterstützen, dessen halbes Kabinett korrupt sowie im afghanischen Drogenhandel verstrickt ist und dessen Bruder als einer der größten Drogenbarone des Landes gilt (Maaß 2010), solange wird der Westen nicht mehr in der Lage sein, mit Glaubwürdigkeit für die Verbreitung seiner Werte in der Welt einzustehen. Der durch das afghanische Abenteuer (zusammen mit dem irakischen Abenteuer) erfahrene Ansehensverlust des Westens in der Welt ist auch für viele Neorealisten besorgniserregend (Greenwald 2011; Münkler 2010).

Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Neorealisten dem Afghanistan-Einsatz skeptisch gegenüberstehen. Waren sie anfangs noch uneins über die Frage, ob die militärische Invasion im Jahre 2001 mit dem Doppelziel der Zerstörung Al-Qaidas und dem Sturz der Taliban sinnvoll sei oder nicht, so gibt es spätestens seit der Irak-Invasion die einheitliche Auffassung, dass der Afghanistan-Einsatz „mission creep“ ist. Vier Gründe lassen sich hierfür festmachen. Zunächst besteht eine einhellige Auffassung darüber, dass Afghanistan keine Bedrohung für die amerikanische Sicherheit darstellt. Al-Qaida hat Afghanistan verlassen und sich in Pakistan und Jemen eingenistet. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanistan erneut zu einem sicheren Hafen für globale Jihadisten werden könnte, erachten die meisten Neorealisten als gering. Zweitens befürchten Neorealisten, dass die seit nunmehr zehn Jahren andauernde Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Afghanistan (und darüber hinaus auch im Irak und in Zentralasien) Gegenmachtbildung provoziert und in den Ländern, in denen die USA militärisch präsent ist, den Widerstand nationalistischer Kräfte anfacht. Drittens sorgen sich Realisten darum, dass das Image der USA in der muslimischen Welt unter der Doppelbödigkeit amerikanischer Politik im Irak und in Afghanistan leiden könnte. Denn Demokratie und Menschenrechte zu propagieren und unter anderem als Legitimationsgrund für militärisches Eingreifen heranzuziehen, zugleich aber vor Ort mit undemokratischen und korrupten Kräften zusammenzuarbeiten, erhöht nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit amerikanischer Politik in der arabischen Welt. Viertens sind Neorealisten skeptisch hinsichtlich der Universalität von Normen. Demokratieexport, sei es zivil oder mit einem Gewehr im Anschlag, ist problematisch in Regionen, in denen es keine historische Erfahrung mit demokratischen Strukturen und Prozessen gibt. Insbesondere wenn der Demokratieexport mit Waffengewalt vorangetrieben wird, kann dies die Idee demokratischer Staatsformen und der Universalität bestimmter Werte eher diskreditieren als befördern.

5 Fazit

Der vorliegende Beitrag ging von einem doppelten „puzzle“ aus. Erstens der Beobachtung, dass der Neorealismus sich als eine deskriptiv-analytische Theorie präsentiert, die bewusst auf normative Elemente verzichtet, Neorealisten aber zu den engagiertesten Wissenschaftlern in öffentlichen Debatten um Policy-Fragen gehören und dort normativ, im Sinne von was muss/sollte getan werden, argumentieren. Insbesondere wenn es in solchen Debatten um die Frage des Einsatzes militärischer Macht geht – einem Aspekt, der in der neorealistischen Theorie einen prominenten Platz einnimmt –, erweisen sich Neorealisten im Allgemeinen als äußerst zurückhaltend, dem Einsatz von Streitkräften das Wort zu reden. Zweitens von der Tatsache, dass öffentlichen Debatten in der neorealistischen Theorie wenig Einfluss auf die Entscheidung politischer Akteure beigemessen wird, neorealistisch arbeitende Wissenschaftler sich jedoch mit Verve immer wieder an solchen Debatten beteiligen mit dem Ziel, bestimmte außenpolitische Entscheidungen zu beeinflussen bzw. auf deren Korrektur hinzuwirken.

Ausgehend von diesem „puzzle“ stellte der Beitrag die These auf, dass der Neorealismus in seiner Theorie durchaus einen normativen Kern hat, der jedoch nicht, wie Kritiker ihm immer wieder vorgeworfen haben, in der Maxime „Kampf aller gegen alle“ liegt, sondern in einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der Universalisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen sowie der Existenz von systemweiter Übermacht. Treffen beide Faktoren zusammen, befürchten Neorealisten systemweite Instabilitäten und zunehmende Konflikte zwischen Großmächten, die gegebenenfalls in einem systemweiten Krieg münden können.

Ausgehend von dieser These legte der vorliegende Beitrag zunächst den normativen Kern neorealistischer Theorie frei. Er zeigte, dass während die Normativität in der Theorie von Kenneth Waltz durchaus offen thematisiert wird (allerdings eher in seinen früheren Schriften als in seinem Hauptwerk Theory of International Politics), normative Aussagen bei John Mearsheimer eher implizit vorzufinden sind. Das Vorhandensein normativer Aspekte sowohl im Waltzschen als auch im Mearsheimerschen Realismus kollidiert immer wieder mit der Betonung beider Autoren, dass der Neorealismus eine wertfreie Theorie sei. Insbesondere anhand der Debatte um die Zukunft amerikanischer Vormachtstellung in Zeiten der Unipolarität wurde deutlich gemacht, dass Neorealisten ihre Vorstellungen aus dem normativen Gehalt der Theorie beziehen.

Anschließend wandte sich der vorliegende Beitrag der Frage zu, warum Neorealisten immer wieder an öffentlichen Diskursen zur Außenpolitik teilnehmen, obgleich sie in ihren theoretischen Schriften eher skeptisch sind, was die Wirkung dieser Debatten auf die politisch Handelnden betrifft. Hier wurde anhand von John Mearsheimer gezeigt, dass neorealistische Fachvertreter in den 1990er Jahren eine Wandlung vollzogen haben. Aus ethischen Beweggründen sehen es die meisten neorealistischen Wissenschaftler als ihre Pflicht an, sich in öffentliche Debatten prominent einzubringen, in diesen Diskursen die Ergebnisse ihrer Forschung zu präsentieren und daraus Empfehlungen für spezifische Politikfelder abzuleiten. Hier wird deutlich, dass es also einen direkten Zusammenhang zwischen neorealistischer Forschung und dem Agieren von Neorealisten im öffentlichen Raum gibt. Wenn neorealistische Theorie keinen normativen Kern hätte, dann könnten Neorealisten in diesen Debatten auch nicht ähnlich argumentieren.

Das darauf folgende Kapitel thematisierte die Frage, wie Neorealisten den Afghanistan-Einsatz beurteilen. Die Verbindung zwischen dem normativen Kern neorealistischer Theorie, so wie er im zweiten Kapitel des vorliegenden Beitrages herausgearbeitet wurde, und der Einschätzung des Afghanistan-Einsatzes sind evident. Die Skepsis gegenüber dem Engagement der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan resultiert aus einer theoretischen Skepsis gegenüber der Universalisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen sowie den Effekten, die der Einsatz militärischer Macht seitens der einzig verbliebenen Supermacht im internationalen System hervorruft. Neorealisten befürchten, dass sich Gegenmachtkoalitionen bilden werden, dass der internationale Terrorismus wegen des Afghanistan-Einsatzes die USA und ihre Verbündeten noch stärker ins Visier nehmen wird, und dass das ohnehin schon schlechte Image der USA in der arabischen Welt aufgrund des Einsatzes in Afghanistan (aber auch im Irak und neuerdings auch in Libyen) eine weitere Verschlechterung erfährt.

Afghanistan stellt aus neorealistischer Sicht keine Bedrohung für die Sicherheit der USA oder anderer NATO-Staaten dar. Deshalb, so sind sich alle Neorealisten unisono einig, gibt es auch keinerlei Grund, die massive militärische Präsenz der USA und ihrer Verbündeten am Hindukusch noch weiter aufrechtzuerhalten. Die Befürchtung ist, dass sich Afghanistan zu einem zweiten Vietnam für die USA entwickeln könnte: „It’s a bad war from the start and will be to the bitter end“ (Mearsheimer 2009b, S. 2). Sinnvoller sei es, so würden Neorealisten argumentieren, den geordneten Rückzug aus Afghanistan anzutreten. Dies gilt umso mehr für die Bundesrepublik Deutschland, die sich in Afghanistan aus Solidarität zum Allianzhegemon befindet und – so Neorealisten – keine eigenen nationalen Interessen dort vertritt.Footnote 9

Was folgt aus alldem? Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrages, welches in der Frage nach dem normativen Gehalt neorealistischer Theorie bestand, kann es nur eine Schlussfolgerung geben. Neorealisten sollten in Zukunft den normativen Kern ihrer Theorie deutlicher betonen. Denn wenn sie dies nicht tun, werden sie sich auch zukünftig dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass sie Militaristen seien und ihre Theorie inhärente Widersprüche deshalb aufweise, weil sie weiterhin darauf beharre, wertfrei zu sein. Den normativen Kern deutlicher zu betonen, ihn stärker herauszuarbeiten, würde nicht nur helfen, Widersprüche in der Theorie zu überbrücken. Es würde auch dazu dienen, den Neorealismus als das zu präsentieren, was er immer war und auch in Zukunft sein wird: Eine Theorie, bei der die Frage, wie systemweiter Frieden aufrechterhalten und wie systemweite Stabilität (im Sinne der Abwesenheit von Kriegen zwischen Großmächten) garantiert werden kann, prominent im Vordergrund steht. Eine neorealistische Antwort darauf lautet, dass sich Großmächte mit dem Einsatz militärischer Macht zurückhalten und nicht der Versuchung nachgeben sollen, unsinnige Kriege für subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen anzuzetteln.