Rehabilitation und Rehabilitationsmodelle

Eine zentrale Errungenschaft moderner Strafrechtssysteme stellt die Trennung von Strafe als unmittelbare Antwort auf ein Vergehen und Rehabilitation als nachfolgende Unterstützungsmaßnahme für die soziale Reintegration dar [1]. Während Strafe eher auf die „Disziplinierung von Normabweichenden“ und damit auf die Tradierung bestehender Normgefüge abzielt [2], soll sich mithilfe rehabilitativer Maßnahmen ein straffällig gewordener Mensch wieder im bestehenden Regelsystem einer Gesellschaft zurechtfinden. Rehabilitation kann in Anlehnung an Wade und de Jong [3] als aktiver, erzieherischer, problemlösender und sich wiederholender Prozess begriffen werden, der auf das Verhalten bzw. die Einschränkungen einer Person ausgerichtet ist und die folgenden Komponenten umfasst:

  1. (1)

    Einschätzung: Bestimmung von Art und Ausmaß der Probleme eines Klienten sowie lösungsrelevanter Faktoren,

  2. (2)

    Zielsetzung,

  3. (3)

    Intervention, einschließlich:

    1. (a)

      Behandlungsmaßnahmen zur Anregung von Veränderungen und

    2. (b)

      Unterstützungsmaßnahmen zur Erhaltung von Lebensqualität und Sicherheit eines Klienten sowie

  4. (4)

    Evaluation: Beurteilung der Interventionseffekte.

Mit Ward und Maruna [4] ist zu ergänzen, dass Interventionen dabei nicht nur auf die Veränderung einer Person, sondern auch auf die Veränderung ihrer Umgebung gerichtet sein können. Dies stellt einen zentralen Unterschied zur rein psychotherapeutischen Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen dar.

Eine zentrale Orientierungshilfe für die praktische Arbeit bieten die von Andrews und Bonta formulierten Prinzipien „risk“, „need“ und „responsivity“ (RNR, 5). Gemäß dem Risk-Prinzip sollen umso mehr Ressourcen auf Klienten entfallen, je höher deren abgeschätztes Risiko für erneute Straftaten ist. Nach dem Need-Prinzip sollten dabei alle Interventionen auf die Eigenschaften des Probanden gerichtet werden, die mit dessen kriminellem Verhalten in Verbindung stehen. Hierzu können prokriminelle Einstellungen, problematische Persönlichkeitsaspekte (Impulsivität, Feindseligkeit, Reizbarkeit), eingeschränkte Problemlösefähigkeiten, Suchtmittelgebrauch und ein prokriminelles Umfeld zählen. Die Maßnahmen sollten dem Responsivity-Prinzip entsprechend auf die Besonderheiten des Klienten abgestimmt sein, sodass dieser möglichst gut auf die Intervention anspricht. Typisch zu berücksichtigende Besonderheiten von Klienten sind sprachliche Fähigkeiten, soziale Kompetenzen sowie der Grad an Motivation oder Ängsten.

Ward und Maruna [4] setzten sich kritisch mit den RNR-Prinzipien, ihrer empirischen Basis und deren theoretischen Hintergründen auseinander. Aus ihrer Analyse zogen die Autoren den Schluss, dass das RNR-Modell – worunter die Autoren die Kombination von formulierten Prinzipien und zugrunde liegenden theoretischen Annahmen verstehen – die derzeit bedeutsamste Rehabilitationstheorie mit einer beeindruckenden Zahl empirisch stützender Befunde darstellt. Problematisch bleibt neben theoretischen Mängeln jedoch, dass das Modell Praktikern für den direkten Kontakt mit straffällig gewordenen Personen nur im geringen Maße Orientierung bietet. Insbesondere vernachlässigten Aspekten, wie dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung oder einer Veränderungsmotivation, versuchten Ward et al. daher mit der Formulierung ihres alternativen Ansatzes, dem Good Lives Model (GLM, [1, 4, 6]), zu begegnen. Dabei wurde das Modell insbesondere aus dem Umgang mit Menschen entwickelt, die eine Sexualstraftat begangen hatten. Die theoretischen Überlegungen können jedoch auch auf den Kontakt mit Probanden übertragen werden, die aufgrund anderer Straftaten verurteilt wurden. Das GLM ist also keine Therapieform oder eine spezielle Therapietechnik, sondern (wie das RNR) ein Rehabilitationsmodell. Zentraler Gedanke des Modells ist, dass die professionelle Unterstützung von straffällig gewordenen Menschen beim Führen eines guten Lebens die Motivation zu straffälligem Verhalten reduzieren oder sogar eliminieren sollte. Straftaten sind aus Sicht der Autoren mit Schwächen, die allgemeinen menschlichen Bedürfnisse zu erreichen, assoziiert. Wenn professionelle Hilfe dazu beiträgt, dass straffällig gewordene Individuen die notwendigen Ressourcen für ein zufriedenstellendes Leben erreichen können, sollten sich die kriminogenen Eigenschaften verringern.

Was macht ein gutes Leben aus?

Ähnlich den Überlegungen der positiven Psychologie nehmen Ward et al. [1, 4, 6] an, dass alle Menschen bestimmte Grundbedürfnisse versuchen zu stillen und ein hohes Maß an persönlicher Zufriedenheit erleben, wenn diese natürlichen Wünsche befriedigt werden. Das Streben nach der Erfüllung dieser Bedürfnisse wird als natürliche Eigenschaft aller Menschen aufgefasst. Zwar existieren individuell verschiedene Varianten der Befriedigung, ihrer Funktion nach ist die Zahl der Grundbedürfnisse jedoch endlich, die in der Terminologie des GLM primäre Güter (engl.: „primary goods“) genannt werden. Diese sind als Sachverhalte, Gemütszustände, persönliche Eigenschaften, Aktivitäten und Erfahrungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit seelisches Wohlbefinden erzeugen, definiert. Alle primären Güter sind von intrinsischem Wert, d. h., ihre Befriedigung stellt das ultimate Ziel menschlichen Strebens dar.

Anhand psychologischer, sozialwissenschaftlicher, biologischer und anthropologischer Überlegungen wurden folgende primäre Güter unterschieden [1]:

  1. 1.

    Leben: körperliche Bedürfnisse und Faktoren, die für ein gesundes Leben und eine physische Funktionsfähigkeit bedeutsam sind;

  2. 2.

    Wissen: das Bedürfnis, bestimmte Dinge über sich selbst, andere Personen oder die natürliche Umgebung zu verstehen;

  3. 3.

    Vortrefflichkeit in Spiel und Arbeit: das Bedürfnis, Aktivitäten aufzunehmen und sich in diesen fortlaufend zu verbessern;

  4. 4.

    Autonomie: das Bedürfnis, eigene Ziele zu formulieren und diese in selbstbestimmter Art und Weise zu verfolgen, ohne durch andere hierin beeinträchtigt zu werden;

  5. 5.

    innerer Frieden: das Bedürfnis, mit Gefühlen umzugehen und einen Zustand emotionalen Ausgleichs erreichen zu können;

  6. 6.

    Verbundenheit: das Bedürfnis, warme und liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten;

  7. 7.

    Gemeinschaft: das Bedürfnis, sozialen Gruppen anzugehören, die die eigenen Werte, Sorgen und Interessen teilen;

  8. 8.

    Spiritualität: das Bedürfnis, im eigenen Leben Bedeutung und Sinn zu finden;

  9. 9.

    Glück: das Bedürfnis nach Vergnügen, einschließlich sexueller Zufriedenheit sowie der Erfahrung, mit dem eigenen Leben einverstanden und zufrieden zu sein;

  10. 10.

    Kreativität: das Bedürfnis nach Neuem und Erfinderischem, anderen Herangehensweisen oder dem Hervorbringen von neuen, künstlerischen oder kreativen Werken.

Aus Sicht der Autoren ist die Zahl der oben aufgeführten Güter möglicherweise nicht vollständig, vor dem Hintergrund bisherigen Wissens sollten die aufgeführten Güter aber in anderen Zusammenfassungen in ähnlicher Form mindestens enthalten sein. Die Autoren nehmen an, dass für ein zufriedenstellendes Leben alle primären Güter in einem bestimmten Grad erreicht werden müssen, ihre Gewichtung kann sich individuell jedoch durchaus unterscheiden. Zusätzlich wird von einem zentralen primären Gut (engl.: „overarching good“) ausgegangen, welches für das jeweilige Individuum am bedeutsamsten ist [1].

Wie bereits angemerkt, unterscheiden sich interindividuell die Mittel und Ziele, mit deren Hilfe die primären Güter befriedigt werden. So mag eine Person das Bedürfnis nach innerer Verbundenheit durch eine Liebesbeziehung stillen, während eine andere Erfüllung in einer engen Freundschaft findet. Diese Manifestationen werden sekundäre Güter (engl.: „secondary goods“) genannt. Aus Sicht des Modells wählen Menschen diese vor dem Hintergrund ihrer durchaus ungleichen Sozialisationsbedingungen aus. Durch diesen Selektionsprozess bildet sich in der Entwicklung die praktische Identität (engl.: „practical identity“) einer Person, d. h. Individuen formen ein Verständnis über sich und ihre Prioritäten anhand ihres alltäglichen Handelns. Praktische Identitäten sind in der Regel eng mit dem zentralen Gut assoziiert, werden im Verlauf durch das spezifische Umfeld gestützt und stabilisieren ihrerseits das weitere Streben nach sekundären Gütern. So könnte beispielsweise eine Person ihr Bedürfnis nach Verbundenheit (primäres, zentrales Gut) durch den Aufbau einer eigenen Familie (sekundäres Gut) stillen. Durch das Engagement hierfür könnte sich die praktische Identität eines Familienvaters herausbilden, die ihrerseits das starke Engagement für die Familie stabilisieren würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit solchen Identitäten oftmals eine Reihe von thematisch miteinander verbundenen Aufgaben und Zielen einhergeht. So könnte das Selbstbild eines Familienvaters beispielsweise beinhalten, sich für die Erziehung der Kinder Zeit zu nehmen und die finanzielle Versorgung der Familie zu sichern. Für das Erreichen solcher Ziele und damit einhergehend der sekundären und primären Güter sind bestimmte personengebundene Fähigkeiten und kontextgebundene Ressourcen notwendig. So müsste der Familienvater in dem Beispiel in der Lage sein, mit schwierigen Situationen im Kontakt mit seinen Kindern umzugehen und über eine Arbeit verfügen, die ausreichend Zeit für Erziehung lässt und finanziell die Versorgung der Familie ermöglicht [1].

Kriminelles Verhalten aus Sicht des GLM

Kriminelles Verhalten wird der Theorie nach als gleichermaßen mit den beschriebenen Grundbedürfnissen assoziiert verstanden. Jedoch sind die internalen oder externalen Bedingungen und Fähigkeiten fehlerhaft oder unvollständig ausgebildet, sodass betroffene Personen Schwierigkeiten haben, in ihrer spezifischen Umwelt eine zufriedenstellende Lebensführung mit prosozialer Ausrichtung zu realisieren. Somit stellen also nicht die zugrunde liegenden Bedürfnisse das Problem dar. Vielmehr werden in den internalen oder externalen Mängeln bedeutsame Risikofaktoren für kriminelles Verhalten gesehen, wobei Risiko damit nicht nur als personengebunden, sondern auch durch spezifische, kulturelle und situative Kontexte bedingt verstanden wird. Ward et al. [1, 4] differenzieren insbesondere vier Schwierigkeiten, die oftmals in Kombination auftreten, konzeptionell jedoch verschieden sind: Erstens können Individuen inadäquate Mittel einsetzen, um Ziele zu erreichen. Zweitens könnte der Rahmen in zu starkem Maße auf wenige Güter eingeengt sein, sodass andere Güter gänzlich in der Lebensführung einer Person fehlen. Drittens könnten Menschen in Konflikte geraten, wenn das Streben nach mehreren Gütern nicht miteinander vereinbar ist, was letztendlich mit einem Mangel an Zielstrebigkeit einhergeht. Und viertens kann es an Fähigkeiten fehlen, realistische Pläne zu entwerfen, umzusetzen oder an neue Umstände anzupassen. Entsprechend postulieren Ward et al. einen direkten und einen indirekten Weg in kriminelles Verhalten: Direkt erfolgt der Einstieg, wenn sich ein Individuum primäre Güter durch kriminelle Aktivitäten zu sichern versucht. So mag eine Person das primäre Gut von Verbundenheit beispielsweise nicht erreichen, da sie keine intime Beziehung mit einem Erwachsenen einzugehen vermag und darüber hinaus in ihrer derzeitigen Umwelt keine Gelegenheiten zum Aufbau einer solchen Beziehung hat. Ein sexueller Übergriff wäre dann als Mittel zu interpretieren, das primäre Gut von Intimität zu erreichen. Für Individuen, die auf direktem Wege in kriminelle Aktivitäten geraten, werden tendenziell größere psychosoziale Einschränkungen, Annäherungsziele und ein höheres Rückfallrisiko postuliert.

Indirekt hingegen verläuft der Weg, wenn sich als Reaktion auf das starke Streben nach einem primären Gut oder mehreren primären Gütern die persönlichen Lebensumstände einer Person plötzlich verändern, sodass kriminelles Verhalten begünstigt wird. So könnte beispielsweise der immense Wunsch nach Autonomie zum Ende einer intimen Partnerschaft führen und Gefühle von Einsamkeit und Trauer hervorrufen. Würde der Konsum von Alkohol dann zur Regulation dieser Emotionen genutzt werden, könnte sich im weiteren Verlauf ein Kontrollverlust einstellen, der das Risiko für zukünftige Straftaten erhöhen würde. Folgen Personen einem indirekten Weg in die Delinquenz, werden eher begrenzte, psychosoziale Einschränkungen, Vermeidungsziele und ein mittelmäßiges bis geringes zukünftiges Risiko vermutet [1, 4].

Schließlich muss den oben aufgeführten Zusammenhängen nach berücksichtigt werden, dass je nach Sozialisationsbedingungen eine praktische Identität über kriminelles Verhalten gebildet werden kann, die wiederum mit einer Reihe von Aufgaben und Teilzielen einhergeht. Entsprechend könnte die praktische Identität eines vollwertigen Mitglieds eines Rockerclubs, über die das Bedürfnis nach Gemeinschaft befriedigt wird, Kriminelles beinhalten. Auch hier wäre dann zu berücksichtigen, dass durch die Clubmitglieder entsprechende Aktivitäten gestützt würden, wobei die Identität als vollwertiges Mitglied ihrerseits das kriminelle Handeln stabilisieren würde.

Praktische Arbeit nach dem GLM

Nach den bisherigen Überlegungen ergeben sich verschiedene Anforderungen an die Diagnostik und Therapie, die nachfolgend dargestellt werden. Grundsätzlich sollten Klienten während der gemeinsamen Arbeit respekt- und würdevoll behandelt werden. Dies beinhaltet konkret die Berücksichtigung ihrer Wünsche, ihres kulturellen Hintergrunds und darüber hinaus bedeutender Charakteristika für die Kontaktgestaltung. Professionelle sollten versuchen, sich in angemessener Art und Weise möglichst empathisch, respektvoll, lobend und humorvoll zu verhalten [7] und adäquate, sekundäre Güter ihrer Klienten explizit und fortlaufend zu verstärken. Alle Schritte der gemeinsamen Arbeit sollten dem Klienten gegenüber so transparent wie möglich dargestellt werden. Negative Beschreibungen des Klienten hingegen sind unbedingt zu vermeiden. Insbesondere sollte auf die Titulierung Straftäter verzichtet werden, da diese für Klienten oftmals die vollständige Identifizierung ihrer Person mit einem meist negativ beurteilten Ereignis der Vergangenheit bedeutet [8]. Therapeuten sollten sich nicht überlegen oder lehrerhaft präsentieren, sondern sich als gleichberechtigt in einem Prozess verstehen, in dem jeder Partner seine spezifischen Aufgaben erfüllen muss. Eine solche Haltung sollte sich auch im Behandlungssetting widerspiegeln, in dem beispielsweise eine schulähnliche Sitzordnung zu vermeiden ist. All diese Maßnahmen dienen letztlich dazu, die Chancen für eine Veränderung zu erhöhen [9].

Für die Diagnostik sollen zunächst vor dem Hintergrund der Indexstraftat und der Biografie eines Probanden relevante biopsychosoziale und materielle Probleme (also Risikofaktoren) erhoben und das individuelle Risiko abgeschätzt werden. Bedeutsame Schwierigkeiten sind insbesondere im individuellen Entwicklungsverlauf nachzuzeichnen. Ebenso sollen Responsivity-Faktoren erfasst werden. Für diese Aufgabe befürworten die Autoren die Verwendung standardisierter Instrumente. So kann beispielsweise die Aufarbeitung der Biografie eines Probanden mit dem „Life History Calendar“ von Laub und Sampson [10] erfolgen, wohingegen sich das Konstrukt Selbstkontrolle mithilfe der von Grasmick et al. [11] veröffentlichen Skala erfassen ließe. Für die Einschätzung empirisch gestützter Risikofaktoren bei Sexualstraftätern schlagen Willis et al. [9] den Static-99R [12] sowie den Stable-2007 [13] vor.

Im Anschluss daran sind das deliktische Verhalten und die Biografie eines Probanden im Hinblick auf die primären und die sekundären Güter hin zu analysieren. Möglichst genau soll entschlüsselt werden, welche primären Güter durch welche sekundären Güter befriedigt wurden, mithilfe welcher Strategien verschiedene Ziele (nicht) erreicht wurden und ob in der bisherigen Entwicklung einige Güter überhaupt nicht berücksichtigt waren. Die Identifikation des zentralen primären Guts stellt dabei eine besonders wichtige Aufgabe dar, da dieses höchst wahrscheinlich mit der praktischen Identität eines Menschen assoziiert ist. Schließlich ist die genaue Beschaffenheit des Zusammenhangs zwischen Straftat und primären Gütern (direkt oder indirekt) zu bestimmen. Zusammengefasst sollten Anwender Ideen zur praktischen Identität, damit assoziierten Aufgaben, Zielen und verwendeten Strategien sowie deren Verbindung zur bisherigen Lebensführung und der Straftat eines Probanden haben. Einen Vorschlag für das konkrete Vorgehen anhand eines strukturierten Interviews und verschiedener Fragebögen unterbreiteten Yates et al. [14]. Im Dialog mit dem Klienten sollte darüber hinaus durch reflektiertes Zuhören, Paraphrasieren und Zusammenfassungen das zentrale Gut herausgearbeitet werden [9]. Ein Transskript eines solchen Prozesses ist bei Yates et al. [15] zu finden.

Für die Planung einer alternativen Lebensführung ist zu entscheiden, um welche primären Güter der Rehabilitationsprozess organisiert werden kann und inwieweit eine neue praktische Identität für ein straffreies Leben notwendig wird. Meist bietet sich hierfür das zentrale primäre Gut an. Im Austausch mit dem Klienten sollen dann Pläne entworfen werden, wie zukünftig die primären Güter Eingang in die Lebensgestaltung finden können. Hierbei sind auch bisher vernachlässigte Bedürfnisse zu berücksichtigen. Klienten wird zunächst die Grundidee vermittelt, nach der ihre Straftat als das Ergebnis von (1) Problemen für das Erreichen persönlicher Ziele oder (2) Schwierigkeiten in ihrer bisherigen Lebensführung angesehen wird. Rehabilitation soll ihnen nun bei der Überwindung dieser Probleme und Schwierigkeiten helfen, damit zukünftig ein zufriedenstellendes Leben ohne Konflikte mit dem Gesetz möglich wird. Wiederum gemeinsam sollte dann der Versuch unternommen werden, sekundäre Güter auszuwählen und diese in einem Interventionsplan festzuhalten [9]. Dabei sollen das zukünftige Umfeld und auferlegte Einschränkungen, mit denen die jeweilige Person umzugehen hat, Berücksichtigung finden. Anschließend sind die für die Sicherung der zukünftigen Lebensführung notwendigen internalen und externalen Ressourcen zu klären. Betroffenen sollte erörtert werden, welche identifizierten Risikofaktoren ihren Zielen im Wege stehen. Schließlich sind für den Aufbau relevanter Kompetenzen in einem letzten Schritt alle notwendigen Interventionen zu bestimmen und detailliert festzuhalten [1].

Für die eigentliche Interventionsphase sind kontext- und personenbezogene Interventionen miteinander zu verbinden und aufeinander abzustimmen. Dies macht insbesondere das Einbeziehen professioneller und freiwilliger Helfer im zukünftigen Umfeld notwendig, um Klienten auch mit ausreichenden externen Ressourcen für das Erreichen ihrer Ziele zu versorgen. Die therapeutische Arbeit mit dem Probanden an internalen Ressourcen ergibt sich unmittelbar aus der gemeinsam erarbeiteten Lebensplanung, d. h., Therapie im engeren Sinne sollte auftragsbezogen die notwendigen Kompetenzen für die alternative Lebensführung aufbauen helfen [1]. Die genutzten Interventionen sollten in möglichst strukturierter Art und Weise erfolgen, weshalb kognitiv-behaviorale Interventionen von den Autoren bevorzugt werden. Dabei können durchaus Module aus RNR-Programmen Verwendung finden. Die therapeutische Arbeit sollte aber immer wieder mit den Annäherungszielen als sekundäre Güter verknüpft werden. Beispielsweise wird die Arbeit an Partnerschaftsproblemen nicht über die Reduktion von Risiko, sondern durch zufriedenstellende Beziehungen erreicht [8]. Klienten muss fortlaufend deutlich gemacht werden, wie sekundäre Güter durch Mitarbeit erreicht werden können. Dies kann konkret z. B. im Rahmen von Gruppentherapien umgesetzt werden, wenn Teilnehmer während des ersten Treffens ihren Namen, eine persönliche Stärke, die eigenen Therapieziele sowie je nach Wunsch freie Kommentare über ihre Person mitteilen und in weiteren Eingangsrunden fortlaufend über den Stand ihrer Bemühungen auf dem Weg zu einem zufriedenstellenden Leben berichten.

Diskussion

Das GLM stellt ein Modell zur Rehabilitation von straffällig gewordenen Menschen dar, das nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zum RNR-Modell entwickelt wurde [16]. Den Autoren nach sollten in der Praxis RNR und GLM jedoch weitestgehend gemeinsam Verwendung finden, damit die Schwächen eines jeden Modells durch das andere kompensiert werden können. Zu diesen zählen aufseiten des RNR fehlende Überlegungen zum Aufbau von tragfähiger Arbeitsbeziehung und Veränderungsmotivation, aufseiten des GLM eine noch unzureichende, empirische Validierung [vgl. aber 1719]. Dass die Autoren eine Integration beider Modelle befürworten, kam unserer Ansicht nach bereits in einigen praktischen Empfehlungen zum Ausdruck, die sich nicht unmittelbar aus der dargestellten Theorie ergaben (z. B. die Berücksichtigung von standardisierten Instrumenten zur Risikoerfassung). Professionelle stünden somit vor der schwierigen Aufgabe, zwischen den Annäherungszielen eines Individuums und dem Vermeidungsziel der Gesellschaft eine Balance herzustellen [1].

Um allerdings überhaupt Personen für die Mitarbeit zu gewinnen, kann auf die funktionale Analyse von Biografie und Straftat im Hinblick auf die sog. primären Güter zurückgegriffen werden. Zwar sind solche Analysen durchaus Bestandteil kognitiv-behavioraler Überlegungen [5, 20, 21], unserer Auffassung nach fehlte es bisher jedoch an einer theoretischen Einbettung, um den Wert der herausgearbeiteten Funktionalität direkt für die praktische Arbeit fruchtbar zu machen. Die zentrale Neuerrungenschaft des GLM besteht v. a. darin, solche Ergebnisse direkt für den Aufbau einer Veränderungsmotivation zu nutzen. Das Modell verlangt in starkem Maße danach zu fragen, was für straffällig gewordene Menschen wichtig ist und wie Bedürfnisse zukünftig in prosozialer Art und Weise erfüllt werden können. Diese Perspektive, die in der klassischen Psychotherapie durch Konzepte wie z. B. der innere Bezugsrahmen, subjektive Realitätskonstruktionen oder Ähnliches zu beschreiben und entsprechend einzubeziehen versucht wird, fehlte in den theoretischen Überlegungen zu Rehabilitation straffällig gewordener Menschen bislang weitestgehend.

Neben weiteren empirischen Arbeiten zum GLM könnte sich auch die weitere Differenzierung der Theorie lohnen. Zwar argumentieren die Autoren, dass mithilfe des Modells eine Veränderungsmotivation und eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden können, unserem Eindruck nach kommt dem motivationalen Aspekt jedoch deutlich mehr Gewicht zu. Um diese Schieflage auszugleichen, ließe sich eine theoriegeleitete, differenzielle Beziehungsgestaltung entwickeln, wie sie in ähnlicher Weise z. B. vor dem Hintergrund von Motivationstypologien unternommen wurde [22, 23]. Dies bedeutet, konkret zu durchdenken, wie sich ein Professioneller im Kontakt mit einem straffällig gewordenen Menschen verhalten könnte, um dessen zentrales Gut auch in der Arbeits- oder therapeutischen Beziehung angemessen aufzugreifen. Beispielsweise könnte es einem Menschen mit dem starken Bedürfnis nach Autonomie explizit erlaubt werden, dass er die Ziele, das Handeln und die Gründe seines Therapeuten, Case-Managers oder Bewährungshelfers jederzeit erläutert bekommen kann und kritische Nachfragen willkommen sind [24].

Kritisch bewerten wir hingegen die Modellannahme, dass eine zufriedene Lebensgestaltung nur derjenige realisieren kann, der in irgendeiner Form alle primären Güter berücksichtigt. Diese Annahme beinhaltet zunächst einmal die Schwierigkeit, dass einige Klienten wahrscheinlich nicht motiviert sein dürften, sich um aus theoretischer Sicht vernachlässigte Güter zu kümmern, nach denen sie selbst kein Bedürfnis verspüren. Praktiker stünden damit erneut vor dem Problem, Klienten für Ziele zu gewinnen, die nicht die der Klienten sind oder von denen die Klienten vielleicht nicht wissen, dass sie sie haben. Ferner lässt sich fragen, ob sich aus wissenschaftlichen Arbeiten tatsächlich ein Postulat darüber ableiten lässt, wie Menschen konkret leben sollen. Erkenntnistheoretisch darf dies bezweifelt werden. Wir sehen daher keine direkte Notwendigkeit, nichtvorhandene Bedürfnisse bei Klienten zu wecken, sofern das gesellschaftliche Werte- oder Rechtssystem und der Grundkonsens hierdurch nicht infrage gestellt sind [25]. Uns erscheint es daher sinnvoller, den Schwerpunkt auf subjektiv bedeutsame Güter zu setzen und dadurch eine Veränderungsmotivation zu erzielen. Insbesondere für diese Aufgabe bietet das GLM aber gutes theoretisches Rüstzeug und bereichert daher bisherige Überlegungen zur Rehabilitation um einen bedeutsamen Aspekt.

Interessenkonflikt

Der korrespondierende Autor gibt für sich und seinen Koautor an, dass kein Interessenkonflikt besteht.